Bernharda May

Barfuß ins Verderben


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nicht erwähnt, von Voss hätte sich in der Stadt ein Fischbrötchen geholt? Wie kam Sandrine darauf, er würde Meerestiere verschmähen?

      »Ursprünglich wollte ich ja ein Wurstgericht für uns zaubern«, plauderte Sandrine weiter, »aber jemand hat unsere Wiener heimlich aufgenascht.«

      Sie bedachte Elfriede mit einem gespielt strengen Blick. Jene zwinkerte schelmisch und steckte sich, statt zu antworten, einen großen Löffel Kabeljau in den Mund.

      »Wie man Würste ausgerechnet kalt essen kann«, fragte sich die junge Köchin. »Sie sind doch dann gar nicht knusprig und noch dazu viel zu trocken!«

      Sie schüttelte sich.

      »Aber was wundere ich mich, hier isst man abends auch bloß einen Gang statt mindestens drei.«

      »Wie man Würste überhaupt essen kann«, fügte Immanuel hinzu und bedachte nun seinerseits Sandrine mit einem strengen Blick, nur dass der nicht gespielt war.

      »Keine Grundsatzdiskussionen über Fleischkonsum am Esstisch«, befahl Elfriede. »Darauf hatten wir uns bereits letzte Woche geeinigt.«

      »Sie haben die Wattenelfriede gehört«, triumphierte Sandrine.

      Herr von Voss blieb die gesamte Zeit still und aß brav seinen Teller leer. Elfriede beobachtete ihn dabei heimlich. Er hatte ein recht sanftes, liebenswertes Gesicht, das sein Alter nicht preisgab. Lediglich die fortgeschrittenen Geheimratsecken und grauen Schläfen verrieten, dass er nicht mehr jung war. Sonderbar erschien ihr jedoch die Eigenart, wie er niemandem für länger als ein paar Sekunden in die Augen schauen konnte. Zudem wirkte er die meiste Zeit angestrengt, wenn nicht sogar gehetzt. Fragte man aber, wie es ihm gehe, antwortete er stets freundlich, alles sei gut und zufriedenstellend.

      »Herr von Voss«, sprach Elfriede ihn nach Sandrines Dîner an, »wollen Sie mit mir hinaus aufs Watt, eine kleine Wanderung in der Abendkühle machen? Der Gezeitentabelle zufolge ist jetzt das richtige Stündchen dafür.«

      »Vielen Dank«, erwiderte ihr Gast. »Ich habe von Ihren geführten Wattwanderungen ausschließlich Gutes gehört, aber ich muss leider ablehnen. Ich, äh, habe in meinem Zimmer zu tun.«

      Er stand von seinem Stuhl auf und wollte gehen. In der Tür machte er jedoch Halt und ergänzte:

      »Vielleicht ein andermal.«

      Dann verschwand er in der Diele. Als er weg war, meinte Immanuel:

      »Ein komischer Kauz ist das. Immer so umständlich.«

      Er machte Elfriede den Vorschlag, sie zu begleiten.

      »Sie müssten allerdings ein Weilchen warten. Ich will schnell meine Kamera holen, um draußen ein paar Fotos zu schießen. Da haben wir sicherlich teilweise die gleiche Strecke.«

      Elfriede schielte zum Fenster. Die Sonne war bereits untergegangen und sie konnte sich nicht vorstellen, wie man im Dämmerlicht gute Fotos schießen könne. Allerdings war sie bereit zu akzeptieren, dass moderne Technik so gut wie alles ermöglichte, und der junge Herr Stuber hatte das neueste Modell eines Fotoapparats dabei.

      »Ich glaube, er trägt irgendein Geheimnis mit sich herum«, sagte Sandrine, in Gedanken immer noch bei Herrn von Voss.

      Man merkte ihr eine mädchenhafte Neugier an.

      »Sie finden ihn interessant?«, bohrte Immanuel nach.

      Sandrine lächelte ihm keck zu.

      »Ältere Männer haben so viel mehr zu bieten als – wie sagt unsere Wattenelfriede immer? – die Jungspunde.«

      Immanuel lachte und beide begannen, den Tisch abzudecken. Elfriede wollte die jungen Leute ungestört lassen und zog sich nach draußen zurück. Vor der Haustür zog sie die Schuhe und Socken aus, stieg die Holztreppe zum Watt hinab und drehte ihre Runde auf dem kühlen, schlammigen Boden. Den Spazierstock gebrauchte sie dabei nicht zum Abstützen, sondern stocherte mit ihm gedankenverloren vor den Füßen herum.

      Die salzige Abendluft tat ihr wohl. Ihre Brust schmerzte nicht mehr und Sandrines schmackhafte Blanquette de la mer lag gut im Magen. Nachdem sie einige Schritte gegangen war, schaute sie auf ihre kleine Pension zurück. Wie sie da im Abendlicht zwischen den anderen Häuschen stand, mit kleinen Holzfenstern und schmalen, steilen Dachschrägen, verstand sie, was die Touristen an dem Haus immer wieder so niedlich und einladend fanden. Nun ja, bald würde es mit alldem vorbei sein. Der Fortschritt ließ sich nicht aufhalten und die modernen Zeiten forderten ihren Tribut.

      Die Tür der Pension öffnete sich und Immanuel Stuber kam heraus. Eine Kamera baumelte an seinem Hals.

      »Die ist nigelnagelneu, wie ich es mir gedacht habe«, murmelte Elfriede und verzog nachdenklich den Mund. »Muss ein Geschenk gewesen sein. Als Student dürfte er ein Ding wie das da nicht aus eigener Tasche bezahlen können.«

      Immanuel näherte sich dem Watt, das er nur vorsichtig betrat.

      »Immer barfuß rumrennen und sich dann vor ein bisschen Schlamm ekeln«, grunzte Elfriede belustigt. »Und das, wo er ausgerechnet Meeresbiologe werden will.«

      Sie beobachtete ihn, wie er hier und da ein paar Fotos machte. Er kam jedoch nicht weiter auf sie zu, sondern blieb auf dem Deich, weil dort das Frankenhorner Stadtpanorama besser zu sehen war. Ihre eigene Strecke führte dagegen stets tief ins Watt, je nachdem, wie es die Ebbe erlaubte.

      Über der Pension blinkten mittlerweile die Sterne auf und ließen die unbeleuchteten Fenster des Obergeschosses noch dunkler wirken, als sie ohnehin waren. Es schien, als ob die dahinter liegenden Zimmer tiefschwarz wären. Wieder kam Elfriede ins Grübeln. Das Zimmer, welches sie Herrn von Voss zugeteilt hatte, war eines von denen, die in Richtung Deich zeigten. Er hatte behauptet, noch arbeiten zu wollen.

      »Aber bei völliger Dunkelheit?«, fragte sie sich leise.

      Im Wattenstieg gingen sonderbare Dinge vor.

      3. Dr. Drozdowski

      Getreu dem Motto, Bewegung an der frischen Luft ist gesund, radelte Rita Drozdowski täglich eine Stunde vor Öffnung ihrer Arztpraxis durch Frankenhorn. Sie hoffte, den Einwohnern des kleinen Städtchens auf diese Weise ein Vorbild zu sein und gleichzeitig ein paar überflüssige Pfunde zu verlieren. Die Tatsache, dass es sich bei ihrem Gefährt um ein E-Bike handelte, ignorierte sie dabei.

      Diesmal hatte sie sich eine Route entlang der Küste ausgesucht und da war es unumgänglich, dass sie die Wattenelfriede auf deren allmorgendlicher Wanderung entdeckte. Mit klarer, gutturaler Stimme rief sie ihr einen Gruß entgegen. Die meisten ihrer Patienten reagierten unterwürfig, sobald sie diese Stimme vernahmen; nicht aber die Wattenelfriede, die war von anderem Schlag. Die hob bloß kurz und behäbig die Hand. Andere Patienten wären auf Frau Drozdowski zugelaufen, um ihr einen Plausch über ihre Wehwehchen aufzudrängen; Elfriede wollte sich jedoch lieber wieder ihrem einsamen Spaziergang widmen. Gerade rechtzeitig streckte die Ärztin ihren Arm, um die alte Frau zu sich zu winken. In diesem Fall bestand der Doktor selbst auf den Plausch.

      »Was gibt’s denn?«, fragte Elfriede schon von Weitem.

      »Die EKG-Werte sind gestern eingetroffen«, antwortete Dr. Drozdowski. »Wo ich Sie hier gerade antreffe, können wir uns den Anruf sparen und gleich persönlich miteinander reden. Die Auswertung lässt keine Rückschlüsse auf chronische Herzschwäche zu.«

      »Das beruhigt mich zwar«, sagte Elfriede, »aber woher kommen denn dann die wiederkehrenden Herzklopfer?«

      »Nun, ich habe zweierlei Hypothesen«, begann Dr. Drozdowski vorsichtig und ahnte bereits, dass keine der beiden der Wattenelfriede gefallen würden.

      In umständliche Worte gekleidet, drückte sie aus, was ganz einfach auf zwei Begriffe zu reduzieren war: Fehlernährung und Überarbeitung.

      »Sandrine vertraute mir an, dass Sie nur schwer auf ein Würstchen zwischendurch verzichten können. Darum wäre es das Beste, Sie würden mir eine Woche lang ihre Speisegewohnheiten aufschreiben«, schlug die Ärztin vor. »Und zusätzlich Ihre Tätigkeiten in Ihrem