Stefanie Purle

Scarlett Taylor - Wendy


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ist mit seinem Vater?“

      Jason schüttelt mit dem Kopf. „Soweit ich weiß, absolviert sein Bruder Thomas gerade ein Auslandssemester. Die Mutter ist alleinerziehend. Der Vater starb, als Thomas und ich in der fünften Klasse waren. Er hatte einen Herzinfarkt und ist eines Morgens einfach nicht mehr aufgewacht.“

      „Oh nein“, seufze ich und denke an die arme Frau, die erst ihren Mann und nun vielleicht auch noch ihren Sohn verloren hat. „Und es gibt noch keine Spur von Marcus?“

      Wieder schüttelt Jason mit dem Kopf. „Laut diesem Artikel nicht.“

      Olivia kommt aus der Küche und bringt mir meinen Marmeladentoast und den Milchkaffee. Sie stellt ihn vor mir ab und ihr Blick gleitet über das Tablet. „Schlimm, die Sache mit diesem Marcus Daim, oder?“, seufzt sie und stützt die Unterarme auf den Tresen. „Ich kenne die Mutter, sie hat früher in unserer Siedlung gewohnt. Aber als ihr Mann starb, musste sie mit den Kindern in eine kleine Wohnung in der Stadt ziehen. Es gab Zeiten, da hatte sie drei Jobs gleichzeitig, nur um sich und die Kinder über Wasser zu halten!“

      Mein Mitleid für diese Frau wächst noch weiter und ich schüttle traurig mit dem Kopf. „Kennst du auch ihre Kinder?“

      „Als beide noch ganz kleine Burschen waren. Ich glaube der Ältere war zwölf, als der Vater starb. Der Kleine muss erst fünf oder sechs gewesen sein. Nachdem sie in die Stadt gezogen sind, habe ich die Familie nur noch selten gesehen.“ Olivia presst die schmalen Lippen aufeinander und steckt sich eine Strähne ihres grauen Haares zurück in ihren Dutt. Dann beugt sie sich weiter zu uns vor und flüstert, obwohl wir alleine im Booh sind. „Aber man erzählt sich, dass der Kleine auf die schiefe Bahn geraten ist. Angeblich soll er geklaut haben und in der Schule total abgesackt sein.“ Ihre Augenbrauen wackeln bedeutungsvoll. „Aber das habt ihr nicht von mir.“

      Ich kann Marcus noch nicht einmal einen Vorwurf daraus machen, sollten diese Gerüchte stimmen. Er hat erst seinen Vater verloren, war gezwungen umzuziehen, hat seine Mutter wahrscheinlich kaum noch gesehen, weil sie immer arbeiten musste, und dann zieht auch noch sein Bruder für ein Semester ins Ausland. Wahrscheinlich wird Marcus sich alleingelassen gefühlt haben, und Stehlen und schlechte Noten werden ihm ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit zurückgebracht haben.

      „Heute Abend findet eine großangelegte Suche statt“, sagt Jason und zeigt auf einen fettgedruckten Text in dem Artikel. „Um neunzehn Uhr geht es los. Treffen ist am Feuerwehrhaus.“

      „Da sollten wir auch mitmachen“, schlage ich vor und stehe auf. „Kannst du allen eine Nachricht schicken, Jason?“

      „Ja, klar. Kann ich machen“, sagt er und zückt bereits sein Handy. „Treffen wir uns auch beim Feuerwehrhaus? Oder wollen wir selbst etwas starten?“

      Ich denke kurz nach. „Nein, besser wir arbeiten mit den örtlichen Behörden zusammen, denke ich.“

      Jason nickt und Olivia hält beide Daumen nach oben. „Wir sind auch dabei“, sagt sie und ihre Augen funkeln dabei.

      Ich verabschiede mich und mache mich auf den Weg zu Carmens Wohnung. Bereits auf der Fahrt dahin sehe ich ein paar Jugendliche, die Plakate an Bäume, Stromkästen und Schaufenster kleben. Auf allen ist das Gesicht von Marcus Daim zu sehen. Selbst als ich auf dem Parkplatz vor Carmens Haustür parke, lacht mich Marcus von einem Birkenstamm aus an. Über ihm prangt in roten Lettern das Wort „Vermisst“.

      Ich klingele an der Tür und warte. Doch anstatt dass der Türöffner brummt, reißt Carmen plötzlich selbst die Tür auf.

      „Scarlett, was willst du denn hier? Ich habe eigentlich gar keine Zeit, ich muss schnell los“, sagt sie hastig, während sie noch dabei ist, ein paar Wäschestücke in ihre Handtasche zu quetschen.

      „Was ist los, Carmen, wo willst du denn hin?“, frage ich und strecke die Hand nach ihr aus, doch sie weicht zurück und läuft rückwärts auf ihr Auto zu.

      „Es ist alles in Ordnung, aber ich muss jetzt schnell zu Bill. Wir sprechen ein anderes Mal, okay? Der Freund von Bills Sohn ist verschwunden und die Polizei war gestern spät abends bereits bei ihnen. Bei ihnen zuhause! Hat man sowas schonmal erlebt? Bill hat mich heute früh angerufen, er steht kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Das ist alles zu viel für ihn, verstehst du? Und seine Frau ist ja auch nicht da, er kann das nicht alles alleine regeln, er braucht mich jetzt.“ Sie hat ihr Auto erreicht, öffnet es und wirft ihre übervolle Tasche hinein. „Ich muss jetzt wirklich los, okay?“

      Ich stehe verdattert da und sehe Carmen zu, wie sie mit quietschenden Reifen vom Parkplatz fährt, wobei sie einen Rosenbusch rammt und trotzdem weiter Vollgas gibt. Ihr Motor heult auf, weil sie offenbar zu schalten vergisst, und selbst als sie aus meinem Sichtfeld verschwunden ist, kann ich ihren Wagen noch protestieren hören.

      Kapitel 5

      Ein mir unbekanntes Auto steht schräg auf unserer Einfahrt und zwingt mich somit dazu, meinen Bulli auf dem Rasen abzustellen. Eigentlich wollte ich direkt hinunter zum See, aber meine Neugierde packt mich, also gehe ich zum Haus. Als ich hereinkomme, sehe ich zwei Hinterköpfe über die Sofalehne ragen. Einer ist halbwegs kahl, der andere trägt mausbraune kurze Löckchen. Ihnen gegenüber sitzt Chris und sein Gesicht hellt sich auf, als er mich bemerkt. Er steht auf, entschuldigt sich und kommt mir entgegen, wobei die Köpfe sich neugierig zu mir umdrehen.

      „Hallo“, sage ich, leicht verwirrt.

      „Hey Scarlett“, begrüßt Chris mich und nimmt meine Hand. Er drückt mir einen flüchtigen Kuss auf die Lippen und führt mich dann ins Wohnzimmer zu den beiden Herren. „Das sind Ermittler vom BKA, sie ermitteln im Fall des Vermissten Marcus Daim“, erklärt Chris. „Das ist meine Freundin Scarlett Taylor.“

      Ich schüttle den beiden Männern die Hand und nehme dann neben Chris Platz. „Ich habe gerade einen Artikel über den Vermissten gelesen und unterwegs waren viele Jugendliche, die Plakate von ihm aufgehangen haben“, sage ich und falte die Hände in meinem Schoß. „Heute Abend soll ja eine großangelegte Suche stattfinden, habe ich gelesen. Da helfen wir natürlich mit.“

      Die beiden Ermittler sehen mich an. Der mit der Halbglatze, der sich als Kommissar Schlegel vorgestellt hat, stiert in meine Augen, während der Jüngere, Kommissar Stahl, scheinbar meine ganze Haltung unter die Lupe nimmt. Ich fühle mich zunehmend unwohler.

      Ohne auf meine Worte einzugehen, beginnt Schlegel zu sprechen. „Frau Taylor, kennen sie Marcus Daim persönlich?“

      Ich reiße die Augen auf. „Nein. Wieso? Wie kommen Sie darauf?“

      Chris legt den Arm um mich und streicht beruhigend über meinen unteren Rücken. Ich sehe ihn fragend an, doch er zuckt nur mit den Schultern. Offenbar weiß er auch nicht, was hier läuft.

      „Und was ist mit Jessica Baum, Mark Wimmer und Liam Oyen?“

      „Nein, tut mir leid“, antworte ich, noch immer verwirrt. „Moment, warten Sie“, ich hebe die Hand und lege nachdenklich den Kopf schief. „Der Name Oyen sagt mir was.“ Die Kommissare nicken sich zu. „Ich kenne zwar keinen Liam Oyen, aber wohl einen Wilhelm Oyen. Er ist der Freund meiner besten Freundin und war gestern Abend zum Essen hier.“

      Kommissar Stahl zieht einen zerknitterten Notizblock aus seiner Hemdstasche und macht sich Notizen.

      „Und dieser Wilhelm Oyen ist der Freund ihrer besten Freundin? Also ist ihre beste Freundin Margarete Oyen?“, hakt Schlegel mit spitzen Lippen nach. Seine hohe Stirn glänzt und seine buschigen grauen Augenbrauen schnellen ungläubig nach oben.

      Ich schlucke und frage mich, ob ich vielleicht schon zu viel gesagt habe. Ich habe Carmen nie gefragt, ob Bills Frau von seiner Affäre mit ihr Bescheid weiß. „Nein, meine Freundin heißt Carmen. Ich kenne Margarete Oyen nicht und bis gestern Abend kannte ich Wilhelm Oyen auch nicht.“

      Stahl notiert wieder etwas, Schlegel sieht uns grüblerisch an. „Dasselbe sagte ihr Lebensgefährte uns auch bereits“, stellt er fest und es wirkt beinahe so, als störe es ihn, dass unsere