Jens Poschadel

Matis Reise in den Bauch der Erde


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Vater so gar nicht ähnlich. War dies etwa eine Prüfung?

      Ich verhielt mich nun völlig ruhig, um zu lauschen, ob nicht bereits Hilfe nahte. Doch alles was ich hörte, war das feine Rauschen des an meiner Stirn verbrennenden Acetylens. Ein paar Meter vor mir verbreiterte sich der Tunnel. Schatten tanzten an den Höhlenwänden. Sie nahmen Gestalt an. Sollten die brasilianischen Führer mich gefunden haben? Ich hörte ein feines Wispern. Zunächst war es nur eine einzelne Stimme, dann folgten weitere. Das Geräusch ähnelte dem fernen Zirpen sommerabendlicher Feldgrillen. Die Schatten huschten die Wände entlang. Sie waren viel zu klein und zu flink, um von meinen Kameraden stammen zu können. Außerdem waren ihre Arme zu lang, die Beine zu kurz. Nein, das waren ganz sicher keine menschlichen Schatten.

      Scheiße, was sollte ich jetzt nur tun? Angst kroch durch meine Gedärme. Hektisch durchwühlte ich mein Hirn auf der Suche nach Regeln für den Notfall. Was hatte Karl noch gleich über Panik gesagt? Der alte Mann hatte mir schon so vieles mit auf den Weg gegeben. „Mati, es ist wichtig, in die Schule zu gehen, du lernst dort fürs Leben.“ Nein, Blödsinn, das war es nicht. „Messer rechts, Gabel links, wann lernst du das endlich?“ Auch nicht, er hatte mir fünf Regeln genannt. Wie lautete gleich die Wichtigste von allen? Plötzlich erschien die Situation deutlich vor mir. Karl hatte mich am Abend vor unserer Abreise auf einmal ganz ernst angeschaut. Er hatte seine schmutzige Brille abgenommen, mir ungewohnt direkt und geistesanwesend in die Augen gesehen und gesagt: „Mati, was immer dort unten in den Höhlen auch geschehen, wer oder was auch immer dir begegnen mag, du darfst auf gar keinen Fall in Panik geraten!“

      „Mati! Mati, träumst du schon wieder? Hörst du mir jetzt gar nicht mehr zu? Ich möchte, dass du den Löffel in die linke und die Gabel in die rechte Hand nimmst. Das macht man so, wenn man Spaghetti isst. Ist das denn wirklich so schwer zu begreifen?“ Die Pasta mit den in Olivenöl gebratenen, roten Chilis und Knoblauch schmeckten köstlich. Mein Vater kochte zu meinem Glück nicht nur gut, sondern auch gern. Merkwürdig, dass ich mir die Sache mit dem Besteck nicht merken konnte. Ich tat das nicht, um ihn zu ärgern. Echt. Es fiel mir einfach nicht auf, wenn ich es falsch machte.

      Meine letzten Schultage verflogen fast vollkommen ereignislos. Lu tauchte nicht wieder auf. Beinahe hätte ich ihren Liebesbrief vergessen, wäre da nicht ihre beste Freundin Lynn gewesen. Die fragte mich am Donnerstag, ob ich eigentlich noch ruhig schlafen könne. Ich schenkte ihr mein kältestes Grinsen, obwohl mir eigentlich nicht danach zumute war. Ich mochte Lu. Ehrlich. Das einzige Problem an ihr war, dass es sich bei ihr - inzwischen unverkennbar - um ein Mädchen handelte. Offizielle Freundschaften mit Mädchen kamen in unserer Klasse noch nicht in Frage. Egal, sie würde die Schmach mit dem Zettel schon überleben und bestimmt fanden wir bald eine Gelegenheit, uns heimlich zu treffen. Falls sie das überhaupt noch wollte.

      Mein Zeugnis war nicht übel und es reichte aus, meinen Großeltern ein paar Scheine aus dem Portemonnaie zu leiern. Sie schenkten mir 100 Euro als Taschengeld für die Reise nach Brasilien. Ob die beiden überhaupt eine Vorstellung davon hatten, welches Abenteuer eine solche Reise bedeutete? Soweit ich wusste, waren Werner und Elke niemals aus ihrem Dorf herausgekommen. Außer im Krieg vielleicht. Ich bedankte mich artig für das Geld und kaufte mir eine wasserdichte Taschenlampe, ein neues Taschenmesser, eine Weste mit ungefähr zwölftausend Taschen für wichtige Abenteurerutensilien und einen Kompass mit gewölbtem Glasdeckel.

      Am Freitagmorgen, noch vor der Schule, stellten Karl und ich während unseres Morgenmüslis eine Liste der noch zu besorgenden Ausrüstungsgegenstände zusammen. Es gefiel mir, von meinem Vater in die Planung der Reise einbezogen zu werden. Ich fühlte mich wie ein Teil seiner Mannschaft, seines Forscherteams. Jedenfalls nicht wie ein Fremdkörper, der lediglich im Sinne der väterlichen Gewissensberuhigung mitgeschleppt wurde. Am Nachmittag holte Karl mich von der Schule ab und wir fuhren direkt zu einem Outdoor-Ausrüster. Unsere Höhlenhelme, wasserdichte Taschenlampen für die Forscher, Karbidlampen und so weiter stellte die Universität Hamburg.

      Außerdem brauchten wir noch höhlentaugliche Bekleidung, stabile Seile, jede Menge Karabinerhaken, ein Allwetterfeuerzeug, wasserfeste Streichhölzer, eine Strickleiter aus Stahl sowie wasserdichte Rucksäcke. Wider Erwarten machte es mir großen Spaß, die Ausrüstung gemeinsam mit meinem Vater auszusuchen. Ab und zu, wenn wir zwischen mehreren Ausführungen von Geräten wählen mussten, fragte Karl mich nach meiner Meinung. Als es um die Auswahl einer Strickleiter ging, legte Karl besonders großen Wert auf meine Einschätzung. Sobald es um die Planung einer Höhlenexpedition ging, wurde aus meinem tollpatschigen Vater wie durch ein Wunder ein gut organisierter Kollege.

      Mit jedem weiteren Ausrüstungsgegenstand in unseren Einkaufskörben verstärkte sich die Gänsehaut auf meinem Rücken. Mein rechtes Knie begann zu zittern. Es tat sehr gut, Karl an meiner Seite zu haben. Als hätte er meine Unsicherheit bemerkt, legte mein Vater seine Hand auf meine Schulter. „Es ist gut zu wissen, dass ein zuverlässiger Freund mich auf diese Reise begleitet.“

      Ich weiß nicht, wie es euch mit euren Eltern geht. Ich wunderte mich manchmal darüber, wie wenig ich meinen Vater kannte. Und wie wenig er von mir wusste. Deshalb freute und befremdete es mich zugleich, dass Karl mich seinen zuverlässigen Freund nannte.

      Am Wochenende verabschiedeten wir uns von Freunden und packten unsere Taschen. Während mein Körper in Hamburg mechanisch den Seesack vollstopfte, reiste mein Geist bereits durch unerforschte Tropfsteinhöhlen voller skurriler Lebensformen. Am Samstagnachmittag traf ich meine besten Freunde und Baumhausmitbesitzer Tom, Hannes und Arne. Sie stellten allerhand teils ziemlich dumme Fragen, was mich in einem Brasilien-Experten-Licht erscheinen ließ. Ich beantwortete ihre Fragen anfangs überwiegend wahrheitsgemäß. Bald begann ich jedoch zu fantasieren, dass sich die Balken unseres Baumhauses bogen wie Bambushalme im Monsun.

      „In den brasilianischen Wäldern leben Schmetterlinge, die sind so groß wie Badehandtücher. Sie müssen den Aufwind des verdunstenden Regenwassers nutzen, um überhaupt fliegen zu können.“ Sechs große Augen starrten mich an. „Die etwa einen halben Meter langen, tiefschwarzen und unterarmdicken Tausendfüßer des Amazonas-Regenwaldes winden sich nachts um deine Füße, bringen sie zum Absterben und fressen sie auf, wenn sie abgefallen sind.“ Sechs große Augen und drei offene Münder versicherten mich der ungeteilten Aufmerksamkeit meiner Zuhörer. „In den zentralbrasilianischen Höhlen leben gigantische Spinnen, deren Netze komplette Höhlengänge versperren können. Die Netze sind unheimlich reißfest und dabei beinahe unsichtbar. Die Spinnen sind so riesig und aggressiv, dass ihnen schon einige Höhlenforscher zum Opfer gefallen sind. Sie wurden einfach leergelutscht.“ Sechs große Augen, zwei davon zwinkerten nervös. Drei offene Münder zierten unbemerkte Speichelfäden. Tom, der größte Angsthase von uns vieren, war nahe daran, sich in die Hose zu pinkeln. Seine Beine zappelten unruhig hin und her. „Im tiefsten Inneren der brasilianischen Tropfsteinhöhlen leben fädige Algen, die ohne Photosynthese existieren können. Sie verdauen die stetig nachwachsenden Kalkgebilde und scheiden halluzinogene Gase aus. Es sollen sich dort schon Höhlenforscher umgebracht haben. Sie sahen Fantasielebewesen, die ihnen vorgaukelten, die Welt außerhalb der Höhlen sei von Marsianern zerstört und unbewohnbar. Die verzweifelten, letzten Aufzeichnungen der Halluzinierenden beschrieben die kleinen Höhlenlebewesen übereinstimmend als total fies und irgendwie gnomartig.“

      Tom verabschiedete sich um sieben. Er müsse nun ganz dringend zum Abendessen nach Hause. Hannes und Arne lauschten meinen weit hergeholten Geschichten noch bis in den späten Abend. Dann wünschten sie mir eine prall abenteuergefüllte Reise sowie eine gesunde Rückkehr. Hannes schlug vor, ich solle bei der Auswahl meiner Nachtlager bedenken, dass ein vom Tausendfüßer abgenagter Beinstumpf schon ein gewaltiger Hingucker und unbedingt ein Grund dafür wäre, ein paar Wochen lang der coolste Kerl der Klasse zu sein. Ich wünschte Hannes und Arne ein paar langweilige Wochen in Dänemark und ging nach Hause. Karl war noch nicht da, hatte mir aber belegte Brote und eine Flasche Malzbier in den Kühlschrank gestellt.

      Ich habe keine Erinnerung daran, wie ich den Rest des Wochenendes verbrachte. Ach halt: ich versuchte noch, Lu anzurufen, um mich für meine Unartigkeit zu entschuldigen und ruhigen Gewissens verschwinden zu können. Ihre Mutter sagte, Lu sei bei ihrer Oma und die habe kein Telefon. Das klang in meinen Ohren nach einer Ausrede,