Gerhart Hauptmann

Bahnwärter Thiel


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      Gerhart Hauptmann

      Bahnwärter Thiel

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      Inhaltsverzeichnis

       Titel

       1

       2

       3

       Impressum neobooks

      1

      Allsonntäglich saß der Bahnwärter Thiel in der Kirche zu Neu-Zittau,

      ausgenommen die Tage, an denen er Dienst hatte oder krank war und zu

      Bette lag. Im Verlaufe von zehn Jahren war er zweimal krank gewesen;

      das eine Mal infolge eines vom Tender einer Maschine während des

      Vorbeifahrens herabgefallenen Stückes Kohle, welches ihn getroffen

      und mit zerschmettertem Bein in den Bahngraben geschleudert hatte;

      das andere Mal einer Weinflasche wegen, die aus dem vorüberrasenden

      Schnellzuge mitten auf seine Brust geflogen war. Außer diesen beiden

      Unglücksfällen hatte nichts vermocht, ihn, sobald er frei war, von der

      Kirche fernzuhalten.

      Die ersten fünf Jahre hatte er den Weg von Schön-Schornstein, einer

      Kolonie an der Spree, herüber nach Neu-Zittau allein machen müssen.

      Eines schönen Tages war er dann in Begleitung eines schmächtigen und

      kränklich aussehenden Frauenzimmers erschienen, die, wie die Leute

      meinten, zu seiner herkulischen Gestalt wenig gepaßt hatte. Und wiederum

      eines schönen Sonntag Nachmittags reichte er dieser selben Person am

      Altare der Kirche feierlich die Hand zum Bunde fürs Leben. Zwei Jahre

      nun saß das junge, zarte Weib ihm zur Seite in der Kirchenbank; zwei

      Jahre blickte ihr hohlwangiges, feines Gesicht neben seinem vom Wetter

      gebräunten in das uralte Gesangbuch --; und plötzlich saß der Bahnwärter

      wieder allein wie zuvor.

      An einem der vorangegangenen Wochentage hatte die Sterbeglocke geläutet:

      das war das Ganze.

      An dem Wärter hatte man, wie die Leute versicherten, kaum eine

      Veränderung wahrgenommen. Die Knöpfe seiner sauberen Sonntagsuniform

      waren so blank geputzt als je zuvor, seine roten Haare so wohl geölt und

      militärisch gescheitelt wie immer, nur daß er den breiten, behaarten

      Nacken ein wenig gesenkt trug und noch eifriger der Predigt lauschte

      oder sang, als er es früher getan hatte. Es war die allgemeine Ansicht,

      daß ihm der Tod seiner Frau nicht sehr nahe gegangen sei; und diese

      Ansicht erhielt eine Bekräftigung, als sich Thiel nach Verlauf eines

      Jahres zum zweiten Male, und zwar mit einem dicken und starken

      Frauenzimmer, einer Kuhmagd aus Alte-Grund, verheiratete.

      Auch der Pastor gestattete sich, als Thiel die Trauung anmelden kam,

      einige Bedenken zu äußern:

      »Ihr wollt also schon wieder heiraten?«

      »Mit der Toten kann ich nicht wirtschaften, Herr Prediger!«

      »Nun ja wohl -- aber ich meine -- Ihr eilt ein wenig.«

      »Der Junge geht mir drauf, Herr Prediger.«

      Thiels Frau war im Wochenbett gestorben, und der Junge, welchen sie zur

      Welt gebracht, lebte und hatte den Namen Tobias erhalten.

      »Ach so, der Junge,« sagte der Geistliche und machte eine Bewegung, die

      deutlich zeigte, daß er sich des Kleinen erst jetzt erinnere. »Das ist

      etwas andres -- wo habt Ihr ihn denn untergebracht, während Ihr im

      Dienst seid?«

      Thiel erzählte nun, wie er Tobias einer alten Frau übergeben, die ihn

      einmal beinahe habe verbrennen lassen, während er ein anderes Mal von

      ihrem Schoß auf die Erde gekugelt sei, ohne glücklicherweise mehr als

      eine große Beule davonzutragen. Das könne nicht so weiter gehen, meinte

      er, zudem da der Junge, schwächlich wie er sei, eine ganz besondere

      Pflege benötige. Deswegen und ferner weil er der Verstorbenen in die

      Hand gelobt, für die Wohlfahrt des Jungen zu jeder Zeit ausgiebig Sorge

      zu tragen, habe er sich zu dem Schritte entschlossen. --

      Gegen das neue Paar, welches nun allsonntäglich zur Kirche kam, hatten

      die Leute äußerlich durchaus nichts einzuwenden. Die frühere Kuhmagd

      schien für den Wärter wie geschaffen. Sie war kaum einen halben Kopf

      kleiner wie er und übertraf ihn an Gliederfülle. Auch war ihr Gesicht

      ganz so grob geschnitten wie das seine, nur daß ihm im Gegensatz zu dem

      des Wärters die Seele abging.

      Wenn Thiel den Wunsch gehegt hatte, in seiner zweiten Frau eine

      unverwüstliche Arbeiterin, eine musterhafte Wirtschafterin zu haben, so

      war dieser Wunsch in überraschender Weise in Erfüllung gegangen. Drei

      Dinge jedoch hatte er, ohne es zu wissen, mit seiner Frau in Kauf

      genommen: eine harte, herrschsüchtige Gemütsart, Zanksucht und brutale

      Leidenschaftlichkeit. Nach Verlauf eines halben Jahres war es

      ortsbekannt, wer in dem Häuschen des Wärters das Regiment führte. Man

      bedauerte den Wärter.

      Es sei ein Glück für »das Mensch«, daß sie ein so gutes Schaf wie den

      Thiel zum Manne bekommen habe, äußerten die aufgebrachten Ehemänner; es

      gäbe welche, bei denen sie greulich anlaufen würde. So ein »Tier« müsse

      doch kirre zu machen sein, meinten sie, und wenn es nicht anders ginge,

      denn mit Schlägen. Durchgewalkt müsse sie werden, aber dann gleich so,

      daß es zöge.

      Sie durchzuwalken aber war Thiel trotz seiner sehnigen Arme nicht der

      Mann. Das, worüber sich die Leute ereiferten, schien ihm wenig

      Kopfzerbrechen zu machen. Die endlosen Predigten seiner Frau ließ er

      gewöhnlich