Peter Maier

Heilung - Plädoyer für eine integrative Medizin


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endlich „leisten“. Dieser Gedanke ist für mich nicht nur ein billiges Wortspiel, sondern ich gehe damit immer mehr in Resonanz.

      Wovon war denn bisher mein Leben so bestimmt? Und warum hatte die Arbeitsleistung so einen übermäßigen Stellenwert für mich? Ist es jetzt Zeit, dass etwas von dem Alten, Bisherigen von mir „abfällt“? Was könnte das konkret sein? Eine neue gedankliche Welt tut sich mir nun auf. Und schon wieder kommt mir das Ameisen-Thema vom „Abfall“ und vom „Abfallen“ in den Sinn. Ihre Begegnung war eine Vision. Jetzt wird ihre Botschaft durch das, was mir widerfährt, immer mehr eingelöst, also von der Wirklichkeit eingeholt. Ich muss nur verstehen lernen, was auf der Seelenebene alles von mir abfallen soll oder abfallen will. Und da kommen mir Erinnerungen aus der Kindheit mit meinem Vater hoch...

      Mein Vater war erst 16 Jahre alt, als mein Großvater 1943 nach langer Krankheit starb. Schon als 15-Jähriger hatte mein Vater den landwirtschaftlichen Betrieb sowie den Viehhandel alleine stemmen müssen. Er war der einzige Ernährer in seiner Familie, die damals aus seiner Mutter, ihm selbst und noch zwei Schwestern bestand. Dazu kamen die Kriegswirren und die immer größere Not auch der Landbevölkerung. Existenzangst war das, was mein Vater am meisten kannte. Darum war es sein Ziel, nach dem Krieg zur Existenzsicherung einen großen Bauernhof aufzubauen und nach und nach eine immer größere landwirtschaftliche Fläche zu erwerben.

       Hingabe an den Vater

      Von Kindheit an bewunderte ich meinen Vater, ich eiferte ihm nach, wollte werden wie er. Er war damals mein Held. Aber ich teilte auch seine Ängste – vor Diebstahl, vor der starken Konkurrenz im Viehhandel und vor einem erneuten Hofbrand, der die ganze Existenz vernichtet hätte wie schon einmal 1956. Da ich der Erstgeborene bin, war ich als Hoferbe vorgesehen und ich identifizierte mich total mit dieser Rolle. Ich konnte mir damals gar nichts anderes vorstellen.

      Als sensibler Junge spürte ich die permanenten Existenzängste meines Vaters, je älter ich wurde um so deutlicher. Daher beschloss ich 1964 in einem Anfall von kindlichem Größenwahn, meinem Vater zu helfen und ihm auf „ewig“ zu dienen – mit all meiner Kraft, meiner Leidenschaft, meiner Energie und mit meiner Liebe zum Vater. Dieser Beschluss war mir todernst, er wurde zu einem heiligen Gelübde für mich, von dem jedoch nur ich allein etwas wusste. In meiner kindlichen Naivität war ich überzeugt, dass Schicksal und Wohl meines Vaters, sowie des ganzen Bauernhofs von mir und von dieser meiner Entscheidung abhängen würden. Jeden Tag half ich im Stall, das Vieh zu versorgen, das morgens und abends gefüttert werden musste; alle Schulferien verbrachte ich aus demselben Grund ausschließlich auf dem Bauernhof.

      Daher war es für mich ein Schock, als mich eines Tages im Frühjahr 1965 der Lehrer in der fünften Volksschulklasse ganz unvermittelt fragte, ob ich denn jetzt nicht auf eine höhere Schule gehen wolle. Das nächste Gymnasium lag 31 Kilometer entfernt. Da ich diese Frage nicht beantworten konnte, schickte mich der Lehrer kurzerhand während des Unterrichts nach Hause, um meinen Vater zu konsultieren. Dieser gab zu, dass er kürzlich so beiläufig mit meinem Lehrer über mich und meinen beruflichen Werdegang gesprochen hatte. Davon wusste ich aber nichts. Mein Vater hatte nämlich plötzlich meinen um vier Jahre jüngeren Bruder zum Hoferben bestimmt. Ich bekam einen großen Schreck, sah ich doch meine zukünftige Rolle als Hoferbe gefährdet, mit der ich mich seit langem leidenschaftlich identifiziert hatte.

      Nachdem ich alle Berufsvorschläge des Vaters – Metzger, Maurer, Bäcker, Zimmermann – vehement abgelehnt hatte, beschloss mein Vater, mich gegen meinen Willen aufs Gymnasium zu schicken. Dies bedeutete jeden Tag 62 Kilometer Fahrstrecke – 31 Kilometer hin und 31 Kilometer wieder zurück. Damit war meine Kindheit zu Ende, denn ich musste die gewohnte, vertraute und geliebte Umgebung des Bauernhofes verlassen.

       Fatale Verstrickung mit dem Vater

      Als mich mein Vater zu Beginn der siebten Klasse wegen schwacher schulischer Leistungen kritisierte, beschloss ich in einem einzigen Moment, es ihm so richtig zu zeigen und ihm ein für alle Mal das Kritiker-Maul zu stopfen. Ab jetzt lernte ich Tag und Nacht für die Schule – sieben Jahre lang. Auch dieser zweite Beschluss, aus Kränkung und Wut getroffen, war mir todernst und betraf wieder meinen Vater. Erneut wusste nur ich allein von diesem geheimen Gelübde. Zugleich half ich weiterhin mit, das Vieh im Stall zu versorgen und alle meine Ferien mit Arbeit auf dem Hof und den Feldern zu verbringen. Mein Leben bestand also nur aus Arbeiten auf dem Bauernhof und Lernen fürs Gymnasium. Ein „natürliches“ Leben als Jugendlicher gab es nicht mehr für mich.

      Ich schaffte ein gutes Abitur und beschloss, Gymnasiallehrer zu werden. Auf diese Weise konnte ich weiterhin „Landwirt“ sein – wenn auch auf einer geistigen Ebene. Denn als Lehrer säe ich ständig geistiges Wissen und Werte in die Köpfe und Herzen meiner Schüler. Die beiden Beschlüsse (Gelübde) aus der Kindheit gerieten natürlich immer mehr in Vergessenheit. Den Hof bewirtschaftet mittlerweile seit über zwanzig Jahren mein jüngster Bruder Vieh-los und im Nebenerwerb, und ich habe mir längst eine eigene Existenz aufgebaut – fern meiner ursprünglichen Heimat.

      Dennoch fielen mir zwei Prägungen auf, je älter ich wurde. Ich konnte den Bauernhof und meine ursprüngliche Rolle als Hoferbe nie ganz vergessen. Und ich war als Lehrer stets sehr dienstbeflissen. Der Beruf stand immer im Vordergrund, das Privatleben spielte eher eine Nebenrolle. Offensichtlich wirkten die beiden Gelübde – die damals als „heilig“ empfundenen (Lebens)Beschlüsse, die ich so intensiv in der Kindheit als 10- und als 13-Jähriger getroffen hatte –, unbewusst weiter und bestimmten mein Leben mehr als mir lieb war.

      Wo aber war die ganze Zeit meine ursprüngliche Vitalkraft geblieben? Wo steckten in all den Jahren mein Freiheitsdrang, meine Kreativität und meine Lust an einer umfangreichen Freizeit- und Urlaubsgestaltung? Ich muss mir eingestehen, dass ich die ganze Zeit fast nur Verstandes-gesteuert gelebt hatte. Jetzt im Krankenbett nach der Leistenbruch-OP wird mir schmerzlich bewusst, dass die beiden „Beschlüsse“ aus der Kindheit wirksam blieben und so viel in meinem Leben verhindert haben. Dabei ist mein Vater als damalige Autoritätsperson, für die und wegen der ich die Gelübde gemacht hatte, seit fünf Jahren tot.

      Nun fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Der Leistenbruch, den ich mir am Ende meiner beruflichen Tätigkeit endlich leisten kann, ist Ausdruck eines jahrelangen inneren geistigen und seelischen Fundamental-Lebens-Kampfes in mir selbst. Noch immer hat mein Verstand wie ein Torwächter die beiden damaligen Beschlüsse (Gelübde) verteidigt, die mein ganzes bisheriges Leben geprägt hatten. Das konnte doch nicht falsch gewesen sein! Offensichtlich haben sich jetzt endlich verdrängte, weggesperrte Vitalkräfte durchgesetzt und mit diesem unmenschlichen geistigen Verstandes-Torwächter in mir den Kampf aufgenommen.

       Eine Bibelgeschichte hilft weiter

      Diese ursprünglichen Vitalkräfte haben den Kampf in mir wohl bereits gewonnen, aber der Preis ist hoch: Die innerseelische Auseinandersetzung zwischen Kopf und Bauch, zwischen Verstand und Gefühl hat mir – im Bauchbereich – einen Leistenbruch links erzeugt, die beiden Muskeln an der Leiste auseinander gerissen. Erinnerungen an eine alttestamentliche Bibelstelle werden wach: Jakobs Kampf am Fluss Jabbok.5

      Vordergründig geht es in der Bibelgeschichte um den Kampf der beiden Zwillingsbrüder Jakob und Esau. Dabei ist Jakob der Kopfmensch, Esau dagegen der Trieb- und Vitalbursche. Jakob hat aufgrund seiner geistigen Schlauheit Esau um das Erbe und um den Vatersegen betrogen. Daher musste er vor Esau fliehen. Jetzt, 20 Jahre später bei seiner Rückkehr, wird er nachts, als er ganz allein ist, von Esau, der ihm als unbekanntes Gespenst erscheint, angefallen und fast umgebracht. Dennoch gewinnt er schließlich den Kampf, nachdem er die ganze Nacht mit diesem Esau-Mann auf Leben und Tod gerungen hat. Dieser muss bei Tageslicht weichen. Als Jakob aber am Morgen über den Fluss Jabbok zurückkehrt, ist er von diesem nächtlichen Kampf gezeichnet – zeitlebens. Er hat einen kräftigen Schlag auf die Hüfte abgekriegt – eine nachhaltige Verletzung also, so dass er ab jetzt nur noch mit einem Stock gehen kann. Er hinkt...

      Tiefenpsychologen haben diese