Cristina Zehrfeld

Der unbekannte Herr Carl


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doch gerechterweise bekennen: Das alles war selbstverständlich keine Niedertracht, kein Neid, keine Missgunst und schon gar keine Boshaftigkeit, sondern nur eine längst nötige Relativierung, nachdem Carli doch jahrelang immer nur als größter Organist aller Zeiten gefeiert worden war. Natürlich gab es auch Menschen, welche die Grenzen des guten Geschmacks um einen Hauch überschritten haben. Dazu gehört leider auch die Bratschistin Helgunda Liebreizker. Helgunda hatte schon immer ein besonderes Faible für spirituelle Praktiken gehabt. Sie kannte sich hervorragend auf den Gebieten des satanistischen Gebets, der ekstatischen Meditation, der pharmazeutischen Bewusstseinserweiterung, der parapsychologischen Energieerweckung, der Schwarzen Magie und der religiösen Selbstkasteiung aus. Aus Helgundas Mund kam kein schlechtes Wort über Carli. Dafür verehrte sie ihn zu sehr. Allerdings setzte sie alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel ein, um Carli für die Missetat seiner Republikflucht auf gottgefällige Weise zu strafen. Es waren dies übersinnliche Mittel, welche einen normalen Menschen zweifellos in kürzester Zeit dahingerafft hätten: Helgunda bastelte eine Voodoo-Puppe aus zwei Handvoll Stroh, einem Bündel Bastfasern, einer Rolle Effektzwirn, dem linken Bein eines alten Schlafanzuges, drei Perlmuttknöpfen, einem guten Dutzend Perlen und einem etwas unscharfen Foto von Carli, welches sie bei der letzten Konzerthausfeier aufgenommen hatte. Helgunda hatte die Figur exakt im Maßstab eins zu vier hergestellt und sie in einer Wolke aus Weihrauch auf den Namen „Herr Carl“ getauft. Fünf Wochen lang peinigte Helgunda die Figur. Sie stieß Nadeln durch Hände, Herz und Haupt und murmelte dazu das Vaterunser rückwärts. Sie band, knebelte und kreuzigte den Voodoo-Carli. Sie trennte ihm schließlich das Strohköpfchen und beide Arme und Beine mit einem scharfen Messer ab und verbrannte sämtliche Körperteile im Kamin. Helgunda ist es bis heute ein Rätsel, wie Carli das überlebt hat.

      Schnippel-die-schnappel-die-Scher'

      Im Grunde ist Voodoo eine sehr sichere Methode. Allerdings muss man mit Sorgfalt zu Werke gehen. Mit allergrößter Sorgfalt! Keiner wusste das besser als Herr Carl, der ja schon seit Jahren bestens mit den Möglichkeiten dieser völlig unterschätzen Zauberkunst vertraut war. Überhaupt war es ja Herr Carl gewesen, der Helgunda in die Geheimnisse der Voodoo-Kunst eingeführt hatte. Als Herr Carl nun zufällig von den vergeblichen Bemühungen Helgundas erfahren hat, war er deshalb sehr enttäuscht. Dass die Bratschistin ihn (Herrn Carl) auf diese Weise hatte strafen wollen, das hätte er ihr ja noch verziehen. Dass sie es jedoch an der nötigen Ernsthaftigkeit hatte fehlen lassen, dass sie so unsäglich dilettantisch vorgegangen war, das war einer Voodoo-Schülerin von Herrn Carl einfach unwürdig. Immerhin gibt es aber zuverlässigere Mittel als den Voodoo-Zauber, um Personen wenigstens aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen. Die Potzöberen der Republik überlegten daran, mittels einer großangelegten Bücher- und Programm-heftverbrennung den Namen Carli restlos aus den öffentlichen und privaten Bibliotheken zu tilgen. Das wurde allerdings wegen des immensen Aufwandes verworfen. Immerhin wurde sämtlichen Buch- und Zeitungsverlagen die Nennung des prominenten Republikflüchtlings bei Strafe verboten. Das „Neue Deutschland“ hatte damit kein Problem. Die Redakteure haben der Einfachheit halber den Namen „Carli“ ausnahmslos durch den mindestens ebenso bekannten Namen „Tscheburaschka“ ersetzt. Den Lektoren der „Edition Peters“ in Leipzig/Dresden mangelte es an der nötigen Phantasie für eine so pragmatische Lösung. Deshalb ist es im Verlag zu sehr hektischem Treiben gekommen. Gerade sollte nämlich das Buch „Die Konzerthausorgeln“ erscheinen, in dem auch Carlis Wirken an dem renommierten Haus sehr lebhaft beschrieben wurde. Der letzte Korrekturabzug war bereits gelesen, die Druckerlaubnis erteilt, die Maschinen schon angeworfen, als Carli der Republik den Rücken kehrte. Nun mussten, aller Ressourcenknappheit zum Trotze, die ersten Probeexemplare geschreddert werden. Diese Anweisung war von ganz oben gekommen, nämlich vom Zentralkomitee der sozialistischsten aller Einheitsparteien Deutschlands. Allerdings wäre die strikte Anweisung nicht erforderlich gewesen: Selbst dem einfältigen Druckerlehrling Alois Neunerlei war völlig klar, dass ein unbedachter Abdruck des Fotos auf Seite einhundertundzwölf unweigerlich zu einer schweren Katastrophe, vermutlich sogar zum Untergang des Honickismus führen würde. Die Aufnahme war bei der Eröffnung des Neuen Konzerthauses gemacht worden und zeigte neben den hochgeschätzten Herren Professoren K. und Wolf auch Carli in voller Schönheit. Natürlich hielten den Honickismus in seinem Lauf weder Ochs noch Esel oder Carli auf. In Windeseile wurde das Bild, schnippel-die-schnappel-die-Scher', neu zu- und der rechts neben K. stehende Carli abgeschnitten. Wegen dieser Änderung war das Layout nicht mehr perfekt, und auch beim Text musste etwas improvisiert werden. Immerhin hatte der Autor, Konzerthausdramaturg Steffen Lübchen-Würth, die Stimmung bei Carlis Orgelkonzerten feinsinnig eingefangen, und er war keineswegs willens, diese sorgsam ausgearbeiteten Passagen zu streichen. Lübchen-Würths Schwärmerei über Carlis behendes Auftreten, sein energiegeladenes Orgelspiel, seine unvergleichlichen Improvisationen und die überwältigende Resonanz blieb also erhalten. Weil allerdings nirgends Carlis Name auftauchte, schienen diese Lobpreisungen Carlis Nachfolger, dem reizenden Herrn Anmut zu gelten. Herr Anmut war darüber ganz verlegen, denn niemals zuvor und niemals danach war seinem Spiel ein so überschwänglicher Bericht gewidmet worden.

      PS: Die überstürzte Flucht des Herr Carl in den Westen hat leider auch das Erscheinen eines schon lange geplanten, eines einmalig schönen, eines sensationellen Buches verhindert. Seit tausenden von vielen Jahren war der Deutsche Verlag für Musik Leipzig für seine Bücherreihe „für Sie porträtiert“ bekannt. Nachdem inzwischen Biografien unter anderem von Paul Dessau, Reiner Süss, Peter Schreier, Kurt Masur, Annerose Schmidt, Lieschen Müller und Freund Blase erschienen waren, wollte sich der Verlag nun endlich auch an etwas wirklich Großes heranwagen: Eine Biografie über Herrn Carl, genannt Carli. Wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre, dann hätte das Buch zum Zeitpunkt von Carlis Flucht bereits in den Buchhandlungen gestanden. Allerdings war allen Beteiligten bewusst, dass es mit dem bei dieser Buchreihe üblichen Umfang von maximal siebzig Seiten bei Herrn Carl nicht getan war. Deshalb stritten sich Verleger, Autorenkollektiv und Papierindustrie noch, ob das Buch eintausend oder zweitausend Seiten umfassen sollte. Nachdem diese von den Fans lange ersehnte Herr-Carl-Biografie wegen der leidlichen Flucht nun ersatzlos gestrichen wurde, freute sich der Verlag Technik Berlin: Sein Papierkontingent wurde aufgestockt, und er durfte das nicht minder interessante und viel gesuchte Buch „Wie helfe ich mir selbst – Wartburg 353“ in großer Auflage neu herausbringen.

      Die absolute Freiheit

      Während Herr Carl mit seiner Abwesenheit in der alten Heimat für heftigen Aufruhr und ein emsiges Treiben an den Schaltzentralen der Macht sorgte, kümmerte seine Anwesenheit in der neuen Heimat sprichwörtlich keine Sau. Herr Carl hatte deshalb nun endlich etwas, das er seit Jahren entbehrte: Frei verfügbare Zeit. Herr Carl hatte so viel frei verfügbare Zeit, dass er sich im Arbeitsamt mit dem Alltag einer Bevölkerungsschicht vertraut machen konnte, zu der er selbst niemals gehören würde: Den Arbeitssuchenden, den Arbeitsunwilligen, den Arbeitslosen, den Nichtsnutzen, den Verlierern der Gesellschaft. Natürlich war auch Herr Carl für den Moment arbeitslos, aber er wusste, dass sich das sehr schnell ändern würde. Nach drei geschlagenen Stunden, die Herr Carl auf einem sehr unbequemen Stuhl im Flur des Arbeitsamtes hin und her gerutscht war, wurde er zur zuständigen Sachbearbeiterin Hilde Rümpf gerufen. Frau Rümpf hob die rechte Augenbraue, als Herr Carl seinen Beruf mit „Musiker“ angab. Als Herr Carl sie mit Details zu seiner künstlerischen Laufbahn vertraut machen wollte, winkte sie desinteressiert ab und fragte stoisch: „Letztes Gehalt?“ Natürlich war das Lohnniveau in Herrn Carls alter Heimat nicht ganz mit jenem in der Bundesrepublik zu vergleichen. Aber immerhin war er in der schönen sozialistischen Republik als Konzerthausorganist beinahe so fürstlich entlohnt worden wie in der BRD ein Berufseinsteiger, der als ungelernte Hilfskraft Bahnhofstoiletten putzt. Deshalb wurden Herrn Carl stolze dreiundsechzig Prozent seines letzten Nettolohnes, also unglaubliche sechshundertzwanzig D-Mark Arbeitslosenunterstützung pro Monat gewährt. Herr Carl wusste vor Freude nicht ein noch aus. Doch Herr Carl ist keiner, der sich wegen unerwarteten Reichtums einfach auf die faule Haut legt. Stattdessen setzte er alle Hebel in Bewegung, um seinen Kalender wieder mit Konzertterminen zu füllen. Es war kaum ein Monat ins Land gegangen, als Herr Carl sich wieder für einen großen Auftritt auf die Orgelbank schwingen konnte. Am elften Mai spielte er sein erstes Konzert als Bundesbürger in der