Joana Goede

Paranoia


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zurück, weil sie rot leuchtend direkt vor ihm an einer Ampel stand. Einerseits war er froh, sie nicht verloren zu haben, andererseits fiel es ihm schwer, sie im Blick zu behalten, ohne dass sie ihn sah. So blieb er hinter der Ecke stehen, zog sein Handy heraus und tat so, als würde er dort irgendetwas nachsehen. In dieser Haltung ließ er die Ampel auf Grün springen, sie rote Frau die andere Straßenseite erreichen und erst dann hastete er hinterher und schaffte es gerade noch, bevor die Autos wieder Grün hatten.

      Severins Nerven lagen blank. Er atmete schnell und unregelmäßig, sein Herz pochte wahnsinnig laut. Sein Glück war vielleicht, dass viele sich nach der roten Frau umdrehten, sie erstaunt, begeistert oder abgestoßen anstarrten und die Frau selbst die Aufmerksamkeit so von Severin ablenkte. Vielleicht fiel es ihr auch gar nicht auf, wenn er sie ständig ansah. Sie musste diese fremden Blicke ja gewohnt sein.

      Als sie endlich in der Kneipe verschwand, prüfte Severin erschrocken, ob er auch Geld dabei hatte. Zu seiner Beruhigung fühlte er sein Portemonnaie in der Jackentasche und betrat nun ebenfalls die Kneipe.

      Zunächst war es nicht so voll, dass er Schwierigkeiten gehabt hätte, einen guten Beobachtungsposten zu finden. Er bestellte ein Bier, spielte mit seinem Handy und verhielt sich ganz so wie einer, der auf jemanden wartet. Die rote Frau aber brauchte nicht zu warten, sie hatte sich direkt zu einem Mann an den Tisch gesetzt, den sie gut zu kennen schien. Sie selbst mochte um die Dreißig sein, war aber zu stark geschminkt, als dass man es mit Sicherheit hätte sagen können. Severin schätzte es eher anhand des Alters seines Chefs, da er ja noch an diesem Tag den Altersunterschied von 17 Jahren hervorgehoben hatte.

      Der Mann, der bei ihrer Ankunft wohl schon länger an dem Tisch gesessen hatte, was Severin aus seinem beinahe leeren Bierglas schloss, war vermutlich Mitte Dreißig, wirkte lebhaft und hatte ein ausgesprochen schmales Gesicht sowie kurzes, sehr dunkles Haar. Er war sichtlich erfreut über die Ankunft der Roten, erhob sich von seinem Stuhl und gab ihr zur Begrüßung die Hand. Ansonsten war der Umgang der beiden weniger förmlich. Sie nahm lächelnd Platz, er bestellte für sie und sich jeweils ein Bier. Den Rest seines ersten Biers leerte der Mann geradezu hastig in einem Zug. Dann stellte sich eine Art Plauderei ein, von der Severin kein Wort verstand. Die Musik im Hintergrund war zu laut, nerviges E-Gitarren-Gedudel. Der Wirt musste eine Vorliebe dafür haben.

      Severin betrachtete die Rothaarige mit einer solchen Aufmerksamkeit, dass sie seine auf sich ruhenden Augen vielleicht spürte, den Kopf irgendwann umwandte und ihn direkt anblickte. Das war der kurze Schreckmoment, der sich in Severins Wahrnehmung ewig zog. Als sich ihr Blick wieder auf ihren Begleiter richtete und Severin aufatmen konnte, wandte er sich seinem Handy zu und tat so, als sei er vertieft in irgendeine Tätigkeit. Die Kneipe hatte sich immer weiter gefüllt, allerdings blieb die Rothaarige durch ihre Haarpracht gut sichtbar.

      Severin behielt sie im Augenwinkel, bestellte sich ein zweites Bier und bekam leichte Kopfschmerzen von der Lautsträke und der schlechten Kneipenluft. Auch schien Severin das Licht immer schlechter zu werden. Ihm fiel ein, dass er ohne Abendessen und mit zwei Bier nicht direkt wieder Autofahren durfte. So nippte er nur an dem Bier, als Alibi. Mit Alkohol am Steuer war er immer übervorsichtig gewesen. Es mochte daran liegen, dass Severin von sich aus panische Angst hatte, gegen Regeln zu verstoßen. Eigentlich wäre er nach einem Bier an dem Tag nicht mehr gefahren. Aber heute war ein Ausnahmetag, in jeder Hinsicht.

      Einmal richtete er sich kurz auf, um sich einen Überblick zu verschaffen, wie es am beobachteten Tisch genau ausschaute, da sah er gerade noch, wie der kurzhaarige Mann der Rothaarigen etwas über den Tisch zuschob, das sie mit einer raschen Handbewegung ergriff. Severin kniff ungläubig die Augen zusammen, das Licht machte scharfes Sehen jedoch unmöglich. Auch tauchte das, was soeben seinen Besitzer gewechselt hatte, nicht wieder auf. Severin zweifelte bereits an seinem Verstand. Vielleicht war da gar nichts gewesen. Er sank unschlüssig zurück auf seinen Stuhl, stierte nachdenklich hinüber zu der roten Frau und ließ sein Hirn rattern.

      Kurz darauf, nach etwa zwei Stunden, die sie an dem Tisch verbracht hatte, erhob sich die rote Frau. Severin wollte schon aufspringen, aber er sah, dass sie Mantel und Handtasche am Tisch zurückließ. Mit sicherem Schritt ging sie quer durch die Kneipe zu den Toiletten. Der Mann blieb am Tisch zurück. Gelangweilt blickte er auf seine Armbanduhr, die im Kneipenlicht hell aufblitzte, nahm schließlich einen großen Schluck aus seinem Bierglas und lehnte sich mit gespitzten Lippen zurück. Severin wusste nicht, was er aus dieser Haltung schließen sollte. Auch fühlte er sich nicht wohl dabei, die rote Frau nicht verfolgt zu haben. Hin und her gerissen, ob er ihr nachgehen oder lieber den Mann im Auge behalten sollte, saß er untätig da, bis der Mann aufstand, sich vor den Tisch stellte, so dass Severin lediglich seinen Rücken sehen konnte, und anschließend ohne Eile zum Ausgang schritt.

      Severin traute seinen Augen nicht. Unbedacht sprang er auf, schob sich durch die Menschen, die überall grüppchenweise herumsaßen oder standen und schaute letztlich voll Entsetzen auf den leeren Tisch, an dem die Rote mit ihrem Begleiter gesessen hatte. Handtasche und Mantel waren fort, nur Geld lag auf dem Tisch. Fassungslos stand Severin da, unentschlossen, ob er zur Damentoilette laufen oder dem Mann folgen sollte. Er fürchtete, dass er auf der Damentoilette niemanden mehr finden würde.

      Übelkeit stieg in ihm auf sowie das Gefühl, versagt zu haben. Dann aber fasste er doch einen Entschluss, drückte dem Wirt an der Theke Geld in die Hand, ohne zu wissen, wie viel es gewesen war, und rannte dem Mann hinterher. Er glaubte, dieser sei seine einzige Chance, die rote Frau wiederzufinden.

      Die Uhr an der Apotheke gegenüber der Kneipe zeigte 21.27 Uhr, als Severin auf die Straße trat, sich prüfend umsah und gerade noch eine lange Gestalt erblickte, die die Straße hinunterging. Die Gestalt selbst war vollkommen dunkel, allerdings blitzte es für eine Sekunde hell am linken Arm auf. Das bestätigte Severin in seiner Vermutung, es müsse sich um den Gesuchten handeln. Ohne eine weitere Überlegung ging er dem Fremden nach und ließ ihn nicht mehr aus den Augen. Angestrengt suchte er nach einem Anzeichen für den roten Mantel und die rote Handtasche der verschwundenen Frau, aber er konnte nichts dergleichen an dem Mann entdecken. Womöglich hatte er beides weggeworfen oder irgendwie unter seiner Jacke verborgen. Es gab ja mehrere Möglichkeiten. Am unangenehmsten war Severin der Gedanke, der Mann könne die rote Frau draußen wiedergetroffen, ihr Mantel und Tasche übergeben haben, um dann in einer anderen Richtung als sie zu verschwinden. Dann hätte Severin die Frau seines Chefs vielleicht nur um ein paar Sekunden verpasst. Ungehalten biss er sich auf die Unterlippe, während er seinem einzigen Anhaltspunkt folgte.

      Der Mann blickte sich kein einziges Mal um. Er ging sehr gerade und nicht so, als würde er vor etwas oder jemandem fliehen. Eine ganze Weile ging es durch kleine Nebenstraßen. Und Severin fürchtete schon, der Mann könne einfach nur nach Hause gehen. Aber dann wüsste Severin zumindest seinen Namen und seine Adresse. Als er gerade noch im Gehen darüber nachdachte, was der Mann der roten Frau in der Kneipe zugeschoben haben könnte, denn besonders groß konnte der Gegenstand nicht gewesen sein, da blieb der Mann an der Straße stehen, winkte und erst da erblickte Severin das Taxi, das herangefahren kam, neben dem Mann hielt und gleich darauf waren beide fort.

      Severin stand wie vom Donner gerührt einfach da, mitten auf dem Gehweg. Mit aufgerissenen Augen schaute er dem Taxi nach, das sich schon lange nicht mehr in seinem Blickfeld befand. Er hatte jeden Anhaltspunkt für den Verbleib der roten Dame verloren. Enttäuscht und geplagt von einem schlechten Gewissen zermarterte er sich das Hirn, was er noch tun konnte.

      Dann rannte er in einem Anfall von Verzweiflung los, den ganzen Weg zurück, verlief sich, fand die Hauptstraße wieder, erreichte die Kneipe. Denn dies, so sagte er sich, war der einzige Punkt, an dem er ansetzen konnte.

      Seit seinem überstürzten Verlassen der Kneipe war etwas weniger als eine Stunde vergangen.

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