Lena Schneiderwind

Freiheit ist...


Скачать книгу

genannt. Mein Team und ich stehen kurz vor dem Durchbruch. Wir sind sicher, innerhalb der nächsten 6 Monate einen wirksamen Impfstoff zur Verfügung stellen zu können.

      Und auch wenn oder gerade weil wir so kurz vor dem Abschluss unserer Studien stehen, ist es unsagbar wichtig, dass wir uns alle noch für diese paar Monate in Geduld üben.

      Mein Aufruf geht an alle Menschen da draußen. Egal welcher Herkunft, welchen Alters, Geschlechts und egal, wo Sie sich gerade befinden: Bitte halten Sie durch und halten Sie sich strengstens an die Regeln, die bisher zur Eindämmung des Virus galten. Bitte lassen Sie sich nicht von den Lockerungen mitreißen und riskieren Sie keine zweite Infektionswelle.

      Ich kann verstehen, dass die Maßnahmen eine große Einschränkung bedeuten, aber bitte glauben Sie mir: es ist nun absehbar und wenn wir alle zusammenhalten und uns noch ein Weilchen gedulden, dann können wir diese Krise innerhalb der nächsten 6 Monate gemeinsam überstehen und hinter uns lassen.

      Hiermit wende ich mich auch an die Politiker unseres Landes sowie aller anderer Länder. Ich verstehe, dass Sie alle unter enormem Druck stehen, aber es ist wichtig, dass wir die Regeln erst lockern, wenn wir ganz sicher sind, dass wir die Situation wieder vollständig unter Kontrolle haben.

      Dieser Fall tritt erst ein, wenn wir einen wirksamen Impfstoff haben.“

      An dieser Stelle muss ich mich selbst stoppen, um mich nicht völlig in Rage zu reden und mehr preiszugeben als geplant. Denn je nach Auslegung sind 75-90% dieser Geschichte gelogen oder zumindest stark verzerrt. Zunächst einmal ist mein Name nicht Sofia Mondlaub und ich bin weit von jedwedem wissenschaftlichen Abschluss entfernt. Einen Doktortitel werde ich mit Sicherheit nie haben. Nach diesem Geständnis ist es wohl auch keine große Überraschung, dass ich in den kommenden Monaten keinen rettenden Impfstoff gegen Covid-19 oder irgendein anderes Virus zur Verfügung stellen kann.

      Ich bin absolut kein Freund von Lügen. Wenn möglich, ziehe ich die Wahrheit einer Lüge immer vor. Egal, welche Konsequenzen das für mich bedeutet. Ein Charakterzug, der mir in meinem Leben sicher nicht nur positive Erlebnisse beschert hat, aber so wurde ich nun mal erzogen. Ich will gar nicht an das Gewitter denken, dass über mich hereinbräche, wenn meine Mutter wüsste, wie sehr ich die Stabilität diverser Balken gerade überstrapaziert habe. Und meine arme Oma würde sicher einen doppelten Rittberger durch ihr Grab drehen.

      Warum sitze ich dann nun also hier und lüge einfach so mehrere Millionen mir völlig fremder Menschen an? In diesem Falle greift wohl die Theorie des Zwecks, der die Mittel heiligt. Denn die 10-25% Wahrheit, die in meiner Geschichte stecken, sind es allemal wert, einige Lücken mit etwas Phantasie und Einfallsreichtum zu füllen.

      Der wichtigste Fakt ist wohl dieser: innerhalb der nächsten 6 Monate kann tatsächlich ein wirksamer Impfstoff gegen Covid-19 zur Verfügung gestellt werden. Dieser Impfstoff ist unabdingbar, um die Kontrolle über die aktuelle Situation zu erlangen und schwerwiegende Folgen zu vermeiden. Ebenso wahr und wichtig ist, dass Lockerungen zum jetzigen Zeitpunkt absolut verfrüht sind.

      Weil ich diese und noch einige andere Wahrheiten kenne, setze ich nun alles daran, sie auch der restlichen Bevölkerung begreiflich zu machen. In den letzten 10,5 Monaten habe ich all meine Zeit und Energie dafür eingesetzt, mich bestmöglich auf diese Chance vorzubereiten.

      Denn eins ist klar, wenn meine Mission scheitert, wenn ich scheitere, wird das die Menschheit weit mehr kosten als sie aktuell ermessen könnte.

      Kapitel 2

       22.01.2049

      Ich sitze auf der Fensterbank meines 10qm Wohnzimmers in meiner 40qm Wohnung. Standardgröße für einen Level-3-Bürger.

      Level 3 bedeutet, dass ich mich im Großen und Ganzen an die Regeln halte und keine größeren Probleme mache. Ab und zu leiste ich mir den ein oder anderen Ausrutscher, aber ich verschwinde damit noch in der Masse der Durchschnittsbevölkerung.

      Level 3 bedeutet, ich stehe nicht unter ständiger Beobachtung, aber es kann unangekündigte Kontrollen geben.

      Level 3 bedeutet, dass ich bei unerwünschtem Verhalten nicht sofort einkassiert, sondern erst einmal nur ermahnt werde. Selbstverständlich darf ich dabei gewisse Grenzen nicht überschreiten. Einige Verhaltensweisen würde man selbst einem Level 1 nicht durchgehen lassen.

      Level 3 bedeutet auch, dass ich mir das Buch, das um Aufmerksamkeit heischend auf meinen Knien ruht, nicht selbst aussuchen durfte. Diese mitreißende Abhandlung über Wurmlöcher und Zeitreisen wurde mir mit meinem monatlichen Lektüre-Paket und den freundlichen Worten „Bitteschön! Extra für Sie ausgewählt! Ihre Bücherlieferung des Monats!“ überlassen. Irgendwie schaffen es die Boten immer, dabei tatsächlich den Eindruck zu erwecken, etwas ganz, ganz Tolles vor der Türe abzustellen. Ich habe noch nie einen von ihnen zu Gesicht bekommen, aber ich frage mich, ob sie zumindest den Anstand hätten, betreten zu Boden zu schauen, wenn sie einem dabei direkt gegenüber stünden.

      Ich hatte mir fest vorgenommen, heute die magische 10-Seiten-Hürde zu knacken, aber ein heutzutage äußerst seltenes Naturspektakel bietet mir nun Gott sei Dank eine passable Ausrede, das auf später zu verschieben. Wie gebannt sitze ich vor dem Fenster, beide Hände um eine schöne Tasse Tee verschränkt, und starre die kleinen weißen Flocken an, die elegant zu Boden sinken. Schnee!

      Gibt es einen besseren Grund, um alles stehen und liegen zu lassen? Ich kann mir keinen vorstellen. Ich nehme einen Schluck von meinem köstlichen Heißgetränk und kuschele mich noch tiefer in meine übergroße Strickjacke.

      Den Tee darf man sich als Level 3 zumindest selbst aussuchen. Natürlich nicht die genaue Sorte, aber zumindest die Geschmacksrichtung darf man angeben und meistens wird dies dann auch berücksichtigt.

      Vor 2 Jahren hatte mich ein „bedauerlicher Vorfall“, den ich am liebsten aus meinem Gedächtnis löschen würde, kurzzeitig auf Level 4 zurückgeworfen. In dieser Zeit durfte ich die Bekanntschaft einiger äußerst spannender Tee-Kreationen machen. Vanille-Pudding-Plunder war hier nur eine unter vielen fragwürdigen Innovationen. Aber diese Erfahrung war definitiv eine große Motivation, sich an die Regeln zu halten. Auf jeden Fall deutlich motivierender als die Ermahnungen diverser Beamter, die ganz tief in ihren Farbkasten der 100 verschiedenen Schwarztöne gegriffen hatten, um mir eine möglichst triste Version meiner Zukunft auszumalen. Bei dem Gedanken an diese wundervollen Sitzungen kann ich ein sarkastisches Lächeln nicht unterdrücken.

      Aber das ist lange her und jetzt habe ich zumindest die Möglichkeit, es mir an kalten Winternachmittagen in meiner Wohnung gemütlich zu machen und einen Tee zu trinken, der mir nicht entgegen schreit: „Trink mich! Ich bin ein verwunschenes Stück Kuchen!“.

      Mein Blick streift über das Klavier. Ein seltener Luxus, den ich mir hart erkämpft habe. Natürlich unter der Voraussetzung, dass ich mich strengstens an die geltenden Vorschriften zum Besitz eines Musikinstrumentes halte. Aber vielleicht könnte ich ja nur ganz kurz und ganz leise... Meine Nachbarn würden mich sicher nicht verraten und eine Kontrolle um diese Zeit ist äußerst unwahrscheinlich.

      Ich fasse mir also ein Herz, stelle meinen Tee ab und setze mich auf den alten Klavierhocker, bei dessen Anblick mich jedes Mal ein schlechtes Gewissen überkommt, weil ich den abgewetzten roten Samtbezug immer noch nicht habe erneuern lassen. Meine Finger finden die Tasten wie von selbst und ich lasse mich von ihnen mitreißen und fliehe in meine eigene kleine Welt aus Melodie. „...I say love, it is a flower...“

      Ich breche abrupt ab, als jemand wütend gegen meine Wohnungstür hämmert. Starr vor Schreck sitze ich da und sehe zur Tür, die unter den Schlägen erzittert. „Öffnen Sie die Tür! Auf der Stelle!“, meldet sich nun auch eine befehlsgewohnte Stimme dazu.

      Mit schlotternden Knien stehe ich auf und schaffe es irgendwie aufrecht zur Tür zu gelangen und meine zitternden Hände dazu zu bewegen, diese zu öffnen.

      Vor mir türmt sich ein uniformierter Berg von einem Mann auf und schaut von oben auf mich herab, als wollte