Impressum
Texte: 2020© Copyright by Sandra Mularczyk
Umschlag: 2020© Copyright by Sandra Mularczyk
Bilder: Copyright by Sandra Mularczyk, Pixabay
Verlag: Sandra Mularczyk Bochum
tiefsinnigesinnenleben.wordpress.com
Druck: 2020 epubli - ein Service der neopubli GmbH,Berlin
Vorwort
Seit 10 Jahren bin ich beruflich im Bereich Autismus tätig. Damals-ich erinnere mich noch, als sei es gestern-wusste ich nichts von dem Thema Autismus. Nie gesehen, nie gehört. Ich wusste, dass es Menschen gibt, die anders sind, Menschen, die besonders sind, Menschen, die auf besondere Art und Weise auffallen. Menschen, die eben-nun ja-besondere Einschränkungen mitbringen. Defizite. Behinderungen. Ich lernte auch, dass es dafür einen Oberbegriff gibt: Geistige Behinderung.
Menschen, die nicht "normal" funktionieren
Menschen mit einer geistigen Behinderung können etwas Bestimmtes nicht, etwas, was die meisten Menschen können. Etwas, was als selbstverständlich angesehen wird. Etwas, was zur normalen Funktion des Menschen dazu zu gehören scheint. Etwas, das sie im alltäglichen Leben be-hindert, deswegen auch der Begriff Behinderung. Nun, auch darüber wusste ich nichts. Bis zu diesem Zeitpunkt kannte ich nur offensichtliche Behinderungen. Behinderungen, die sichtbar sind. So genannte äußere Behinderungen. Geistige Behinderungen kannte ich nur aus der Theorie, wobei sogar das zu viel gesagt wäre. Ich kannte sie vom "Hören Sagen"...
Menschen, die "anders" sind
Zum damaligen Zeitpunkt wusste ich eigentlich nur, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung anders sind. Aber ich war doch auch schon immer anders? Na ja, egal, dachte ich mir. Ich komme schließlich gut mit dem Leben klar, ich bin intelligent und stehe nicht sabbernd in irgendeiner Ecke herum. Ja, als geistig behindert galten umgangssprachlich oft die Menschen, die geistig völlig zurück geblieben sind, die normale Fähigkeiten, wie sprechen, schreiben, etc. nicht entwickelt haben oder gar nicht erst entwickeln können. Geistig behindert wurde vielleicht nicht gleichgesetzt mit dumm, aber fast immer mit mangelnder Intelligenz, mangelnder Kompetenz, mangelnder Selbstständigkeit. Nun, also ich war intelligent und immer äußerst selbstständig. Natürlich hatte ich auch meine Schwächen, aber wer hat denn keine? Also, ich hatte definitiv viele Stärken und Fähigkeiten, während bei Menschen mit geistiger Behinderung die Defizite wohl im Vordergrund standen. Nun, ich wusste wirklich nicht viel von diesen Themen, aber ich war schon immer anders und ich hatte schon immer einen besonders guten Draht zu Menschen, die anders waren. Nicht nur privat, auch beruflich. Bereits in meinen Praktika in Kindergärten fielen mir die so genannten Sonderlinge besonders auf: Kinder, die ausgegrenzt wurden. Kinder, die als Buhmann und Störenfried bezeichnet wurden. Kinder, denen Absichten unterstellt wurden, die ich nicht sehen konnte. Sie wurden als frech, böse und unartig bezeichnet und statt Lob bekamen sie ständig Kritik und Tadel zu hören.
Unsichtbares sichtbar machen
Ehe ich mich versehen konnte, war ich so etwas wie eine Dolmetscherin geworden. Im Gegensatz zu den Menschen um mich herum, interessierte ich mich nämlich für diese Kinder. Kinder, die niemand zu verstehen schien. Alle verhielten sich so, als sie die Schublade eindeutig. Die Kinder stören und müssen von den anderen Kindern fern gehalten werden. Sie haben einen schlechten Einfluss auf die Anderen. Sie tun anderen Kindern weh-mit Absicht! Wenn das später die Mutter erfährt, gibt es Ärger! Und wenn sich dieses unartige und respektlose Benehmen nicht ändert, muss das Kind eben Zuhause bleiben. STOPP! Das konnte und wollte ich nicht akzeptieren! Das Kind tut dem anderen Kind nicht mit Absicht weh, das weiß ich, das spüre ich. Aber wer bin ich schon, um die Fachkräfte um mich herum zu belehren? Ich mache gerade erst mein Fachabi, die Anderen sind schon fertig ausgebildet. Wenn die Anderen aber sowohl schulisch als auch praktisch mehr Erfahrungen vorweisen können als ich, wie kann es dann sein, dass sie sie etwas so Offensichtliches übersehen? Oder ist es gar nicht so offensichtlich? Kann etwa nur ich "sehen", was in dem Kind vor sich geht, wie sehr es unter dieser Situation leidet, wie es sich übersehen und ungerecht behandelt fühlt? Ja, das Kind beginnt sogar seine Wut gegen sich selbst zu richten, weil niemand versteht, was in ihm vorgeht. Das Kind muss falsch sein, mit ihm muss etwas ganz Gewaltiges nicht stimmen, niemand spielt mit ihm, niemand spricht mit ihm und egal, was es tut, es bekommt immer nur Ärger. Es wäre eine Lüge, wenn ich behaupten würde, dass ich damals entschieden hätte, mich für diese Kinder einzusetzen. Ich habe nichts entschieden, ich hatte keine andere Wahl. Ich konnte sehen, was geschah und was ich noch nicht sehen konnte, wollte ich sehen. Ich konnte etwas sehen, was Andere offenbar nicht sehen konnten, also hatte ich keine andere Wahl, als das Unsichtbare sichtbar zu machen.
Kinder, die nicht verstanden werden
Nanu? Was ist denn da los? Ich wunderte mich, dass niemand diese Kinder verstehen konnte. Sie machen es doch nicht mit Absicht. Sie können es nicht anders. Sie sind doch selbst ratlos und verzweifelt und vor allem: Restlos überfordert. Sie sind überfordert mit der Situation, mit sich selbst, dem Leben. Können Kinder schon vom Leben überfordert sein? Nun, ich für meine Verhältnisse spürte sofort, dass da etwas nicht stimmte. Ich nahm ein riesengroßes Missverständnis im Raum wahr. Das Kind ist nicht böse oder schlecht erzogen, es ist nur anders. Es kann bestimmte Dinge eben nicht so gut wie andere Kinder, aber hey, das ist doch nicht schlimm. Wieso können wir das Kind nicht einfach an die Hand nehmen und ihm zeigen, wie es richtig geht? Wir können doch mit dem Kind sprechen und lernen, seine Welt zu verstehen. Warum tut es das, was es tut? Was will es erreichen? Wieso findet es in dieser Situation keine andere, keine bessere Lösung?
"Ich besuche dich in deiner Welt!"
Ich spürte, dass das Kind in einer anderen Welt lebte. Diese Welt unterschied sich nicht nur von der Welt der Erwachsenen, sie unterschied sich auch von der Welt der anderen Kinder. Zwei verschiedene Welten. Kein Wunder, dass es ständig zu Missverständnissen und Kommunikationsproblemen kommt. Die sprechen doch eine andere Sprache, dachte ich und näherte mich dem Kind. Es war ein Junge, ein kleiner Junge, der völlig irritiert darüber war, dass sich ihm jemand annäherte und das auch noch freiwillig. Nicht, weil er Mal wieder Mist gebaut hatte und ausgeschimpft werden sollte, nein, einfach so. Ich besuchte den Jungen in seiner Welt, einfach so, als sei es das Natürlichste der Welt. Das war es auch: Für mich war es das Natürlichste der Welt. Selbstverständlich. Logisch. Glasklar auf der Hand liegend. Wie soll ich denn sonst erfahren, was mit dem Jungen ist? Dafür muss ich ihn doch kennen lernen, herausfinden, wer er ist, wo er ist.
Falsche Bilder und Vorurteile
Schon immer interessierte ich mich für die Welt, in der ein Mensch lebt, doch noch nie schien es so wichtig wie in dieser Zeit. Plötzlich bemerkte ich, dass dieses brennende Interesse nur bei mir vorhanden war. Die anderen Menschen hatten ihre vorgefertigten Bilder und Meinungen, sie wollten gar nicht dazu lernen. Das war ein Schock für mich. Man muss doch sein eigenes Wissen überprüfen?! Man muss seine eigenen Gedanken doch reflektieren? Man kann doch nicht... oh mein Gott! Die Erkenntnis fühlte sich für mich an wie ein traumatisches Ereignis. Menschen machen sich also Bilder und entsprechend der Bilder bildet sich dann ihr Verhalten heraus? Aber was ist, wenn die Bilder nicht stimmen? Was ist, wenn sie sich irren? Das darf doch nicht wahr sein. Das ist doch gefährlich. In dieser Phase entwickelte sich in mir der Zwang, Bilder zu korrigieren. Ich muss diese Bilder korrigieren, ich muss sie richtig stellen. Ich muss für Gerechtigkeit und Ordnung sorgen. Ich...ich kann nicht aushalten, wie die Menschen sind. Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich diese riesengroße Entfernung zu anderen Menschen. So sind Menschen? Das gilt als normal? Gut, dann bin ich definitiv nicht normal. Wenn das so ist, dann war ich noch nie normal. Plötzlich fühlte ich mich dem Jungen näher als dem Rest der Welt. Ob er wohl auch so schockiert ist wie ich? So hilflos und verzweifelt darüber, dass niemand denkt wie er? Dass niemand fühlt wie er? Ja, mich versteht auch niemand, musste ich plötzlich realisieren. Was mir wichtig