Thomas de Bur

Bärenjäger


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      Thomas de Bur

      BÄRENJÄGER

      Band 1

      Der alte Mann vom Berg

      „Wenn der Mensch seine Weisheit mal nutzen würde,

      wäre seine Welt ein Paradies.“

      1

      Johan war so tief in den Sitzen versunken, dass man nur seine Knie mit den frischen Grasdreckflecken sehen konnte. Sein Kopf lehnte müde an der vibrierenden Scheibe, während seine Augen nach draußen starrten und sich von der vorbeihuschenden Landschaft einlullen ließen. Als aber der Bus die letzte Kurve genommen hatte und Johan die Kreuzung sah, an der er aussteigen musste, wurde er sichtlich unruhig. Automatisch erhob er sich von seinem Platz und ging zum Ausstieg. Der Lärm des Motors und die Stimmen der anderen Schüler verblassten langsam, obwohl er noch mittendrin war. Dann kamen der Ruck, der ihn immer nach vorne zog, und das Zurück-pendeln seines Körpers, weil seine Hand die Stange nicht loslassen wollte. Er holte tief Luft, stellte sich breitbeinig vor das letzte Hindernis und wartete ungeduldig auf die Freigabe seines Weges. Er musste nie lange warten. Die eingesperrte Luft entwich mit verärgertem Zischen aus dem Druckluftbehälter und begleitete geräuschvoll das lautlose Öffnen der Bustüren. Zwei schnelle Schritte die Stufen hinunter, ein kleiner Satz und Johan stand mit beiden Füßen dort, wo er endlich sein wollte. Intensiv sog er die Frühlingsluft ein, blickte sich lächelnd um und genoss die zufriedene Sehnsucht und das sanfte Kribbeln, das seinen Nacken empor schlich. Hatte sich seit dem Morgen etwas verändert? Die Sonne stand höher am blauen Himmel. Sie glänzte ihn blendend an und kitzelte mit einem besonders warmen Strahl die kleinen Sommersprossen auf seiner Nase. Ein zarter Windhauch servierte ihm ein Festmahl mit Gerüchen nach Moos, Harz und Holz. Es raschelte und huschte irgendwo irgendwas irgendwohin. Rechts von ihm lag das Stück Straße bis zu der Kurve vor dem Wald aus Kiefern, Fichten und Birken. Links war die Kreuzung mit dem viereckigen Stein unter der knorrigen Kiefer und dahinter begann wieder ein unendlich großer Wald, durch den sich die Straße in Schlangenlinien mogelte. In der Ferne begrenzten die Berge den Horizont. Vor ihm träumte das kleine, grüne Tal zwischen welligen, bewaldeten Hügeln mit einem stolz rauschenden Fluss in der Mitte. Nur ein paar Bäume verschleierten seine Sicht dorthin. Dort wohnte er mit Lena, Bamse, seiner Mutter und seinem Vater. Der Waldhof mit seinen typisch roten Holzgebäuden thronte wie eine Schutzburg über dem kleinen Tal. Ein Wald schützte den Hof nach Norden. Das rote Wohnhaus und die kleine Gästehütte genossen die unverbaute Aussicht ins Tal. Die Scheune und die Garage hielten sich am Rande und störten nicht weiter, nur das alte Klohäuschen stand, für alle sichtbar, mittendrin. Der Weg, der von der Kreuzung bis zum Waldhof führte, schlängelte sich zuerst durch zwei Kurven, an verschnörkelten Kiefern und im Winde wankenden Birken vorbei, einen leichten Hügel hinab. Im Talgrund half eine Holzbrücke dem Weg über den schäumenden Fluss, nur damit er sich wieder durch zwei Kurven einen ebenso leichten Hang bis zum Waldhof hinauf schlängeln durfte. Johan dachte daran, dass er seinen Vater schon lange fragen wollte, ob es Absicht war, dass der Weg vor dem Fluss genau die gleichen Längen, Windungen und Kurven bekommen hatte wie hinter dem Fluss. Als ob der Fluss ein Spiegel des Weges sein sollte. Vielleicht war der Weg aber auch besonders harmonisch veranlagt und wollte es genau so. Mit der Schultasche in der rechten Hand schlenderte Johan den Sandweg zum Fluss hinunter und überlegte, was er heute Nachmittag machen könnte. Er musste raus in den Wald, das war klar. Sollte er Bamse mitnehmen? Bamse war ein Karelier. Ein wunderschöner, schwarzer Jagdhund mit einer frechen, weißen Schnauze und braunen, feurigen Augen. Eigenwillig war er, doch Johan liebte das kleine Kraftbündel über alles und verbrachte viel Zeit mit ihm. Sein Vater hatte Bamse im letzten Sommer mitgebracht und wollte ihn irgendwann für die Jagd ausbilden. Bis er dazu kam, wollte Johan mit Bamse schon insgeheim geübt haben. Spitzbübisch lächelte er bei dem Gedanken an das überraschte Gesicht seines Vaters, wenn Bamse und er ihm zeigten, was sie schon alles konnten. Wenn Johan mit Bamse in den Wald gehen würde, wollte Lena bestimmt auch mitkommen. Lena war seine siebenjährige Schwester, sechs Jahre jünger als er. Lena war ein Sonnenkind. Er konnte sich nicht daran erinnern, sie jemals weinen oder traurig gesehen zu haben. Sie war ein Phänomen. Ein lachender, freundlicher Wirbelwind, der alle mit ihrer guten Laune ansteckte. Allerdings war sie auch anstrengend, sie konnte fragen ohne Ende. Manche Fragen von Lena waren so schwer, die konnte sogar Mutter nicht beantworten und dass sollte etwas heißen. Johan würde irgendwann herausfinden, wo Lena diese vielen Fragen immer fand. Inzwischen war Johan an der zweiten Wegkurve angekommen. Seine klaren, blauen Augen ruhten einen Moment auf der Holzbrücke. Dort saß er gern, ließ seine Beine die Brücke hinunter baumeln und schaute einfach nur dem Wasser zu, wie es kräftig rauschend und gurgelnd zwischen den großen und kleinen Steinen seinen Weg suchte. Angeln musste er auch bald wieder, darauf freute er sich schon. Vielleicht morgen. Als Johan die Brücke erreichte, bemerkte er Lena, die tanzend die Wiese hinab lief. Ihre blonden, langen Haare wehten hinter ihr her, waren aber kaum imstande, ihr zu folgen. Lena hatte ihn wohl nicht gesehen, denn sie steuerte seinen Stein am Flussufer an. Neben der Holzbrücke hatte Johan hier unten am Fluss zwei Lieblingsplätze. Der Erste war die große Tanne, die etwas erhöht, ein paar Meter vom Flussufer entfernt stand. Wenn man auf die Tanne stieg und zwölf Äste empor kletterte, konnte man das ganze Tal hinauf und hinab schauen. Sein zweiter Lieblingsplatz war der große Stein. Es war der Größte, der hier im Flussbett lag, genau am Ufer. Er war ganz glatt und rund, hatte allerdings an der Seite, zum Ufer hin, ein paar praktische Einkerbungen zum Hochklettern. Oben auf der Kuppe war er geplättet. Dort thronte Johan oft mit Lena und sie unterhielten sich oder schauten dem spielenden Wasser zu. Mit einem Lächeln auf den Lippen dachte er daran, dass sie das letzte Mal allen Ernstes von ihm wissen wollte, ob das Wasser Beulen bekommt, wenn es gegen die vielen Steine im Fluss stößt. Johan beobachtete, wie Lena das Flussufer erreichte und den großen Stein hinaufstieg. Er wechselte seine Schultasche in die linke Hand und hob die Rechte. Laut rief er: »Lena!«, und winkte ihr zu. Sie hörte ihn, drehte sich in seine Richtung um und hob den Arm. Doch bei der Wendung verlor sie das Gleichgewicht. Sie wankte bedrohlich. Mit beiden Armen rudernd, versuchte sie, das Abrutschen zu verhindern. »Nein«, schrie es aus Johan heraus. Hilflos musste er mit ansehen, wie Lena sich erschrocken gegen das folgenschwere Drama wehrte. Doch sie kippte, wie in Zeitlupe, immer mehr, während ihre Arme Halt in der Luft suchten. Aber sie fanden nichts. Lenas Unglück war nicht aufzuhalten. Sie stürzte mit lautem Platschen in den reißenden Fluss. Johan reagierte ohne Schrecksekunde. Schultasche fallen lassen und los rennen waren eins. Wie ein Berserker hetzte er die Holzbrücke entlang. Seine Schritte hallten laut auf den Planken. Am Ende der Brücke nahm er eine Hand zur Hilfe, hielt sich am Brückenpfosten fest, flog quasi um die Kurve und sprang auf das Steinufer. In seinem Kopf hämmerte es, aber er dachte nur ans Rennen. Schneller musste er sein. Johan registrierte, dass Lena kurz aus den Fluten auftauchte. Noch hundert Meter bis zu ihr. Seine Füße flogen über die Steine, die in unregelmäßigen Größen überall hier am Flussufer herum lagen. Fast wäre er gestrauchelt, aber im letzten Moment fing er sich, stützte sich mit der linken Hand ab und hastete fieberhaft weiter. Vorbei an dem großen, geplätteten Stein. Immer weiter über den holprigen Untergrund am Ufer entlang. Dann sichtete er Lena wieder. Sie war gegen einen Haufen Holz getrieben worden, der sich an ein paar Steinen gefangen hatte. »Bitte Lena, halt dich fest. Das darf nicht sein. Halt dich fest.« Johan war inzwischen auf gleicher Höhe mit ihr. Sie krallte sich an dem Holzhaufen fest und wandte den Kopf in seine Richtung. Aber sie war so still, warum war sie so still? Und wie sollte er sie bloß erreichen? Es waren sicher sechs oder sieben Meter bis zu ihr hin. Der Fluss war zu tief, zu stark und zu reißend für ihn. Da bemerkte Johan eine alte, Nadellose Fichte, die ein paar Meter vom Wasser entfernt am Ufer lag und Pause machte. Sie maß etwa sechs Meter, nicht zu dünn und nicht zu dick. Die Fichte konnte die Rettung sein. Johan raste zu ihr hin, griff sie mit beiden Händen und stemmte sie hoch an die Brust. Mit dem Baum im Arm lief er schwer schnaufend zum Flussufer und stürzte sich, ohne zu zögern, mitsamt seiner Kleidung direkt ins Wasser hinein. Noch im Laufen warf er den Stamm quer ins Wasser vor zwei große Steine, die ihm als Weg zu Lena dienen konnten. Der erste Stein lag etwa eineinhalb Meter vom Ufer entfernt und ragte einen Meter aus dem Wasser heraus. Der zweite Stein befand sich parallel zum Ersten etwa dreieinhalb Meter weiter im Wasser. Zwischen dem zweiten Stein und dem Holzhaufen, an dem Lena hing, brodelte dann noch etwa ein Meter breit der Fluss. Johans Wurf des alten Baumes passte genau. Die Fichte krachte direkt vor die beiden Steine und wurde vom Wasser prompt dagegen gedrückt. Johan kämpfte sich zum ersten