andere Umweltbelastungen, an denen es liegen könnte.“
Onkel Armin stellte sich also schlafend. Da habe ich mich an das afrikanische Sprichwort erinnert aus meiner Zeit als 68er-Demonstrant gegen Krieg und Notstandsgesetze, für Aussöhnung mit dem Osten und für soziale Gerechtigkeit und an meine oft gescheiterten Versuche, Mitstreiter zu gewinnen: »Es ist schwer jemanden zu wecken, der sich schlafend stellt«.
Ich fragte mich: Stellte sich der kluge SPD-Onkel nur schlafend, oder befanden er und sein Umfeld sich bereits durch Abhängigkeit von den medialen Schlafmitteln im Tiefschlaf und wachten nur kurz auf, um ärgerliche Störungen abzuwehren?
Onkel Gerhard war ein etwas kritischerer Geist, auch SPD-Mitglied, aber später, als der Atommeiler lange schon in Betrieb war, arg zweifelnd, ob nicht doch etwas an den Gerüchten dran sei, denen zufolge immer mehr Leukämie-Erkrankungen in der Gegend auftraten.
„Es sind ja nicht nur Gerüchte“, meinte er. „Ich selbst kenne Leute, deren Familienmitglieder Leukämie bekommen haben. Und die Leute sind sich sicher – wie auch ich mit meiner bisherigen Lebenserfahrung sagen kann –, dass es hier in der Gegend noch nie so viele Leukämieerkrankungen gab wie seit der Inbetriebnahme des Atomkraftwerks.“
Ilse, die ältere Schwester von Emma, und ihr Mann Toni waren „pro AKW“. Ilse hatte dort als ungelernte Kraft einen der begehrten Arbeitsplätze in der Küche ergattert, und Toni gehörte im Kraftwerk als festangestellter Elektromeister zu einer der bestbezahlten Arbeitskräfte. Sie konnten sich schon zwei Jahre nach Arbeitsaufnahme im Atomkraftwerk ein eigenes Haus in der Nähe der Schwiegereltern leisten, und dies trotz der in den letzten Jahren in die Höhe geschossenen Immobilien- und Grundstückspreise im plötzlich hochbegehrten Grafenrheinfeld.
In dieser eiskalten Februarnacht überkam unseren fünf Monate alten Luca ein heftiger Krupp-Husten-Anfall. Erst hustete er langanhaltend, dann krächzte er, dann schnappte er nach Luft, sein Gesichtchen wurde dunkelrot und wir befürchteten das Schlimmste. Es war zirka 23 Uhr. Emma und ich zogen uns eilig an, und ich klingelte mitten in der Nacht Sturm in der neben uns gelegenen Praxis des AKW-Doktors, die in sein Privathaus integriert war. Es war klar, dass der Arzt Tag und Nacht für eventuelle Kraftwerks-Zwischenfälle parat stehen musste.
„Herr Schmidt, es tut mir leid, aber unser Kleiner hat einen Krupp-Anfall und wir haben nichts dabei.“
„Wo ist er denn?“
Dann kam auch schon meine Frau mit dem warm eingewickelten, nach Luft ringenden, röchelnden Luca im Arm.
„Kommen Sie rein!“
Dr. Schmidt untersuchte ihn kurz, aber gründlich, zog eine Spritze auf und sagte: „Das Kortison muss jetzt sein. Es wird dem Kleinen sofort Erleichterung verschaffen.“
Wir warteten bei ihm noch einige Minuten bis Luca wieder entspannt atmete und selig und erschöpft in Emmas Arm weiterschlief. Dann entließ uns Dr. Schmidt mit den Worten, für die nächsten Stunden und für morgen sei jegliche Gefahr gebannt und wir könnten beruhigt schlafen gehen, natürlich mit dem Kleinen zwischen uns. Einer der uns bekannten Tipps zum „Eheverhinderungsschlaf“. Aber nach Beischlaf war uns eh nicht zumute.
Am nächsten Vormittag brachte ich das Krankenkärtchen vorbei, und da der Doktor gerade Zeit hatte und keine Patienten im Wartezimmer saßen, unterhielten wir uns über die modernen Kinderkrankheiten.
„Ich vermute, dass viele der neueren Krankheiten mit der zunehmenden Umweltbelastung zusammenhängen“, sagte ich.
Er schüttelte entschieden den Kopf. „Das kann man so nicht sagen. Es gab schon immer Belastungen aus der Umwelt, weshalb sollte dies heute anders als früher sein?“
Schon wieder einer, der sich schlafend stellte. Wieder erinnerte ich mich schlagartig an das afrikanische Sprichwort »Es ist schwer jemanden zu wecken, der sich schlafend stellt« und versuchte erst gar nicht, mit Argumenten dagegen zu halten. Dafür interessierte mich sein Verhältnis zum Kernkraftwerk.
„Müssen Sie auch innerhalb des Werkes als Arzt tätig werden?“
„Bei akuten Notfällen natürlich. Da fällt jemand eine Leiter runter und bricht sich was, oder in der Küche säbelt sich jemand einen Finger ab, kurzum: Alle Unfälle, wie sie in anderen Betrieben oder im Haushalt vorkommen, muss ich als Werksarzt behandeln.“
„Und ich nehme an, natürlich auch, wenn es einen Zwischenfall mit Strahlung gibt?“
„Strahlungsschäden? Das gibt es nicht. Wenn da etwas austreten würde, nein, nein, das ist unmöglich, und im Übrigen finden drei Mal am Tag in allen Bereichen Prüfmessungen statt.“
„Und wenn mal etwas Größeres passieren sollte?“
Der Doktor brach in heftiges Lachen aus. „Sie meinen so etwas wie einen Super-GAU?“
Ich nickte betreten, weil es einfach nicht außerhalb meiner Vorstellungskraft lag.
„Also bei einem Super-GAU wäre ich natürlich völlig machtlos und selbst handlungsunfähig. Aber bei unserem Druckwasserreaktor handelt es sich bereits um die dritte Generation, eine sogenannte Vor-Konvoi-Anlage. Eine noch sicherere Kernkrafttechnik ist gar nicht möglich. Man hat mich an einer technischen Verständnis-Schulung teilnehmen lassen, glauben Sie mir: Unsere Technik ist so ausgereift wie nirgendwo sonst!“
„Aber beim Three-Mile-Island-Reaktor in Harrisburg rechnete auch niemand mit einer Kernschmelze, und man hielt ihn für hundertprozentig sicher. Es sei lediglich mit einem kleinen sogenannten Restrisiko zu rechnen, hieß es, bevor das katastrophale Desaster passierte.“
„TMI, das war ein Druckwasserreaktor der vorangegangenen Generation. Heutzutage kann nichts schiefgehen. Man hat ja schließlich daraus gelernt“, sagte der Arzt im Brustton der Überzeugung.
Was sollte ich noch sagen oder fragen? Außer vielleicht dies: „Wie hoch ist Ihr AKW-Salär? Und wie hoch ist die Verschwiegenheitsstufe mit der Sie über strahlungsbedingte Krankheiten gegenüber der Öffentlichkeit schweigen sollen?“ Aber das fragte ich nicht. Er hatte in der Nacht Luca gerettet.
Und jetzt überreichte ich das Krankenkärtchen und nahm dafür ein Rezept entgegen. Er gab mir noch einen Hinweis mit. Wir sollten diese Kortison-Zäpfchen niemals auf unseren Reisen vergessen und zu Hause immer griffbereit liegen haben. Es war ein guter Tipp, an den wir noch so manches Mal zwangsweise erinnert wurden.
„Erinnerst du dich an diese ermüdenden Familienfeiern von früher?“, fragte ich Emma, als wir im Auto zurück nach Frankfurt fuhren.
„Hast du Armins Geburtstagsfeier ermüdend gefunden?“
„Nein, das meine ich nicht. Ich denke an alte Zeiten, zum Beispiel an den Geburtstag der Patentante Susanne, die ich Gott sei Dank nur einmal im Jahr sah, oder an Onkel Friedrichs achtzigsten Geburtstag oder an die Goldene Hochzeit der Großtante Margarete.“
„Ich kenne die ja alle nicht. Was ist denn damit?“
„Nun, Familie ist kein Ponyhof.“
„Wie man’s nimmt“, sagte Emma, die auf dem Beifahrersitz saß, während hinten die Kinder schliefen.
„Noch heute steuert meine Schnappatmung dramatische Höhen an, wenn ich mich an Patentante Susannes feuchte Küsse und ihren schrillen Ausruf erinnere: »Oh, du bist aber gewachsen. Im letzten Jahr warst du noch so klein!« Dabei zeigte sie mit Daumen und Zeigefinger ein Maß an, das mich ins Reich der Zwerge katapultierte. Und dann bekam ich den unvermeidlichen, ekelhaft feuchten Schmatzer.“
Emma musste lachen. „Ja, solche Erinnerungen habe ich auch. Zum Beispiel von meiner etwas dicklichen Großtante: »Kind, du musst mehr essen, du bist zu dünn!« Es folgte eine wilde Streicheleinheit über mein Haar, dass ich gerade in mühsamer und zeitraubender Arbeit vor dem Badespiegel hergerichtet hatte.“
„Bei mir kam dann aber die Katastrophe mit Tante Margarete daher“, sagte ich. „Wenn sie das Spitzentaschentuch hervorholte, um mir mit ihrer Spucke den Salonschnitt zu glätten, oder gar das Gesicht spuckefeucht zu säubern.