Andreas Milanowski

Sinja und der siebenfache Sonnenkreis


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Dummerchen. Das hätte ich aber auch wissen müssen. Der wurde aber nicht umgebracht, oder? Der lebt doch noch?“

      „Nein!“, antwortete der Mann, schnaufte tief und musterte sein Gegenüber abschätzig. „Der ist achtzehnhundertdreiundachtzig gestorben! An Herzversagen!“

      „Was?“, rief die Dicke viel zu laut, „der ist auch tot? Und schon so lange?!“

      Vernichtende Blicke der Umstehenden richteten sich auf das Trio. Die drei ließen sich davon jedoch in keiner Weise beeindrucken.

      „Man kriegt ja überhaupt nichts mehr mit!“, krähte die Dicke weiter, „wie gut, dass ich die Dauerkarte von meinem Seligen geerbt habe. Da kann ich meinen Klatsch wenigstens einmal im Monat auf den neuesten Stand bringen! Der Herr Wagner, auch schon von uns gegangen, ts, ts, ts, sowas! Der Arme. Aber der `Fliegende Holländer´ wird doch trotzdem gespielt, oder?“

      „So steht es hier“, gackerte die Hagere und zeigte auf den Prospekt. „Januar – Mozart. Februar – Wagner. März – Beethoven!“

      „Jetzt muss ich aber weg hier“, sagte Sinja, „sonst platz ich. Schüler-Abo zum Opern hören ist ja schön, aber die Leute sind leider komplett nervig. Nichts wie raus hier! Komm schnell!“

      Sie zog Pauline am Ärmel Richtung Ausgang - viel zu heftig. Die rempelte im Vorbeirennen einen

      Mann in dunkelgrauem Anzug an, der ihr um ein Haar ein Glas Wein übergekippt hätte. Pauline wich soeben noch geschickt aus und zischte im Weiterstolpern ein tonloses `Schulligung´ durch ihre zusammengepressten Zähne. Als sie das Gebäude durch den Haupteingang verlassen wollten, nahm Sinja aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr, die dort nicht hingehörte. Nicht in den Eingangsbereich eines Opernhauses. Nicht an diesem kühlen Januarabend. Nicht in diese Dunkelheit. Etwas war falsch. Dieses Flattern war verkehrt. Es gehörte hier einfach nicht hin. Sinja drehte sich um, wollte nachsehen, was da war. Doch da war nichts. Jedenfalls jetzt nicht mehr! Sie kam ins Grübeln.

      „Das kann doch nicht…, das ist doch nicht…nein, das kann nicht sein….unmöglich….oder?“ Sie versuchte, den Gedanken aus ihrem Kopf herauszuschütteln.

      „Was ist los?“, fragte Pauline, die Sinjas seltsame Verrenkung bemerkt hatte.

      „Nichts!“, antwortete Sinja zögerlich, „ich dachte nur…!“

      „Was?“

      „Ich dachte, ich hätte etwas gesehen“, sagte Sinja, „etwas Seltsames…etwas, dass mich an etwas erinnert!“

      „Ah ja! Du weißt aber schon, dass sich das jetzt gerade ziemlich bescheuert angehört hat, oder? Ungefähr so, wie die Alte mit dem Mozart eben!“

      „Oh Mann“, sagte Sinja genervt. Sie wusste, dass ihre Freundin keine Ruhe geben würde, ehe sie nicht den Grund für ihre Verwirrung erfahren hätte.

      „Ich dachte, ich hätte einen Glissando gesehen!“

      „Einen was? Ein Glissando? Sowas kann man nicht sehen, höchstens hören! Ich kenn´ das vom Klavierspielen. Das ist, wenn man so rauf und runter rutscht.“

      „Ja, ist ja gut! Das kenne ich auch, von der Geige. Aber ich meine etwas Anderes.“

      „Und das wäre?“, fragte Pauline. Ihre Ohren schienen vor lauter Neugier groß zu werden wie Salatblätter.

      „Einen Glissando benutzen die Elfen in Dorémisien als Botenvogel. Hatte ich dir, glaube ich, mal erzählt“, antwortete Sinja, etwas verlegen.

      „Oh je! Sinjas Märchenstunde! Ist das wieder eine deiner Fantasy-Geschichten? Dann bin ich

      direkt raus. Ich hab´ nämlich heute schon genug Märchen gehabt. Drei Stunden Mozart reichen mir.“

      „Ich sagte, ich dachte…!“, knurrte Sinja beleidigt. „Du bist vielleicht `ne Freundin! Glaubst du mir etwa nicht?“

      3 (2/2)

      Pauline verdrehte die Augen. „Und woran bitte erkenne ich so ein Wundertier? Vielleicht kann ich dir ja beim Suchen helfen!“ Sie fror und wollte nach Hause. Ganz sicher hatte sie keine Lust, jetzt nach einem Botenvogel aus Dorémisien zu suchen, was auch immer das sein sollte.

      „Sie sehen aus wie Spatzen“, beschrieb Sinja. „Kleine, graubraune Vögelchen. Nur flattern sie viel schneller, ungefähr so, wie ein Kolibri…und sie haben meistens ein kleines Röhrchen am rechten Bein. Damit überbringen sie Nachrichten. Daran kannst du sie gut erkennen, ein kleines, weißes Röhrchen. Manchmal, wenn es schnell gehen muss oder kein Röhrchen zur Hand ist, kriegen sie auch einfach nur einen Zettel ans Bein gebunden.“

      „Sinja“, sagte Pauline „irgendwie habe ich gerade den Verdacht, dass du mir was ans Bein binden willst. Das ist eine ziemlich merkwürdige Geschichte, findest du nicht?“ Sie dachte nach. „Gut! Wir gucken also jetzt, hier in der Dunkelheit, in der Eiseskälte, vor dem Eingang des Opernhauses, nach einem klitzekleinen graubraunen Vogel, den man wahrscheinlich schon tagsüber kaum sieht, der total schnell flattert und ein Röhrchen oder einen Zettel an der Backe hat?“

      „Am Bein!“

      „Ist ja gut! Dann eben am Bein! Und wenn wir ihn sehen, gucken wir böse, sagen Halt! Glissando! Keinen Schritt weiter! Dann nehmen wir ihn gefangen, foltern ihn und quetschen die Botschaft aus ihm heraus, die er uns bringt, beziehungsweise dir, weil…ich bin ja raus. Du weißt schon – wegen der Märchen. Wie gut, dass der Platz hier wenigstens beleuchtet ist. Sag mal, Sinja Wagemut…bist du sicher, dass nicht bei dir gerade was flattert?“

      „Ja, absolut sicher! Warum nimmst du mich nicht ernst? Da war etwas, was nicht in diese Welt gehört und so, wie es aussah, vermute ich, dass es ein Glissando war. Warum ist das so schwer zu verstehen?“

      „Weil ich nicht mehr ans Christkind glaube, verdammt noch mal!“ Pauline wurde unwirsch. „Ich weiß, wer die Geschenke unter den Baum legt!“

      „Siehst du…und ich weiß, dass es Dorémisien gibt! Ich bin dort schon gewesen. In Königin Myrianas Reich. Und das hat mit dem Christkind aber sowas von gar nichts zu tun.“

      „Und da willst du jetzt unbedingt wieder hin?“, fragte Pauline, immer noch ungläubig. Normalerweise war sie die Ruhigere der beiden Mädchen. Die, die sich alles anhörte, sich ihre Gedanken machte und lieber nichts sagte, als etwas Falsches. Aber das hier….das nervte sie doch gewaltig. Sinja immer, mit ihren Geschichten. Manchmal war ihre Freundin verdammt anstrengend.

      „Das weiß ich noch nicht“, antwortete die. „Wenn das, was ich gesehen habe, wirklich ein Glissando war, dann bedeutet das, dass sie Kontakt suchen. Dann muss ich rauskriegen, was sie von mir wollen.“

      „Aha, sie wollen Kontakt? Du glaubst das wirklich, was du da erzählst, nicht wahr?“

      „Ja, natürlich! Du nicht?“ Sinja lächelte Pauline verschämt von der Seite an.

      „Und wer will Kontakt mit dir aufnehmen?“

      „Ich nehme an, die Elfen. Emelda, Amandra, Gamanziel. Vielleicht auch einer der Jungs. Ich weiß es nicht. Das muss ich herausfinden.“

      „Und wie willst du das anstellen?“, fragte Pauline.

      „Der Vogel“, antwortete Sinja, „ich muss wissen, ob er eine Nachricht für mich hat.“

      „Wird schwierig“, bemerkte Pauline, „hier ist nichts mehr!“

      „Ja, er ist weg. Wahrscheinlich haben wir ihn mit unserem Geschwätz vertrieben.“

      4 Flöte und Bogen

      Einige frühe Sonnenstrahlen brachen durch das bunte Blätterdach und tauchten die kleine Waldlichtung in freundliches Morgenlicht. Wie ein warmer Wind wehte eine Flötenmelodie um die seltsamen Gewächse herum, die die Lichtung umstanden. Der Klang der Flöte verband sich mit dem Zwitschern eines Vogels in den