Reinhold Zobel

Die Entleerung des Möglichen


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der Angesprochene ist mein Vater, ging es Oskar durch den Kopf, als er aus dem Traum erwachte…

      Die Bilder drehen ab, und Oskar sich auf die andere Seite. Er möchte wieder einschlafen, aber es gelingt nicht. Er steht auf und will die Verandatür schließen. Etwas bewegt sich. Eine pockennarbige Kröte hockt auf der Türschwelle. Er tritt nach ihr, und sie hüpft eilig davon. Draußen ist alles schwarz. Eine fugenlose Wand, die das Haus zu zerquetschen droht, das Haus und seine Insassen. Seine Hand zittert. Er zieht die Vorhänge zu. Eigentlich mag er es nicht, wenn die Vorhänge zugezogen sind. Er tut es dennoch. Constanze würde es gut finden. Sie fürchtet sich unablässig vor Einbrechern, hier draußen, wo die Häuser einzeln stehen und manche leer sind. (Gut, dass sie ihn jetzt nicht sehen kann.) Dabei lauern in den Städten doch weitaus größere Gefahren.

      Er legt sich wieder hin. Er ist zum Schlafen nach unten auf die Couch gewechselt, weil es, wie er hofft, an diesem Ort etwas kühler ist. Er hat Constanze all die Zeit über nichts von seinem Fund erzählt. Und er hat nicht vor, es zu tun. Er nennt es seine Biarritz Connection. Denn dort, innerhalb weniger Tage, las er fast alles, was sich in dem Koffer fand.

      Einige Zeilen gehen ihm nach, während eine erschöpfte Müdigkeit seinen Atem langsamer und seine Glieder schwerer werden lässt, Zeilen aus den väterlichen Skizzen, Zeilen, die sich wie die Coda einer unvollendeten Erzählung in seinem Kopf formieren.

      …Ich ahnte, ich hatte einen Fehler begangen, doch war es zu spät, ihn zu korrigieren. Das Blau des Himmels, das sich beim letzten Mal in ihren Augen gespiegelt hatte, war mir blass erschienen. Ich wollte heimkehren, voller Geschichten, nur wer würde meine Geschichten hören wollen? Farben, Klänge stiegen in mir auf und erloschen wieder - abschiedsschwer. Und mit ihnen erlosch ein Teil meines müde gewordenen Selbst

      *

      “Schreib ein Lied für mich, Oscar. Seit ich vierzehn Jahre alt war, wünsche ich mir das.

      Die Stimme kam aus dem Off. Oscar dachte an diese Worte, die die letzten gewesen waren, ehe sie sich trennten. Er hatte Mohun in aufgeräumter Stimmung angetroffen, den Blick, wie stets, stahlgrau, glänzend und echsenhaft wachsam auf totes wie auf lebendiges Material gerichtet.

      Der Tag trug keinen Minirock, aber schon etwas Ähnliches. Er begann leer, geruchlos wie eine noch ungebrauchte Strumpfhose und erinnerte ihn, warum, war ihm nicht so ganz klar, an sein erstes Zusammentreffen mit Mohun und gleichermaßen an sein Debüt im Rapzodie.

      Ersteres trug sich zu an einem staubtrockenen Morgen gegen neun Uhr mitteleuropäischer Zeit im Hauseingang vor Ferenczys Tanzladen. Unrat bedeckte den Bürgersteig. Die Stadtreinigung war aus unveröffentlichten Gründen nicht in Aktion getreten.

      Ein kleiner Mann mit einem großen Gesicht. Mohun, ein von Gestalt kräftiger Mensch, stand, beide Hände in den Taschen seines Kamelhaarmantels, so lässig wie breitbeinig da, ein Wesen, seiner selbst, wie es den Anschein hatte, vollkommen gewiss. Er trug einen Hut mit schmaler Krempe, aus torfbraunem Wildleder. Wenn er diesen lüftete, rückten eine mondähnliche Stirn, die sich über einer leicht gebogenen Nase wölbte, sowie zu den Seiten hin ozeanisch gewelltes, dunkelbraunes Haar vor das Auge des Betrachters. Er trug das Haar kragenlang. Seine Haut besaß eine Tönung wie von geröstetem Sesamöl. Er war Mitte Vierzig. Er rauchte nicht. Er trank nicht. Er war Vegetarier.

      Über seine Vergangenheit sprach er nur ungern. Seine Mutter kam aus Indien, sein Vater war Sachse und Kneipier. Sein eigentlicher Name war Frank Freyer, doch trat er, den Mädchennamen seiner Mutter mit einbeziehend, als Freyer-Mohun auf, die Menschen in seiner Umgebung nannten ihn in der Regel abgekürzt Mohun. Das schien eine der wenigen Regeln zu sein, die zu akzeptieren er sich bereit fand.

      Frank Mohun schloss die Tür auf, er hatte den Hauptschlüssel zum Rapzodie. Sie blieben ungefähr eine halbe Stunde.

      “Riecht nach Frauen hier, nicht wahr?”

      “Ja… wann soll das Ganze, ehm, über die Bühne gehen?”

      “Wenn die Dinge wieder im Fluss sind.”

      “Ah, bon.”

      “Was denkst du inzwischen darüber?”

      “Nichts. Ich habe das Denken eingestellt.”

      “Ich sehe es dir an. Die Sache missfällt dir, nicht wahr? Aber betrachte es doch einmal so herum: Der Mann genießt meinen persönlichen Schutz. Es gibt hier eine Menge finsterer Gestalten. Und auf diese Weise kann ihm kaum etwas passieren.”

      “Wenn du es sagst.”

      “Und außerdem, es geht weniger schief.”

      “Ich bin es gewohnt, dass Dinge schief gehen.”

      “Schenk uns noch ein Glas ein, Oscar… Man sollte sich, mein Lieber, nie mit Verlierern zusammen tun… schon gar nicht, wenn man selber einer ist.”

      “Danke für den Rat.”

      “Noch etwas, Oscar. Ich kann, ohne dass man mir Widerstände entgegensetzt, nicht leben. Bei dir verhält es sich umgekehrt. Du scheinst mir süchtig nach Ausgleich.”

      Ehe sie den Laden verließen und sich trennten, tranken sie einen weiteren Cognac aus einer Flasche, die Mohun zuvor einem abschließbaren Barschrank entnommen hatte.

      Vor der Tür wartete Joe le Brie mit dem weißen Citroën seines Herrn. Sein eines Auge, es war das linke, war nicht in Ordnung. Es irrlichterte. Joe war riesig, stammte aus dem Elsaß, und war Mohuns Leibschatten. Die beiden Männer bildeten eine Einheit. Ja, sie schienen miteinander verwachsen zu sein. In Joes mächtiger Brust, sagte Mohun gern, schlage ein butterweiches Herz…

      Irgendwann, viel zu spät, ging sein erster Arbeitstag zu Ende. Mit faulem Nachgeschmack. Schon ein Voraus-Kommando seiner Erwartungen hatte Schiffbruch erlitten. Als Ferenczy ihm gegen Mittag einen Rohrpostbrief zukommen ließ, erfuhr Oscar, dass die Heizung im Rapzodie ausgefallen war. Und das an diesem frostkalten Wochenende. Bereits seine Mansarde hatte sich als schlecht geheizt erwiesen. Oscar musste sich bislang so manche Nacht in den Tiefschlaf frieren. Jetzt also zusätzlich dieses malheur an seinem neuen Arbeitsplatz. Ein unfroher Auftakt.

      Das Interieur war von Plüsch dominiert, spermafarben. Es gab keine Bedienung. Ferenczy selber sorgte für den Ausschank der Getränke. Man tanzte Calypso&Tango. Die Begleitmusik kam von Schallplatte. Das würde jetzt, wo Oscar da war, anders werden. Und das Publikum? Viel überreife Weiblichkeit, Ehefrauen,Witwen, die dem néant ihrer irdischen Existenz zu entrinnen suchten und drohten, mit jeder frisch aufgelegten Körperdrehung die wehrlose Eleganz dieser beiden stolzen Tänze zu erdrosseln. Es gab sogar einen Gigolo, denn es herrschte Männermangel.

      Der Gigolo war ein unechter Spanier. Er leistete den Damen Beistand, nicht allein wenn es an der Schrittfolge haperte. Er war Ungar wie Ferenczy, hieß eigentlich Laszlo Varga, trat aber bei Ferenczy unter dem Namen Ramon Garcia auf. Er hatte, wie Oscar hörte, früher in Wien gelebt. Er war ein passabler Tänzer, doch wirkte er wie ein Restposten. Er hatte sicher einmal bessere Tage gesehen, jetzt bröckelte der Putz. Es war ein zierlich gebauter Mensch, vieles an ihm wirkte kraftlos, die Augen, die Gesten, die leicht näselnde Stimme. Er war, genau wie Oscar, eben über mittelgroß, sein Gesicht war konkav und von ranzigen Magenfalten durchzogen. Sein Alter ließ sich schwer schätzen, sein Haar war dunkel. Möglich, dass er es färbte.

      Sie hatten flüchtig miteinander parliert, auf Deutsch, vor der Veranstaltung, über Kunst und über Künstler. Garcia-Varga war der ebenso entschieden wie unteilbar vorgetragenen Auffassung, alle Kunst knechte den Künstler, weil dem Tyrannen Erfolg auf ewig fest versprochen.

      “ Sie sehen das, ehm, reichlich düster.

      “ Ich kenne zu viele Zukurzgekommene.“

      “ Wo