Irene Euler

Die Glasbrecherin


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den Sinn der Worte, noch konnte sie ihren Blick auf die vagen Formen konzentrieren, die vor ihrer Nase waberten. Hilflos driftete sie zurück in die Dunkelheit.

      Wiralin rollte entnervt mit den Augen, als die Glasbrecherin schlaff in seinem Griff hing. Am liebsten hätte er sie wie ein Kaninchen geschüttelt. Warum in aller Welt rief sie denn nicht, wenn sie nicht mehr auf die Beine kam? Die Fensterscheiben des Wagens waren schon lange außer Gefahr. Wiralin hatte gute vierhundert Ellen zurückgehen müssen, um die verschwundene Glasbrecherin wiederzufinden. Es war schlimm genug, dass sie weniger Ausdauer hatte als ein Kleinkind. Was sollte er nun davon halten, dass sie sogar zu dumm dafür war, um Hilfe zu rufen? Oder spielte sie nur Theater und hielt einen stummen Auftritt für besonders dramatisch? Das war die einzig einleuchtende Erklärung. Niemand würde sich einfach so, ohne einen Mucks, in den Schnee fallen lassen. Wenn eines an den Glasbrechern kräftig war, dann wohl ihre Stimme. Selbst der leiseste Hilferuf eines Glasbrechers musste durch Mark und Bein gehen – sogar in diesem Schnee, der alle Geräusche dämpfte. Wiralin stand knapp davor, seinen Griff zu lösen und die Glasbrecherin wieder in den Schnee fallen zu lassen. Bestimmt würde sie die Rolle der Erschöpften dann sofort aufgeben und brav weiterwandern. Er versicherte sich, dass der Schnee dick genug war, um ihren Aufprall zu dämpfen. Dabei fiel sein Blick auf die Füße der Glasbrecherin. Nur ihre Zehenspitzen berührten den Boden. Er hielt ihr ganzes Gewicht mit einer Hand. Ohne große Mühe. Trotz ihrer triefenden Kleidung. Sofort verlor Wiralin die Lust dazu, dieser kläglichen Gestalt zu beweisen, dass er ihr Schauspiel durchschaute. Dieses Leichtgewicht würde den Maultieren keine Probleme machen. Nicht einmal bei diesem Wetter. Wiralin schwang sich die Glasbrecherin wie einen Mehlsack über die Schulter und machte sich daran, Uto einzuholen. Erst als er das schlaffe Bündel in den Wagen bugsierte, begann Wiralin daran zu zweifeln, dass die Glasbrecherin ihre Bewusstlosigkeit nur vortäuschte. Obwohl ihr Kopf hart an der Wand des Wagens anschlug, blieb sie völlig reglos. Unversehens wuchs Wiralins Missmut noch mehr. Er war ein Soldat und kein Kindermädchen für eines dieser lebensunfähigen Wesen aus Mooresruh! Ohne große Rücksicht schälte Wiralin die Glasbrecherin aus ihrer nassen Kutte und wickelte sie in eine der Decken, die unter der hinteren Sitzbank aufbewahrt wurden. Eine weitere Decke stopfte er so um die Glasbrecherin herum, dass sie in dem rüttelnden Wagen nicht vom Sitz kippen würde. Nur noch eineinhalb Tage bis Glynwerk! Er konnte es nicht mehr erwarten, wieder in sein normales Leben zurückzukehren.

      Mit grimmiger Genugtuung begrüßte Wiralin den ersten Ausblick auf Glynwerk. Die Festung thronte über dem einzigen Pass in jenem Gebirgsausläufer, der den Glynwald in zwei Teile schnitt. Hier bereitete das Heer sich auf den nächsten Feldzug vor. Hier wartete Ulante auf ihn. Hier war er zu Hause. Sowie er seine Bürde abgeliefert hatte, konnte er die Reise nach Mooresruh vergessen und sein Kommando als Oberster Bogen wieder übernehmen. Wiralin streifte die Glasbrecherin mit einem kritischen Blick. Sie lehnte in der Wagenecke, völlig zusammengesunken. Nur ihre hastigen, abgehackten Atemzüge verrieten, dass sie noch lebte. Sogar der ungedämpfte Husten, der mehrere Sprünge in die Fensterscheiben gerissen hatte, war verklungen. Nach dem Fußmarsch durch den Schnee hatte Wiralin eine Magd im Gasthof damit beauftragt, sich um die Glasbrecherin zu kümmern. Am Arm dieser Magd war sie morgens zum Wagen gekommen – etwas benommen, aber auf ihren eigenen Beinen. In Wiralins Auge hatte die Glasbrecherin sogar gesünder ausgesehen als zuvor. Doch die Röte in ihrem Gesicht war von einem Fieber gekommen, das immer höher gestiegen war. Eigentlich hätte er die Reise unterbrechen müssen. Aber inzwischen waren sie tief im Glynwald gewesen. Dort gab es keine Gasthöfe mehr – nicht einmal Dörfer. Das letzte Dorf war genauso weit hinter ihnen gelegen wie Glynwerk vor ihnen. Also hatten sie ihr letztes Nachtquartier plangemäß in einer Hütte aufgeschlagen, die den Boten des Linländer Heers auf ihren Reisen als Unterschlupf diente. Die Hütte war klein, kalt und unkomfortabel. Strohsäcke auf den Holzpritschen gab es ebenso wenig wie Nahrungsmittelvorräte oder Kräuter für einen heilsamen Tee. Wiralin hatte nur mehr eines für die Glasbrecherin tun können, die kaum noch bei sich gewesen war: So früh wie möglich nach Glynwerk aufzubrechen.

      Wie erlöst sprang Wiralin im Hof der Festung aus dem Wagen. Statt nach einer Trage zu rufen, legte er sich die Glasbrecherin wieder über die Schulter. Auf diese Weise würde er sie am schnellsten ins Krankenquartier bekommen. Um die neugierigen Blicke der Soldaten brauchte er sich nicht zu kümmern. Niemand würde es wagen, den Obersten Bogen anzusprechen. Ohne ein Wort betrat Wiralin den Behandlungsraum des Krankenquartiers und legte die Glasbrecherin auf einer hohen Pritsche ab. Oredion verfolgte die Szene erst mit Verwirrung, dann mit Entsetzen. Rasch eilte er an die Seite der Glasbrecherin. Eine Hand legte er über ihre Stirn, mit der anderen fühlte er ihren Puls.

      „Bei Lin und all seinen Kindern, Wiralin – sie glüht ja vor Fieber! Außerdem ist sie nichts als Haut und Knochen!“ Anklagend hielt Oredion die magere Hand hoch, die schlaff zwischen seinen Fingern hing. „Wolltest du sie eigentlich lebend hierher bringen?“

      „Sie ist eine Glasbrecherin,“ erinnerte Wiralin ihn kühl. „Was ich will oder nicht will, spielt also keine Rolle. Ein Glasbrecher sollte nirgendwo hingebracht werden. Er sollte in Mooresruh bleiben. Die Glasbrecher sind zu schwach für ein normales Leben – sie sind krank. Du wolltest es ja nicht glauben. Jetzt kannst du mit eigenen Augen sehen, dass alles, was über diese elenden Gestalten gesagt wird, wahr ist. Aber immerhin hältst du dich für einen guten Arzt. Das kannst du jetzt beweisen.“

      Oredion runzelte nur die Stirn, während sein bedächtiger Blick sich auf die Glasbrecherin heftete. Gleich darauf ging er zu seinem Medizinschrank, um einige Fläschchen und Beutel herauszunehmen. Wiralin wandte sich verächtlich ab. Seine Hand lag bereits auf dem Türgriff, als die betont beiläufige Stimme des Arztes ihn einholte:

      „Zum Glück kenne ich dich als einen Mann, der sich immer gut um seine Soldaten kümmert. Sonst könnte ich vielleicht auf den Verdacht kommen, dass du die Glasbrecherin mit Absicht nachlässig behandelt hast – damit du beweisen kannst, dass es keine gute Idee war, einen Glasbrecher zum Heer zu holen...“

      Wiralin fuhr herum. Oredion stand immer noch am Medizinschrank, mit dem Rücken zur Zimmertür.

      „Schau mich gefälligst an, wenn du mir solche Dinge unterstellst! Und behaupte bloß nicht, es sei keine Unterstellung gewesen! Ich kenne deine Art! Du bist nur zu feig, um deinen Verdacht deutlich auszusprechen!“

      Unerträglich langsam drehte Oredion sich um. Er verschränkte seine Arme vor der Brust und versuchte, mit einem starren Blick Entschlossenheit auszustrahlen. Doch die hochgezogenen Schultern verrieten, wie viel Überwindung es ihn kostete, Wiralin anzusehen.

      „In Ordnung.“ Oredions Stimme zitterte leicht. „Wenn du es so willst, frage ich dich direkt: Hast du die Glasbrecherin mit Absicht nachlässig behandelt?“

      Wiralin musterte Oredion für eine lange Weile eisig.

      „Nein, ich habe sie nicht mit Absicht nachlässig behandelt. Aber ich habe sie auch nicht anders behandelt als einen meiner Soldaten. Sie ist nach Glynwerk geholt worden, um dem Heer zu dienen. Das macht nur Sinn, wenn sie das Leben im Heer durchsteht - falls es überhaupt irgendeinen Sinn machen kann.“

      „Sie ist kein Soldat, Wiralin!“ Diesmal zitterte Oredions Stimme vor unterdrücktem Ärger. „Sie ist nicht einmal eine Rekrutin, die zur Soldatin ausgebildet werden soll!“

      „Dann hat sie hier auch nichts zu suchen!“

      Mit knallenden Stiefelabsätzen verließ Wiralin das Krankenquartier. Sein Groll auf Oredion begleitete ihn auf dem ganzen Weg vom Krankenquartier zur Generalskanzlei. Dieser rückgratlose Feigling sollte sich davor hüten, sich mit ihm anzulegen! Wenn er glaubte, dass er einen Glasbrecher unversehrt von Mooresruh nach Glynwerk bringen konnte, stand es ihm frei, es zu versuchen! Bis dahin sollte er den Mund halten und seine Arbeit tun – wenn er zumindest dazu fähig war. Wiralin ertappte sich dabei, wie seine Finger über die Narbe in seinem Gesicht glitten. Verdrossen stieß er seine Hand in die Hosentasche. Dieses Tasten nach seiner Narbe wurde zu einer schlechten Angewohnheit. Er durfte sich von dieser Entstellung nicht beherrschen lassen. Sicher war nur die Untätigkeit daran schuld. Wenn er erst wieder das Kommando über die Bogenschützen hätte, würde er seine Hände für etwas anderes brauchen als für sein Gesicht. Direkt vor der Generalskanzlei kam ihm Ulante entgegen, im Brustpanzer