Vikram, bei dem das Fahrzeug stand, hatte es aber schon weitgehend mit seinem Gepäck gefüllt. Auf dem Dachträger war - in Planen verhüllt - alles Mögliche aufgehäuft. Es stellte sich heraus, dass dort unter Anderem zwei schwere Zigarettenautomaten verstaut waren. Auch die Anzahl der Gepäckstücke, die Vikram und Gertrud mitnehmen wollten, ging weit über das hinaus, was wir abgemacht hatten. Vikram versuchte sich damit zu rechtfertigen, dass er und Gertrud ja zu zweit seien und wegen der bevorstehenden Heirat familiäre Verpflichtungen hätten. Tatsächlich befanden sich in den Koffern aber auch allerhand Werkzeuge und eiserne Gegenstände wie Kugellager, die bis zu zehn Kilo schwer waren. Daraufhin gab es einen ersten heftigen Krach. Mit grundsätzlichen Fragen über die Einhaltung von Vereinbarungen konfrontiert, gab Vikram schließlich nach. Er musste sein Gepäck auf die vereinbarte Menge reduzieren und seine Zigarettenautomaten und Kugellager in Deutschland lassen.
Die Abfahrt sollte am folgenden Tag stattfinden. Letzte Probleme und Besorgungen verzögerten die Sache aber bis in den späten Nachmittag. Unter anderem kam Vikrams Pass, der noch beim Generalkonsulat in Köln war, erst im Laufe des Tages. Wir beschlossen daher, am nächsten Morgen abzufahren. Vikram, der sich als Chef des Unternehmens verstand, war damit allerdings überhaupt nicht einverstanden. Er war wegen der Abfahrtsvorbereitungen und insbesondere der Passgeschichte ohnehin schon ziemlich aufgeregt. In seiner Enttäuschung darüber, dass es nun immer noch nicht losgehen sollte, steigerte er sich so sehr in Rage, dass er kaum zu beruhigen war. Damit hatten wir noch bevor wir losfuhren einen zweiten heftigen Krach. Die Aussichten für die Lösung der Probleme, die uns auf der Reise ohne Zweifel noch bevorstanden, ließ dies nicht gerade rosig erscheinen.
Nachdem Vikram wieder zu sich gefunden hatte, konnten wir den Abend in einiger Ruhe verbringen, zumal uns Franz’ Freundin Sabine ein ordentliches Abschiedsmahl bereitete. Anschließend verbrachten wir die erste Nacht unter einem Dach.
1
Am Morgen des 1. August 1965 standen wir in aller Frühe auf. Um viertel vor sieben Uhr ging es im Frühnebel aus dem sonntäglich leeren Frankfurt heraus auf die Autobahn. Im Wagen herrschte gespannte Stille. Jeder war in Gedanken darüber vertieft, ob die Sache wohl gut gehen werde. Der Wagen lief gut. Nach einiger Zeit kam eine Diskussion darüber auf, wie er zu fahren sei. Um keinen weiteren Streit aufkommen zu lassen, legten wir bestimmte Tachoangaben fest, bei denen der jeweilige Gang möglichst gewechselt werden sollte. Im Übrigen sollte der Fahrer regelmäßig ausgetauscht werden. Gegen Mittag hatten wir München erreicht und waren guter Dinge. Noch bevor wir Deutschland verließen, gab es aber die erste Panne. Ein Reifen war platt und musste in strömendem Regen gewechselt werden. Ein gutes Omen schien dies nicht zu sein.
Unser Zwischenziel war das Domizil von Gertruds Großeltern nahe Salzburg. Bevor uns Asien aufnahm, sollte dies so etwas wie ein überaus herzlicher Abschiedsgruß der europäischen Zivilisation werden. Gertruds Großvater hatte als Direktor einer großen Chemiefirma offenbar ein Vermögen erlangt und sich davon ein Schloss gekauft, auf dem er mit seiner Frau und einem großen Hund seinen Ruhestand verbrachte. Das alte Gemäuer, von dem Teile aus dem 10. Jahrhundert stammten, war eine einzige Idylle. Die Räume, von denen einige bemalte Holzdecken aus der Romanik hatten, waren geschmackvoll mit alten Möbeln ausgestattet. Im großen Wohnraum stand ein Mahagoni-Flügel. Es gab eine gemütliche Bibliothek und im Obergeschoss einen reich geschmückten Saal, in dem Mozart häufig musiziert haben soll. Ein spezieller Gang führte in die kleine gotische Kapelle, die inzwischen prachtvoll barockisiert war. Zu dem Anwesen, das wunderbar in alpenländisches Ambiente gebettet war, gehörte eine umfangreiche Landwirtschaft, welche der Großvater, ein freundlicher Grandseigneur von über achtzig Jahren, mit einigen Hilfskräften betrieb. Als wir ankamen, fuhr er gerade mit einem Traktor auf dem Hof umher. Anwesend waren noch Gertruds Mutter und ihre Schwester mit drei fröhlichen Kindern – es war ein einziges Viergenerationenidyll.
Eigentlich hätte man die Reise hier beenden können. Ein eingefleischter Europäer hätte sich nichts Schöneres vorstellen können. Warum in die Ferne schweifen? Uns aber drängte es heraus aus Europa. Und so verließen wir diesen gesegneten Ort mit einer gewissen Wehmut viel zu früh. Man beschenkte uns noch reichlich mit Verpflegung und gab uns zwanzig Mark, damit wir uns die Fahrt durch den Tauerntunnel leisten konnten.
An der österreichischen Grenze standen wir vor einem völlig unerwarteten Problem. Man wollte Rajindra nicht ausreisen lassen, da seine Aufenthaltserlaubnis seit langem abgelaufen war. Für einige Augenblicke schwebte das Gespenst der Befürchtung über uns, zurück nach München oder gar nach Frankfurt fahren zu müssen, um die Angelegenheit zu klären. Als wir dem Beamten Näheres von unserem Projekt erzählten, meinte er aber gutmütig, er habe den Fehler nun mal leider bemerkt und könne uns nicht passieren lassen. Wir sollten unser Glück doch einfach bei einem anderen Grenzübergang suchen. Das taten wir und tatsächlich klappte es. Allerdings mussten wir dann an der österreichischen Grenze so lange auf die Visa für unsere beiden Inder warten, dass es dunkel wurde. Damit stellte sich ein Übernachtungsproblem. Passend zum Schlossidyll hatte der Regen, aufgehört, bevor wir dort ankamen. Inzwischen hatte er aber wieder eingesetzt. Sechs Mann konnten wir aber kaum einigermaßen bequem und trocken durch eine verregnete Nacht bringen. Wir entschlossen uns daher, auf die andere Seite des Alpenkamms weiterzufahren, in der Hoffnung unser Nachtlager dort im Trockenen aufschlagen zu können. Nachdem wir die Tauern durchquert hatten, hörte der Regen auch tatsächlich auf. Dafür war es so kalt, dass man nicht einfach mit dem Schlafsack im Freien schlafen konnte. Wir mussten also unser Zelt aufschlagen, das aus vier Planen bestand, welche zusammenzuknüpfen waren. Mangels einschlägiger Erfahrung und bei Petroleumlicht ging dies nicht ohne Schwierigkeiten von statten. Auf diese Weise hatten wir weitere Gelegenheit, Erfahrungen im Umgang miteinander beim Auftreten unerwarteter Probleme zu sammeln. Dazu gehörte auch, dass das Zelt eigentlich nur für drei Personen gedacht war, wir aber zu viert darin schlafen mussten. Gertrud konnte natürlich den Wagen beanspruchen, womit auch Vikram in diese Position rückte, was die Vorstellung der beiden unterstrich, in der Gruppe eine Sonderstellung einzunehmen. Die restlichen vier mussten nah aneinander rücken. Nach einem langen und ziemlich ereignisreichen Tag fielen wir, eingepackt in alles, was wärmen konnte, deutlich nach Mitternacht erschöpft in einen tiefen Schlaf.
2
Erregung angesichts unseres Ostwärtsdrangs hatte zur Folge, dass die Nacht entschieden zu kurz ausfiel. Aber herrliches Wetter und ein klarer kalter Bach erleichterten das Aufwachen. Bei wunderbarer Sicht fuhren wir das schöne Drautal hinunter nach Villach, um von dort zum nächsten Alpenkamm aufzusteigen.
Eigentlich hatten wir gedacht, dass wir erst nach Wochen und weit im Osten mit den Grenzen der Leistungsfähigkeit unseres Wagens konfrontiert werden würden. Der Khyberpass zwischen Afghanistan und Pakistan, so hatte man uns bedeutet, sei 4000 Meter hoch und so steil, dass man das Gepäck hinauftragen müsse - ein Umstand den Vikram offenbar verdrängt hatte, als er seine Zigarettenautomaten und Kugellager in den Wagen packte. Außerdem müsse man dort mit abgestürzten Felsbrocken rechnen, weswegen wir eine Seilwinde mitführten, um dieselben beseitigen zu können. Wir waren aber noch nicht zwei Tage unterwegs und noch mitten in Europa, als wir schon feststellen mussten, dass unser VW-Bus mit seinem 34-PS Motor Probleme bekam. Am berüchtigten Wurzenpass ging es mit Vollgas im ersten Gang und mit heulendem Motor zunächst noch einigermaßen voran. Als wir aber an die Stelle kamen, wo die Steigung sechsundzwanzig Prozent betrug, verließen unseren Bukephalus die Kräfte. Gerade noch rechtzeitig bevor der Motor abgewürgt war, sprangen alle außer mir – ich saß am Steuer – aus dem Fahrzeug und schoben. Mit einiger Mühe kam der Wagen wieder in Gang und wir waren erleichtert, dass wir unser Gepäck nicht schon jetzt in die insofern auch nicht unbeachtliche Höhe von 1000 Metern tragen mussten.
Die Grenze nach Slowenien war schnell überwunden und nun begann eine andere Welt. Auf einen Schlag war es vorbei mit sauberen Dörfern und Städtchen und ordentlichen Strassen. Die Menschen trugen triste Kleidung, lebten in ungepflegten, grauen Häusern und die Industriebetriebe sahen ziemlich heruntergekommen aus. Nach Laibach begann die Autoput. Die Strasse, die weitgehend auf einem hohen Damm ohne Leitplanken verlief, war nicht nur die wichtigste Verkehrsader des Balkans. Über sie verlief auch der ganze Schwerverkehr