Gunter Preuß

Berührungen


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Haus gelangt war, balancieren müsste.

      Der Tausch (Verbotene Türen, 1985)

      Nun war dieser Mann in ihre Familie geraten. Bolz war aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft gekommen und hatte der Mutter den letzten Brief ihres Mannes und die Nachricht von seinem Tod gebracht. Eines Tages war der Rückkehrer wieder zu ihnen gekommen; dann kam er in immer kürzeren Abständen und schließlich jeden Tag. Die Familie hatte sich schnell an Bolz gewöhnt: an seinen Mut, Herausforderungen zu begegnen; an seine wohlklingende Tenorstimme, wenn er ihnen Lieder und Arien vorsang; an die kleinen Geschenke, mit denen er sie verwöhnte. Er warb um Maria mit unaufdringlicher Ausdauer. Er sagte zu ihr: »Lass uns tauschen, Maria. Du brauchst einen Mann und für deine Kinder einen Vater. Ich brauche eine Frau und Kinder. Du gibst dich mir. Ich gebe mich dir. Das ist doch ein Angebot.«

      Die Kinder nickten zu seinen Worten.

      Maria begann das Abendbrot abzuräumen und sagte: »Ich brauche nichts. Was ich verloren habe, lässt sich nicht wiederfinden.«

      »Schon gut«, sagte Bolz. »Ich lass dir Zeit. Aber glaub mir, wir leben und wir brauchen einander.«

      Es war die Zeit des Tauschens. Wer etwas besaß, handelte damit. Gold wurde gegen einen Laib Brot getauscht, silberner Schmuck gegen einen Sack Kartoffeln oder Mehl. Der Hunger ließ den Schwarzhandel wuchern. Und in Bolz΄ Adern floss Händlerblut. Er schien sein Leben auf den Märkten der Welt verbracht zu haben, ein herumziehender aus Königs Gnaden entlassener Narr, der den Leuten sein Lachen und ein Lied anbot. Er tauschte Stück um Stück, bis er bekam, was er wollte: Parfümierte Seife für Maria, für Rita ein Paar seidene Strümpfe, einen Filzhut für Charly, einen Rechenschieber für Werner, für Jinni eine Puppenstube und für Bernhard Teile zu einem Fahrrad, das er ihm zusammenbaute. Für sich selbst brauchte Bolz wenig. Manchmal versackte er in einer Kneipe. Die Leute bezahlten ihm gern ein paar Bier und Schnaps, wenn er ihnen nur sagte: »Das Leben geht weiter, Männer. Wer sich nicht das Unkraut von unten ansieht, der muss sein Feld bestellen.« Und er schmetterte ihnen den Filmschlager »Ein Lied geht um die Welt …«, der schon Joseph Schmidt, dessen Stimme er pries, berühmt gemacht hatte.

      Die Familie bewunderte Geschäftssinn von Bolz, der ihnen völlig abging. Sie bestaunten sein Weggehen mit einem Stein und sein Wiederkommen mit einem Klumpen Butter. Es kam vor, da schloss Bernhard sich Bolz an. Er vermutete hinter dem Tun von Bolz eine Art Zauber. Denn er verstand nicht, was da passierte zwischen treppauf und treppab, vor und hinter Wohnungstüren: geflüsterte, ihm unverständliche Worte, gebende und nehmende Hände, die sich schnell wieder unter Mänteln verbargen. Selten ging Bolz auf den Schwarzmarkt. Er suchte seine Kunden in den Häusern der Stadt. Schnüffelnd wie ein Hund lief er durch die Straßen, und er fand fast immer den Ort, wo es etwas zu holen gab.

      Eines Abends hatte Bolz im Eifer des Handelns Bernhard in einer Wohnung zurückgelassen. Das Haus befand sich im östlichen Teil der Stadt, in dem von jeher die Ärmsten gelebt hatten: Tagelöhner, Fabrikarbeiter, Waschfrauen, kleine Ganoven und billige Huren. Die Wohnung sah aus wie ein kleines Museum, ein Lager für kostbare Möbel, bunte Teppiche, reich verzierte Vasen, handgearbeitete Wandbehänge, Gemälde und kleine Skulpturen. Die gesamte Wohnungseinrichtung passte nicht in diese Gegend.

      Es war zur Zeit der allabendlichen Stromsperre, nur eine Petroleumlampe erhellte den Raum. Bernhard bewegte sich lautlos. Er spürte federnde Teppiche unter den durchgelaufenen Schuhsohlen, atmete eine warme, erregende Luft, strich vorsichtig über altes Holz und Porzellan. Sesam hatte sich für ihn geöffnet, und er durfte die verborgenen Schätze anschauen.

      Er hielt eine schlanke Vase in den Händen, auf die ein Jüngling und ein schönes Mädchen aufgemalt waren, beide nackt, in einer Umarmung, als würden ihre Körper zusammenschmelzen.

      »Die Vase gefällt dir, ja?«

      Bernhard schrak zusammen, als er aus dem Dunkel des hinteren Raumes die Frauenstimme hörte. Nicht einmal zu nicken wagte er. Seine Hände zitterten, als er die Vase abstellte. Bolz hatte den Handel mit einem weißhaarigen alten Mann, der eine Brille mit grünen Gläsern trug und eine klagende Stimme hatte, geführt. Eine Frau hatte Bernhard nicht bemerkt.

      »Komm. Komm zu mir.«

      Bernhard tappte in den Dämmer hinein. Auf einem hochlehnigen Stuhl saß die Frau. Sie trug ein altertümliches Kleid. Es war eine junge Frau mit dichten schwarzen Haaren, schmalen Augen, blassem Gesicht und Armen und Händen wie aus weißem Porzellan. Etwa zwei Schritt von ihr entfernt blieb er stehen.

      Sie sagte leise, mit klingender Stimme: »Du bist neugierig, mein Prinz. Wie weit hast du denn gehen müssen, um mich zu finden? Setz dich zu mir.«

      Bernhard setzte sich auf eine Fußbank, die neben ihrem Stuhl stand. Er fühlte eine kühle Hand auf seinem Gesicht und hörte ihre feine Stimme. »Du bist schön, mein Prinz. Was für eine reine Haut du hast. Ist der Krieg nun zu Ende? Sage es mir doch. Wann wird denn das Licht wieder da sein? Oh, ich habe lange nicht mehr getanzt. Wie überall hast du mich suchen müssen, mein Prinz?«

      Bernhard kam sich alt vor, voller Weisheit und Verstehen, und er war froh, dass er hier sitzen konnte. Er sagte: »Lange habe ich dich gesucht. Um die ganze Welt bin ich gelaufen.«

      Die Frau beugte sich etwas vor. »Ich bekomme ein Kind«, flüsterte sie ihm zu. »Pscht! Das weiß niemand. Niemand darf es mir wegnehmen. Ich bin ja so froh, dass du da bist, mein Prinz. Hier - fühle doch. Spürst du es?«

      Sie zog seine Hand auf ihren Bauch. Er fühlte eine Wölbung – Stoff, ein Kissen. Er sagte: »Ich spüre es. Ja.«

      Die Frau lachte leise. Bernhard sah in ihre Augen. Die Pupillen waren zwei starre dunkle Punkte.

      Inzwischen war der Strom wieder da und tauchte den Raum in ein fahles Gelb. Der weißhaarige alte Mann kam ins Zimmer. Wortlos fasste er Bernhard am Arm und führte ihn nach draußen.

      Die Straße war spiegelglatt. Ein kalter Wind stemmte sich Bernhard entgegen.

      »Da bist du ja endlich«, rief ihm Bolz entgegen. »Wo warst du denn bloß, Junge? Ich bin die verdammte Straße ein paar Mal auf und ab gelaufen. Hier ist der letzte Hund verreckt. Aber der Tausch hat sich gelohnt.«

      Sie rannten einer anfahrenden Straßenbahn hinterher, sprangen auf den hinteren Perron des letzten Wagens. Der Schaffner half Bolz, der ein Paket umklammerte, aufzusteigen. Er verlangte eine Strafe für das Aufspringen während der Fahrt. Bolz verhandelte, schließlich lachten beide, und der Schaffner ließ eine Zigarre in seiner Geldtasche verschwinden.

      Bernhard lehnte in der offenen Tür und hielt seinen Kopf in den eisigen Fahrtwind. Die Straßenbahn fuhr quietschend und schüttelnd von Haltestelle zu Haltestelle. Die Straßen waren menschenleer. Hinter den Fenstern der Häuser brannte mattes Licht. Aus den Essen stiegen schmale Rauchsäulen.

      »Die Frau - die junge Frau«, sagte Bernhard zu Bolz. »Wie heißt sie? Wer ist sie?«

      »Welche junge Frau?«, fragte Bolz. »Wo denn? Ich habe keine gesehen.«

      In der Nacht wälzte Bernhard sich hin und her. Kaum eingeschlafen, erwachte er wieder, er fühlte sich von zwei Händen berührt, von zwei Augen angesehen. Am nächsten Vormittag verließ er in einer Unterrichtspause die Schule. Er lief durch die Stadt, irrte durch das Labyrinth der Straßen. Er versuchte sich zu erinnern, ging in Häuser, klopfte an Wohnungstüren, Türfenster wurden spaltbreit geöffnet, fremde Augen musterten ihn misstrauisch, fremde Stimmen wiesen ihn ab. Am Abend kehrte er nach Hause zurück, warf sich aufs Bett und sagte sich, dass es diese junge Frau nicht gab, dass die Begegnung mit ihr nicht stattgefunden hatte. In der Nacht erzählte er Charly von seinem Erlebnis. Der Bruder war soeben von einem seiner nächtlichen Ausflüge zurückgekehrt. Er sah aus wie ein zerraufter Kater, sein Gesicht war wie geschrumpft und faltig. Charly wankte durch das kleine Zimmer, als müsste er eine schwere Last tragen. Als er sprach, wurden seine Schritte leichter, seine Hände beredt.

      »Was weißt denn du, Kleiner«, sagte Charly. »Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, davon träumen wir nicht mal. In dieser Sekunde, Kleiner, weißt du,