Thomas de Bur

Bärenjäger


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Wenn der Waldschrat nur einen kleinen Schlenker machen würde, gäbe es einen Unfall. Doch dem unbekümmerten Schrat machte die Fahrt offenbar einen riesigen Spaß. Er gab kräftig Gas. Lena kam Johan nachgelaufen und hielt sich an ihm fest. Plötzlich schrie Johan: »Vorsicht, da kommt Wasser von vorn.« Eine mächtige Wasserwelle aus weißer, schäumender Gischt rauschte wie ein übergroßer Widderkopf auf sie zu. Der Waldschrat lachte irre und beugte sich mit vorgestrecktem Kopf über das Lenkrad. Seine große Hakennase berührte fast die Windschutzscheibe. Johan griff Lena mit der rechten Hand und schlug mit der Linken auf den roten Knopf neben dem Lenkrad, um die Türen zu öffnen. Kaum hatte es gezischt und die Türen waren auf geschwungen, hüpfte er mit Lena an der Hand bei voller Fahrt hinaus. Genau in diesem Moment traf das Wasser den Bus. Die Beiden kullerten über den harten Boden, verletzten sich jedoch nicht. Als Johan sich umsah, traute er seinen Augen nicht. Das Wasser verhielt sich wie ein Rammbock und drückte gegen den Bus. Der Bus wehrte sich jedoch und schob dagegen. Die merkwürdigen Fahrgäste sprangen währenddessen schreiend und gestikulierend im Bus herum, machten wilde Grimassen und feuerten den Waldschrat an, stärker zu drücken. Das Kräftemessen ging hin und her, aber dem Bus schien so langsam die Kraft auszugehen, denn die Scheinwerfer wurden langsam dunkler und der Motor fing an zu stottern. Johan riss sich von dem Anblick los und flüchtete mit Lena in die Dunkelheit hinein. Nur weg vom Bus und dem wässrigen Widderkopf. Bereits nach etwa zehn Metern konnten sie noch nicht einmal mehr die Hand vor Augen sehen. Sie hörten sofort auf zu laufen und tasteten sich mit ihren Füssen voran. Der Boden wurde sandig und ein paar Schritte weiter steckten sie plötzlich fest. Sie bekamen ihre Füße nicht mehr hoch. Irgendetwas hielt sie fest. Johan ging in die Hocke und fühlte nach unten. Es war der Sand. Es war Treibsand, der sie nach unten zog. Die Füße und die halben Unterschenkel waren schon verschwunden. Johan versuchte nach Lena zu greifen, doch ihre Hand entglitt seinem Griff immer wieder. Währenddessen versanken sie tiefer im Boden. Unaufhaltsam wurden sie nach unten gezogen. Als Johans Mund sich mit Sand füllte, stellten seine Sinne die Arbeit wieder ein. Johan fiel in die Dunkelheit und landete auf harter Erde. Unverletzt rappelte er sich auf und schüttelte sich ungläubig. Nur ein paar Sandkörner knirschten noch in seinem Mund. Es herrschte Dämmerlicht und Johan erkannte, dass er in einer kleinen Höhle war. Lena war nirgends zu sehen. Es roch streng nach Bär. Wie aufs Stichwort erschien der Bewohner der Höhle. Es war eine große Bärin, die Schritt für Schritt näher kam. Die Bärin brummte aber nicht, wie Bären es normalerweise machen, wenn sie einen Menschen entdecken. Johan schüttelte wieder ungläubig den Kopf. Die Bärin schnurrte wie eine Katze. Mit ihren großen Pranken drückte sie Johan auf den Erdboden zurück und legte sich mit ihrem großen, massigen Körper auf ihn drauf.

      3

      Die Bärin schnurrte ohne Unterlass. Das Atmen fiel Johan schwer. Auf seiner Brust spürte er ein tonnenschweres Gewicht. Es engte ihn ein und erlaubte ihm keine Bewegung. Ihm war heiß und er fühlte klebrigen, kalten Schweiß an seinem Körper. Sein Kopf brummte und dröhnte in irgendeinem Takt. Vorsichtig schlug er seine Augen auf. Vor seinem Gesicht, nur einen Hauch entfernt, ruhte die graue Hauskatze auf seiner Brust. Johan betrachtete sie erleichtert. Sie schnurrte genüsslich und blinzelte ihn aus ihren unergründlichen Augen an. Um ihn herum war es dämmrig und ruhig. Ein paar dunkelrote Schatten spielten auf den Wänden verstecken. Es roch nach Feuer und Holz. Ein Kaminofen knisterte leise. Genau in seinem Blickfeld, auf dem Fenstersims, hockte ein Wurzeltroll und spähte verstohlen nach draußen. Wahrscheinlich tat er nur so unbeteiligt und starrte hinaus, weil die Katze im Raum war. Normalerweise haben Trolle eine Heidenangst vor Katzen und meiden sie, wann immer sie können. Mit Sicherheit dachte der Troll, wenn er die Katze ignorierte, ignoriert sie ihn auch. Johan seufzte beruhigt. Wenn es dämmrig war, musste es mitten in der Nacht sein. Anfang Mai geht die Sonne in Lappland nur in der Nacht ein paar Stunden unter. Bald würde es die ganze Zeit hell bleiben. Er befand sich in seinem Zimmer in seinem weichen Bett. Johan fühlte in sich hinein. Überall brannte und zwickte es, er konnte jeden einzelnen Zentimeter seines Körpers spüren. Alles tat weh. Es war besser, einfach liegen zu bleiben und nur ein bisschen zu gucken. Plötzlich fiel ihm Lena ein und er erschrak. Er musste dringend nach Lena sehen. Wie mochte es ihr gehen? Mühsam versuchte Johan, sich zu erheben. In diesem Moment ging die Tür langsam auf. Er erkannte es an dem hellen Schein an seiner Wand, der immer größer wurde. Es war seine Mutter. Als sie bemerkte, dass Johan sich gerade erheben wollte, eilte sie zu ihm. »Bleib liegen, Johan«, meinte sie zärtlich und drückte ihn sanft in die weichen Kissen zurück. Sie setzte sich lächelnd zu ihm aufs Bett und nahm die Katze von seiner Decke herunter. »Lena geht es gut. Sie ist vor Schreck noch etwas still und ernst, aber sie hat alles gut überstanden. Ich danke dir von Herzen mein Sohn, dass du meine Lena gerettet hast.« Sie küsste ihn auf die Stirn und berührte mit ihrer Hand ganz zart seine Wange. Johan blickte sie glücklich an. Die kleine, silbrige Träne, die seiner Mutter an der Nase entlang bis zum Mundwinkel kullerte, machte sein Herz ganz warm und schwer. »Du hast hohes Fieber gehabt und fast zwei Tage geschlafen«, erzählte ihm seine Mutter mit leiser Stimme. »Doch jetzt wird alles wieder gut.« »Wie sind Lena und ich ins Haus gekommen?« wollte er wissen. »Bamse hat mich mit seinem Gebell gerufen und auf der Straße kam Stellan gerade vorbei«, begann seine Mutter. »Der alte Mann aus der Hütte oben am Fluss?« fragte Johan nach. »Ja, auch er hörte Bamse und eilte zu Hilfe. Gemeinsam trugen wir euch ins Haus. Ich hätte dich niemals allein den Hang hoch bekommen. Wir haben sofort heißes Wasser gemacht und euch in den Badebottich gesteckt.« Johans Mutter lächelte: »Jetzt werde ich dir aber erst einmal etwas zu essen machen. Du wirst sehr hungrig sein.« Sie erhob sich vom Bettrand und ging hinaus. Die Tür ließ sie offen. Johans Augen wanderten verträumt zur Decke. Er war so froh, dass es Lena gut ging. Kaum hatte er an sie gedacht, stand sie schon neben ihm am Bett. »Ich war mir sicher, dass du stärker als der Fluss sein würdest«, strahlte sie ihn mit leuchtenden, blauen Augen an. Dann kräuselte sie ihre Nase und spitzte die Lippen. »Warum gurgelt das Wasser einem so beruhigend ins Ohr, zieht dann aber trotzdem so heftig am Körper und tut einem weh?« Johan seufzte lang anhaltend, doch bevor seinem dröhnenden Kopf etwas Gescheites einfiel, steckte Lena ihm etwas in die Hand, gab ihm einen Kuss auf die Wange und tanzte wieder hinaus. Johan schaute neugierig nach, was sie ihm in die Hand gelegt hatte. Es war ein flacher, glatter Stein, der aussah wie eine Acht. Nein, es waren zwei kleine, runde Steine. Sie waren an einer Seite zusammen gewachsen. In einen der Steine war ein kleines Loch gebohrt. Johan lächelte. Er umschloss den Stein mit seinen Fingern und versteckte seine Hand unter der Decke. Johans Vater betrat daraufhin das Zimmer und setzte sich zu ihm aufs Bett. Er lächelte, doch er redete nichts. Johans Vater war Holzfäller und ein ruhiger Mann. Die meisten Menschen würden ihn als wortkarg bezeichnen. Oft zu Hause war er nicht. Um genug Geld zu verdienen, arbeitete er viel. Seiner Frau und den Kindern sollte es an nichts fehlen. Er machte sich immer Sorgen, doch Johan bewunderte ihn. Wenn sein Vater etwas sagte, was allerdings selten vorkam, war es für Johan Gesetz. Sein Vater wusste alles über den Wald, über die Bäume, Pflanzen, Kräuter, Beeren, Pilze und Tiere. Es wäre schön, wenn er öfter mit ihm im Wald sein könnte. »Ich bin sehr, sehr stolz auf dich, mein Sohn«, sagte sein Vater unvermittelt und nahm eine kleine Schachtel aus seiner Tasche. »Ich bin beruhigt, dass nun ein zweiter Mann hier auf dem Hof ist. Dies ist für dich«, und er überreichte die kleine Schachtel. Johan setzte sich im Bett etwas auf, nahm das Geschenk entgegen und öffnete es vorsichtig. In der Schachtel war ein wunderschönes, edles Jagdmesser. So eines, das von den Samen kunstvoll in Handarbeit hergestellt wird. Es steckte in einer Scheide aus poliertem Rentierhorn und wunderbar duftendem Rentierleder. In das Rentierhorn waren Zeichen geschnitzt und mit dunkler Farbe hervorgehoben. Mit einer geflochtenen, ledernen Schlaufe befestigte man es am Gürtel. Das Messer verschwand mit dem Griff, bis auf den oberen Knauf, vollständig in der schönen Scheide. Vorsichtig zog Johan das Messer heraus. Die Klinge glänzte wie ein silberner Spiegel. Kleine, schnörkelige Verzierungen waren auf der Klinge eingeritzt. Der Griff bestand aus fein geschliffenen Birkenholz und Rentierhorn. Es war atemberaubend schön. Johan steckte das Messer zurück, legte es zur Seite und umarmte seinen Vater. »Es ist phantastisch. Danke. Danke. Danke.« Sein Vater lächelte ihn an. »Diesen Herbst darfst du das erste Mal Stellan und mich in den Wald begleiten. Am 1.September gehen wir zusammen zur Jagd.« Johan hatte Tränen in den Augen. Er war unheimlich glücklich. Sein Vater stand auf und im gleichen Moment kam Johans Mutter mit einem Tablett ins Zimmer. »Helden müssen gut essen«, meinte sie und stellte das Tablett auf die Bettdecke.