damit hatte Miranda recht. Lyra wickelte sich gerade einen Fetzen des weißen Stoffes um ihre Hüfte, als ihr ein Gedanke durchs Hirn jagte. »Hey, Miranda?«
»Ja?«
»Worin habe ich mich nun eigentlich verwandelt?«
Verblüfft hob ihre Tante den Blick und kam nun auf sie zu. »Wie? Das weißt du nicht? Großer Gott, ist das zu fassen? Ich hätte schwören können, dass dein Instinkt dir das sagt. Wir Katzen sind doch von Natur aus viel schlauer als Hunde oder eben Wölfe.«
Miranda beugte sich nach vorn und schüttelte ihre rote Lockenmähne aus. Ein paar Blätter fielen aus ihrem Haar. Dann schleuderte sie den Kopf nach hinten. Sie sah einfach fantastisch aus. Nichts deutete darauf hin, dass sie die Nacht im Freien verbracht hatte. Als sie in die fragenden Augen ihrer Nichte sah, antwortete sie: »Ein Luchs. Süße, du nimmst die Gestalt eines Luchses an. Und was soll ich sagen? Du bist wunderschön. Katze eben.« Ein stolzes Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie Lyra in ihre Arme zog. »Du bist ein stattliches Luchs-Mädchen. Die Frage ist nur: Was werden die Wölfe dazu sagen?«
Der Alpha
Lyra schob ihre Tante entgeistert von sich. »Meinst du, da gibt es Schwierigkeiten? Ich meine, Hund und Katze sind nicht wirklich Freunde, oder? Scheiße!«
Miranda half Lyra, nun auch ihre Brüste mit den Resten ihres Hemdes zu verdecken. Geschickt knotete sie die jeweiligen Enden zusammen, sodass es aussah, als würde Lyra ein knappes Neckholdertop tragen. Dann strich sie ihr liebevoll durchs Haar. »Das wird sich alles zeigen. Doch werden wir es nicht herausfinden, wenn wir hier länger herumstehen. Außerdem habe ich einen Bärenhunger. Zeit fürs Frühstück, mein magisches Kätzchen!«
Hand in Hand schlenderten die beiden zurück ins Dorf. Die Wölfe würden sicherlich voller Spannung ihre Ankunft erwarten. Wie sie mit der neuen Situation umgingen, würde sich wohl gleich zeigen. Moira hatte sicherlich schon ausführlich berichtet, was die Sache nicht unbedingt besser machte.
* * *
Eine große Krähe schwebte über dem Dorf, als die beiden Frauen den Wohnsitz des Clans erreichten. Der Vogel kreiste einige Runden über den Dächern der Cottages und ließ sich lautlos auf einem davon nieder. Als Lyra hier ankam, war sie fasziniert gewesen von den historischen Bauten mit ihren wilden Vorgärten und der rauen See direkt dahinter. Während die Häuser von außen unscheinbar und ursprünglich wirkten, waren sie im Innern jedoch modern eingerichtet. Eine Mischung aus Althergebrachtem und der Praxis der Moderne war etwas, das für Lyra neu war. Aber sie fand es hinreißend.
Nicht annähernd so hinreißend war der Gesichtsausdruck des Alphas. Er stand in der offenen Küche seines Cottages und wartete offenbar auf sie. Lyra war davon ausgegangen, dass der gesamte Clan sie empfangen würde, aber hier stand nur sein Oberhaupt an einem grob gehauenen Eichentisch, an dem höchstwahrscheinlich mehrere Generationen seiner Familie ihr morgendliches Porridge gegessen hatten.
Lyra verharrte nervös im Eingang des Hauses und wartete darauf, dass der Clanführer etwas zu ihr sagte. Stattdessen hörte sie nur eine Krähe, die sich gerade auf der Terrasse niederließ, auf die man durch eine Glasfront schauen konnte. Der Alpha beobachtete die Krähe. Oder war es umgekehrt?
Minuten verstrichen. Doch dann, als würde er einem Impuls folgen, drehte sich der Alpha zu Lyra um, die immer noch auf der Eingangsschwelle ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat. Hinter ihr spürte sie die Nervosität ihrer Tante, welche nicht unbedingt dabei half, die nötige Ruhe aufzubringen. Dann endlich erlöste sie der Alpha und machte eine einladende Geste. Als auch Miranda in den Raum treten wollte, hob er die Hand. »Bitte, Miranda! Ich weiß deine Anwesenheit sehr zu schätzen, aber dieses Gespräch möchte ich mit deiner Nichte allein führen. Wäre dir das recht?«
Miranda stutzte, konnte aber der imposanten Erscheinung des Alphas kaum etwas entgegensetzen. Dass er einer der wenigen Wesen war, die Miranda überhaupt respektierte, wusste Lyra. Nicht aber, dass ihre Tante tatsächlich dazu fähig war, ohne einen ihrer üblichen Sprüche das Feld zu räumen. Wortlos drehte diese sich um und verließ das Cottage. Auch das machte die Sache irgendwie nicht besser. Mit einem dicken Kloß im Hals ließ sich Lyra an dem Eichentisch nieder und schob ein paar grüne Kissen beiseite, die auf der ebenfalls uralt wirkenden Holzbank sorgfältig drapiert waren. Sie brauchte Platz und …
Als hätte der Alpha ihre Gedanken erraten, öffnete er die Tür zur Terrasse. Keine Sekunde später stand die Beanna an der Stelle, wo eben noch die Krähe gesessen hatte.
Also ist es wahr. Wow!
Lyra machte große Augen und verfolgte, wie die beiden magischen Wesen sich ebenfalls an den Tisch setzten.
»Beanna hat mir berichtet, was vorgefallen ist.«
Lyra wollte gerade ansetzen, sich zu verteidigen, doch der Alpha hob seine große Hand, die selbst im menschlichen Zustand etwas von einer Pranke hatte.
»Ganz ruhig, Lyra! Wir werden versuchen, die neue Situation so gut wie möglich in den Griff zu bekommen. Gib uns nur etwas Zeit. Es ist schwierig, aber nicht unlösbar.«
Der Alpha war eine respektvolle Erscheinung, Lyra fürchtete sich ein wenig vor ihm, auch wenn er stets freundlich zu ihr gewesen war. Und auch die Beanna stand ihm in puncto natürlicher Dominanz in nichts nach. Deshalb rutschte Lyra etwas tiefer in die Bank, so weit dies überhaupt möglich war, und übte sich in Geduld.
Die beiden Alten schauten sich lange an und schienen wortlos zu kommunizieren. Lyra beobachtete die beiden und fühlte sich fehl am Platz. Nervös zupfte sie an ihrer provisorischen Kleidung. Der Alpha schaute zu ihr hinüber, und sie glaubte schon, dass er sie ausschimpfen würde, weil sie nicht stillsaß. Stattdessen lächelte er väterlich und sagte: »Oh, bitte verzeih! Ich hatte ganz vergessen, dir zu sagen, dass im Badezimmer frische Kleidung auf dich wartet.« Er hob die Hand und deutete zu einer gusseisernen Wendeltreppe, die ins Obergeschoss führte. »Lass dir ruhig Zeit, um ausgiebig zu duschen und dich anzukleiden. Wenn du fertig bist, sind wir es gewiss ebenfalls.«
Erleichtert atmete Lyra auf, erhob sich und schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinauf. Im Badezimmer fummelte sie sich die Fetzen vom Leib und stellte sich unter den heißen Strahl der Dusche. Die Hitze tat gut, obwohl es Mitte Juli und für Irland außergewöhnlich sommerlich war. Als sie den Wasserhahn abstellte, hörte sie unter sich leises Murmeln. Anders als ihre Eltern wusste der Alpha und auch die Beanna natürlich, dass Lyra über ein außerordentliches Gehör verfügte. Und wie auf Kommando verstummte das Gemurmel in der Küche.
Enttäuscht sprang Lyra aus der Dusche und rubbelte sich die Haut trocken. Dann wischte sie mit dem Handtuch über den beschlagenen Spiegel und inspizierte ihr Gesicht. Doch da war nichts. Alles wie immer. Keine Spuren der Verwandlung. Keine neuen Anzeichen wofür auch immer. Mit einem Schulterzucken wandte sie sich von ihrem Spiegelbild ab und zog sich Shorts und T-Shirt über, die jemand auf dem Wäschekorb für sie bereitgelegt hatte. Dann lauschte sie in die Stille. Nervös knabberte sie am Nagel ihres Zeigefingers. Sie war nicht sicher, ob die beiden im Untergeschoss schon fertig waren und eine Lösung für ihr Dilemma gefunden hatten. Eine Katze unter lauter Wölfen war nicht unbedingt die optimale Voraussetzung für Ruhe und Frieden im Clan.
Furcht machte sich in ihrem Innern breit. Was ist, wenn sie mich verstoßen? Wo soll ich denn bloß hin? Und was ist mit Ian?
Der Kloß in ihrem Hals meldete sich zurück. Die ersten Tränen stiegen Lyra in die Augen. Was war nur falsch mit ihr? Unter den Menschen konnte sie nicht leben. Die Hertzbergs wollten sicherlich nichts mehr von ihr wissen oder würden sie ein weiteres Mal in die Klapsmühle sperren. Und ihre Mutter? Wäre Miriam so stark, mit ihrer nicht ganz normalen Tochter irgendwo neu anzufangen? Vielleicht mit der magischen Unterstützung von Miranda? Doch Lyras Mutter hatte achtzehn Jahre lang versucht, der magischen Welt zu entkommen – warum sollte das jetzt anders sein?
»Lyra, du kannst jetzt herunterkommen.« Ihre Augenbrauen zuckten