auf den Boden, jedoch weit genug von ihm weg. So weit, wie es nun mal möglich ist. „War ja klar, dass man mit dir kein normales Wort wechseln kann", murmle ich vor mich hin.
„Wie war das?"
„Ich sagte, dass man mit dir kein normales Wort wechseln kann", wiederhole ich mich, diesmal laut und deutlich, weil es mir vollkommen egal ist, ob er sich in irgendeiner Weise verletzt fühlt.
Sein ernster Blick trifft meinen. Das erste Mal seit ... Verdammt langer Zeit.
„Vielleicht liegt das daran, dass ich kein Wort mit dir wechseln will, schon mal darüber nachgedacht?"
Ich kneife die Augen zusammen und halte seinem Blick stand. „Wie schön, dann geh doch."
Es herrscht Stille. Die Glühbirne über uns fiept leise vor sich hin und von draußen hört man die lauten Bässe gemischt mit dem Geplaudere der anderen. Jedoch ist die Spannung in diesem kleinen Raum so heftig, dass ich das Gefühl bekomme, die Wände kommen näher. Er empfindet mindestens genauso wenig Sympathie für mich wie ich für ihn und keiner von uns scheint das verstecken zu wollen. Warum auch? Wir unterscheiden uns in jeglichen Aspekten.
Als er nichts darauf sagt, allerdings auch nicht geht, weil er wohl weiß, dass Florence sonst ausrastet, schweigen wir noch eine Weile.
Doch irgendwann sage ich dann, weil ich es endlich aussprechen will: „Welche Ironie, dass du es dir erlaubst, dich so idiotisch aufzuführen, während ich diejenige bin, die dich an den Pranger stellen könnte."
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich seine Stirn kraust und er zu mir sieht.
Ich blicke jetzt wieder in seine Augen, die hellblau strahlen, allerdings ein wenig rot durch den Alkohol sind.
Sein rechter Mundwinkel hebt sich spottend und er gibt zurück: „Dass du dich traust, auch noch irgendwen an den Pranger zu stellen, während du zu den größten Losern der Schule gehörst."
Ich beiße die Zähne aufeinander. Zwar habe ich schon oft das Wort Loser gehört und auch schon oft wurde ich als solcher betitelt, aber noch nie von ihm. Und ganz ehrlich? Er hätte es sich sparen können. Er ist derjenige, der alles versaut hat, indem er mich einfach von einem Tag auf den anderen nicht mehr beachtet hat, und nicht ich. Harry hat nicht das Recht dazu, mich so zu behandeln.
„Na und?", keife ich noch leise genug zurück, damit uns niemand belauschen kann. „Wenigstens betrinke ich mich nicht jedes Wochenende und schreibe gute Noten in der Schule. Was man von dir ja nicht behaupten kann."
Er lacht gehässig auf. „Oh, scheiße, ich vergaß, dass du noch ätzender als meine eigene Mutter bist."
„Und ich vergaß, dass du ein Arsch bist."
Wieder schließt er ausatmend die Augen und lehnt den Kopf unbeeindruckt zurück. „Sei für die nächsten zwei Minuten noch still, ich kann mir dein Gerede nicht mehr geben."
Ich balle wütend die Fäuste. Er kann sich mein Gerede nicht mehr geben? Wer glaubt er, wer er ist?
„Noch dazu gehen mir deine Strümpfe dermaßen auf den Sack", fügt er hinzu.
„Wie bitte? Was haben denn meine Strümpfe damit zu tun?"
Seine Augen sind weiterhin geschlossen. „Sie sehen scheiße aus, das haben sie damit zu tun. trägst sie jeden verdammten Tag."
Mir klappt die Kinnlade herunter. Niemand hat mir je gesagt, dass meine Strümpfe scheiße aussehen. Sie sind das, was mich von den anderen unterscheidet, und außerdem gehören sie schon immer zu meinem Leben. Er weiß ganz genau, er wusste es schon immer, wie sehr ich meine Kniestrümpfe liebe, und jetzt wagt er es sich tatsächlich, sie gegen mich zu verwenden?
„Schon vergessen, dass du mal sagtest, niemanden würden Kniestrümpfe so gut stehen wie mir?", hole ich eine alte Erinnerung von früher hervor, in der er mir schon als kleiner Junge das ständig gesagt hat.
Harry zuckt gleichgültig mit einer Schulter. „Da habe ich wohl gelogen."
Ich presse die Lippen aufeinander. Okay, er hat gelogen. „Ich verstehe schon", rede ich wütend vor mich hin und stehe auf, worauf er mich wieder ansieht. „Du bist und bleibst ein Arsch. Verrotte doch einsam in der Hölle." Ich klopfe mehrmals gegen die Tür, damit sie von außen aufgeschlossen wird. „Und weißt du noch was?", sage ich noch zu ihm, als ich von draußen höre, wie jemand den Schlüssel dreht. „Ich gönne es niemanden mehr, dass er so abgerutscht ist, wie dir."
Dann öffnet Florence die Tür und noch ohne einen weiteren Blick an Harry zu verschwenden, stürme ich aus der Abstellkammer, gebe Charly und Benja ein Zeichen, das bedeutet, dass wir ohne weitere Diskussionen gehen werden, und verschwinde dann schließlich mit ihnen.
Kapitel 2
„Eins ... Zwei ..." Ich zähle die Kopien für den Theaterkurs ab, auf dem meine selbst geschriebenen Dialoge stehen, und eile derweil schnell zur Theaterhalle. „Drei, vier, fünf ..." Schnell weiche ich einer Gruppe von Schülern aus, die mir im Schulflur entgegenkommen, und lasse beinahe meinen Ordner, der unter meinem Arm klemmt, fallen, doch kann ihn noch schnell auffangen. Ich schultere meine Tasche erneut und steuere wieder in die richtige Richtung, während ich noch mal von vorne anfangen muss, meine Blätter laut zu zählen.
„Dreizehn", sage ich schließlich seufzend, als ich genau vor der Tür des richtigen Raums stehe, und greife nach dem Türgriff. Ich will sie öffnen, doch …
Kurzerhand werden mir die Blätter aus der Hand gerissen und achtlos zu Boden geschmissen.
„Ups", macht Florence unschuldig, als sie sich die Hand vor den Mund hält und die Blätter auf dem Boden sieht. „Das wollte ich nicht."
Neben ihr Clarissa, auch bekannt als Die Braue. Ihre Augenbrauen sind nämlich mit Permanent-Make-up verschönert worden, jedoch viel zu weit oben und viel zu dunkel für ihre Haut und Haare. Es sieht grausam aus und lässt sie immer wie ein geschocktes Reh wirken, doch zu schämen scheint sie sich nicht deswegen.
Sofort ist meine Laune wieder auf dem Nullpunkt, als ich mich bücke, um die Blätter aufzuheben. „Hast du nichts Produktiveres zu tun?"
„Nein, warte, ich helfe dir", sagt Florence gespielt freundlich und bückt sich mit mir zu den Blättern, hilft mir, sie einzusammeln. „Das war doch nur ein Versehen."
„Ein Versehen", wiederhole ich spottend, als sie mir ein paar Blätter reicht und ich sie staple. „Selbst dir habe ich eine kreativere Ausrede zugetraut."
Sie kneift die Augen zusammen, als wir wieder stehen und ich meine Blätter mürrisch sortiere. „Sei nicht so frech, Berry-Loser. Ich kann dir gerne deine verdammten Strümpfe mit dem Faden, der dir da am Saum hängt, aufribbeln, wenn du willst."
Ich runzle die Stirn. Was redet sie denn jetzt wieder für seltsames Zeug?
Und noch bevor ich über ihre Worte nachdenken kann, um ihr auf die Schliche zu kommen, grinst sie dreckig und verschränkt die Arme. „Oh, Moment mal. Das tue ich ja schon."
Als ich ein leichtes Ziehen an meinem linken Bein spüre, blicke ich hinab. Ich muss leider feststellen, dass das Ziehen nicht von einem Muskelkater, sondern von einem Faden kommt, der gerade dabei ist, meinen schwarzen Strumpf von oben an aufzureißen.
Entsetzt drehe ich mich um, damit ich rausfinden kann, wer sich den Faden geschnappt hat, damit meine Socke immer kleiner wird. Clarissa läuft schnell und lachend mit dem schwarzen Faden in der Hand den Gang entlang.
„Hey!", rufe ich ihr hinterher und lasse meine Tasche einfach zu Boden fallen. Schnell schnappe ich mir den Faden und will daran ziehen, damit sie loslässt, doch mir bleibt nichts anderes übrig, als zu rennen. Mittlerweile hat meine Socke nur noch die Hälfte an Fadenreihen. Clarissa ist unberechenbar.
„Verdammte Scheiße", fluche ich vor mich hin, als Clarissa um eine Ecke verschwindet und ich ihr schnell hinterher will. Mein Strumpf wird immer kürzer