des bis heute gängigen Konservierungsverfahrens flüssiger Lebensmittel durch Louis Pasteur – kurz: vor der Pasteurisierung – alle Biere mehr oder weniger säuerlich schmeckten.“
„Hä? Pasteurisiertes Bier?“, sagte Doris. „Klingt auch nicht gerade nach Natur pur!“
Und plötzlich wurde mir bewusst, dass all die spannenden, weltbewegenden WG-Diskussionen der früheren Jahre unwiederbringlich vorüber waren. Sie waren den gesättigten Unterhaltungen bürgerlicher Belanglosigkeit gewichen.
„Infektionen mit Milchsäure- oder anderen Bakterien oder bestimmten Hefen, wie der Brettanomyces, die für einen ganz eigenen Sauer-Touch im Bier sorgen, waren früher kaum zu verhindern“, fuhr Gunnar seinen Vortrag fort. „Je nach Brauerei, Temperatur, Jahreszeit, also je nach Spiel des Schicksals, tat das dem Geschmack des Bieres mehr oder weniger Abbruch. Die Redewendung, etwas verkaufe sich »wie sauer Bier«, hat jedenfalls belegbare, historische Wurzeln.“
»Howgh«. Der Häuptling der Bildungsbürger hatte gesprochen. Emma, Gitti, Irmel und Arndt zollten so etwas wie höflich-verhaltenen Beifall. Und auch ich nickte etwas widerwillig, was man jedoch auch als sachte zustimmend werten konnte. Vom Thema selbst hatte ich keine Ahnung und fand es auch nicht besonders aufregend. Zehn Jahre später sah ich das anders, was ich jetzt von mir selbst nicht wissen konnte. Im Augenblick jedenfalls langweilte mich die Thematik.
Mich beschäftigte im Moment mehr, weshalb die Amis mit großer Mehrheit doof genug waren, den doofen rechtskonservativen Republikaner und hauptberuflichen Wild-West-Schauspieler Ronald Reagan erneut zu ihrem Wildwestpräsidenten zu wählen. Noch einmal vier lange Jahre diesen durchtriebenen Luftikus, diesen Geldverschleuderer, diesen weltweit größten Staatsschuldenmacher, diesen ungenierten Rüstungsfanatiker. Ein Mann, der reiner Statist für die Superreichen war und der seinen zig Millionen armen Mitbürgern noch nicht einmal ein funktionierendes und bezahlbares Gesundheitssystem gönnte.
Meine Gedanken in Ehren, aber Gunnar war im theoretischen Bier-Rausch und nicht zu bremsen. „Als Brauer ab Ende des 19.Jahrhunderts in der Lage waren, die unbeabsichtigte Säuerung zu verhindern, taten sie das in Deutschland auch. Saure Biere waren hierzulande schnell auf dem Rückzug, selbst das letzte seiner Art, die Berliner Weiße, war bis Mitte des 20.Jahrhunderts fast ausgerottet. In anderen Teilen der Welt aber hielten sich Sauerbiere – allen voran in Belgien. In Belgien haben saure Biere Tradition.“
Gunnar sah seine Moni auffordernd an. Und sein Weibchen war bereit zu springen: „Soll ich ein paar Flaschen holen?“
Für Emma und mich war es spannend, noch einmal so ein quicklebendiges Patriarchat in der Epoche der allgemeinen Emanzipation zu erleben. Eine Art Zeitreise in die Ära unserer Großeltern und Eltern. Ich hätte darauf wetten können, dass jede andere Frau aus unserer Saunarunde, statt sich so weiblich beflissen auf den Sprung zu machen, eher ihren Mann zum Bier holen heimgeschickt hätte.
Gunnar aber wies ihr mit einer knappen Kopfbewegung den Weg und fuhr dozierend fort: „Die besten, die edelsten Biere unseres bierkulturell beeindruckenden Nachbarlandes schmecken sauer. Das Lambic etwa gilt als der vielleicht anspruchsvollste und komplexeste Bierstil der Welt. Im Grunde sprechen wir hier von einem spontan vergorenen Weizenbier, wobei aber eine Besonderheit in Abgrenzung zum deutschen Weizenbier darin liegt, dass der belgische Brauer hier »Rohfrucht«, also unvermälzten Weizen, verwendet.“
Arndt, der an Diabetes litt, wandte sich an Tobias: „Sag mal, Tobi, gibt es aus diabetischer Sicht eigentlich Einwände gegen den Bierkonsum?“
Bevor Tobi seine Mediziner-Antwort in die Runde werfen konnte, fuhr Gunnar unbekümmert in seinem Bier-Referat fort, da auch Stefan etwas gefragt hatte, nämlich inwieweit saures Bier mit der Braumethode zusammenhängt.
„Nach dem Brauen werden Lambics traditionell in ein Kühlschiff gegossen, eine große, flache Wanne meist im Dachgeschoss der Brauerei, in der der eben noch kochende Sud möglichst schnell abkühlen sollte, ehe er in den Gär-Tank gefüllt wird.“
Meine Gedanken schweiften wieder einmal ab. Plötzlich drängte sich mir wie aus dem Nichts die Frage auf, wie ich meine kleine Familie ernähren wollte, wenn mein befristeter Arbeitsvertrag an der Uni ausgelaufen war. Ich wehrte den Gedanken krampfhaft ab. Ich wollte daran nicht denken, nicht jetzt, nicht hier, nicht in dieser.
„Früher hatten auch deutsche Brauereien Kühlschiffe, allerdings wurden die durch Plattenkühler ersetzt, weil die Gefahr, dass die Würze sich, wenn sie da so offen herum steht, Infektionen durch Bakterien oder wilde Hefen einfängt, hoch ist“, riss mich Gunnar aus meinen Gedanken.
„Igitt!“, rief Doris aus. „Bakterien! Infektionen!“
„Genau das will der Lambic-Brauer!“, fuhr Gunnar fort. „Der Brauer setzt auf Spontangärung, darauf also, dass seine Würze ohne das menschliche Zutun von Hefe durch ihn anfängt zu gären. Oft stehen dafür in den Kühlschiffen belgischer Traditionsbrauereien die Fenster offen, Moos und Spinnweben an der Decke werden niemals entfernt. Denn überall darin verstecken sich genau jene »wilde Hefen«, die den Geschmack der Biere dieses Hauses prägen. Danach gärt Lambic über Wochen in offenen Gärbottichen, ehe eine teils Jahre dauernde Lagerzeit beginnt.“
Noch einmal stieß Doris ein lautes Igitt aus.
Gunnar hatte den Wettbewerb zwischen unserer männlichen Experten-Spezies vorerst gewonnen, aber schon rüstete Tobi zu einem sanften bildungsbürgerlich-medizinischen Gegenangriff.
„Mal zurück zu deiner Frage, Arndt. Was ich dir als Diabetiker raten kann, ist eine gewisse Zurückhaltung.“
Wir konnten nicht ahnen, dass es gerade jener wunde Punkt war, an dem Arndt schon zwei Jahre später im Alter von nur 37 Jahren versterben würde.
Arndt sah Tobias fragend an, und Tobias, immer der ernste Arzt, sah Arndt mit Ausrufezeichen in den Augen an. „Bereits ab einem Blutalkoholspiegel von 0,45 Promille ist die Zuckerfreisetzung gestört. Weiblichen Diabetikerinnen wird deshalb empfohlen, nicht mehr als 10 g Alkohol täglich zu trinken. Das entspricht etwa einem achtel Liter trockenem Wein oder 250 ml Bier. Bei Männern mit Diabetes liegt diese Menge doppelt so hoch. Auch wenn die Empfehlungen sich auf den Tag beziehen, sollte Alkohol, ganz gleich ob mit Diabetes oder ohne diese Erkrankung, nicht täglich dazugehören.“
„Nicht täglich?“, entrüstete sich Gunnar. „Mir bekommt es außerordentlich gut.“
„Es entwickelt sich leicht ein Gewohnheitseffekt, das Gewicht steigt, die Leber kann geschädigt und der Appetit gesteigert werden. Gerade bei Typ-2-Diabetes, wie es Arndt hat, ist es wichtig, Kalorien im Blick zu halten, damit das Gewicht nicht steigt. Alkohol kann den Fettstoffwechsel stören, den Fettabbau erschweren und somit Übergewicht fördern. Also ein Gläschen sollte am besten wohldosiert und mit Genuss getrunken werden.“
„Was heißt überhaupt Typ-2-Diabetes?“, fragte Doris.
„Diabetes mellitus oder auf gut Deutsch Zuckerkrankheit ist eine chronische Störung des Stoffwechsels, bei der die Blutzuckerkonzentration zeitweise oder ständig erhöht ist.“ Endlich war Tobias in seinem Element.
Seine Frau schaute Emma an: „Gehen wir mal kurz in die Küche?“ Die beiden verschwanden. Ich hatte den Eindruck, dass Anne das medizinische Fachchinesisch nicht mehr hören konnte. Mich interessierte es. Gesund leben, tja, man hatte ja Kinder, die man gesund großziehen wollte. All die neuartigen und sich überstürzenden Umweltprobleme waren schon schlimm genug, sagte ich mir und musste an meinen neuen Aufgabenbereich am Uni-Institut denken. Ich sollte eine Umweltbibliothek aufbauen und dabei insbesondere vergleichende soziologische wie umweltmedizinische Untersuchungen berücksichtigen. Gehörte da nicht Ernährung dazu?
„Im Allgemeinen werden unter dem Begriff Diabetes verschiedene Krankheitsformen zusammengefasst. Am weitesten verbreitet sind Typ-1-Diabetes und Typ-2-Diabetes. Typ-2-Diabetes wurde früher auch als Altersdiabetes bezeichnet, weil er meist bei älteren Menschen auftrat. Heute sind aber zunehmend Jüngere, zum Teil sogar Kinder und Jugendliche von einem Diabetes mellitus betroffen.“
„Ja, so alt bin ich gar nicht, muss mich aber schon mit einer sogenannten