Hans W. Schumacher

Das Gespenst der Karibik


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den Onkel.

      "Sie haben neue Marmelade bestellt?" fragte er.

      Der Onkel sah erstaunt auf. Mißtrauisch musterte er den Ober. Jeder Angestellte des Hotels, der mit ihm zu tun hatte, war sorgfältig unter die Lupe genommen worden.

      "Wer sind Sie? Ich kenne Sie nicht!"

      Das Gesicht des Kellners war hager und bleich, schwarze Mestizenaugen brannten in tiefen, blauumrandeten Höhlen.

      "Aber ich kenne dich!" schrie er plötzlich, riß einen Trommelrevolver unter dem Jackett hervor und feuerte Onkel Leo eine Serie von Löchern in die Hemdbrust.

      "Viva la révoluciòn!“ kreischte der Kellner, während Onkel Leo langsam vornüber sackte und mit dem Gesicht im Teller landete. Das Muster der Tischdecke spiegelte sich in seinen erstaunten Augen.

      Eine fürchterliche Aufregung entstand. Adelaide schlug die Hände vors Gesicht und kippte vor Schreck mit dem Korbsessel um. Von dem Personal umringt und der zu spät auftauchenden Leibgarde, die friedlich im Keller gefrühstückt hatte, wurde dem Attentäter der leere Revolver aus der Hand gewunden.

      "Viva la muerte!“ rief er noch höhnisch, als man ihn von der Terrasse schleppte.

      Die Vögel, die während des ganzen Schauspiels verschreckt geschwiegen hatten, begannen wieder mit ihrem naiven Gezwitscher.

      M. Cybulka Klavier- und Geigenunterricht

      Sie saß am Flügel, den Kopf in die linke Hand gestützt und schlug mit der rechten einen Akkord an. Immer denselben. Vor dem Fenster wirbelten Blütenblätter vorbei, ein rosiges Gestöber. Die japanischen Quitten im Vorgarten verblühten und der Himmel stand voll zarter, aufgelöster Wolken. Immer wieder den gleichen Akkord. Er entfaltete sich in ihr zu einem melancholischen Raum, der mit dahinstiebenden Blüten und einem fahlblauen Himmel ausgestattet war. Im dunkelglänzenden Lack des Instruments dämmerte ihr ein altersloses Gesicht entgegen. Der Akkord, dieser Klang, das war es! Er durchschauerte sie mit Ewigkeit, immer wieder, sie würde nie aufhören können, ihn anzuschlagen. Etwas löste sich in ihrer Brust, sie fühlte, wie trockene Schalen von ihrer Seele abfielen. Der Himmel hatte das verwaschene Blau der Schleifen, die sie als Kind im Haar trug, und die rosigen Blätter erinnerten sie an die Farbe ihres Konfirmationskleides. Der Klang, dieser Klang! Ihn festhalten, nicht locker lassen! Aber dann merkte sie, wie er verblaßte, es war doch nur ein gewöhnlicher Akkord! Was fand sie denn daran? Natürlich, es war das Kindergeschrei! Sie hatte sich beim Hausmeister oft genug darüber beschwert. Wie soll ein Mensch seinem Beruf nachgehen, wenn diese Kröten so entsetzlich brüllen? Entschlossen stand sie auf und ließ die Rolläden hinabdonnern, dann noch die schweren Samtvorhänge davor. Endlich Stille! Im Dunkeln ging sie unruhig auf und ab. Woher kam nur ihre Nervosität? Geräusche machten sie verrückt. Aber manchmal ertrug sie klaglos Preßlufthämmer und Düsenjäger. Wie kam das? Verflixt, wer klopft denn da? Sie suchte sich zum Lichtschalter durchzutasten, stolperte über den Klavierhocker und landete auf den Knien. "Fräulein Cybulka, sind sie gefallen? Wo ist denn der Schalter?" "Rechts neben der Tür." "Da ist nichts." "Sie suchen ja auch links, Sie Esel!" Etwas Leichtes stürzte flatternd und ächzend zu Boden. "Sie sind wirklich unmöglich. Mein Notenständer ist hin!" Herr Müller bückte sich mühsam. Betroffen im fahlen Licht zwinkernd, erkannte er ein Holzgestell, das sich an einer mit altersgrauem Bindfaden reparierten Bruchstelle wieder aufgelöst hatte. Er hob die am Boden verstreuten Notenblätter auf. Seine Hände zitterten, sein Herz schlug heftig. Diese alte Ziege konnte ihn von einem Tag zum anderen vor die Tür setzen. Und möblierte Zimmer waren so schwer zu kriegen. Also ruhig, Alter! Kein Wort. Fräulein Cibulka erhob sich entrüstet. Dieser Mensch würde sie noch zum Wahnsinn treiben. Schon sein Tritt! Wie konnte einer auch so daherstampfen wie ein Elefant? Krachend bogen sich die Dielen unter seinem Fuß und nachts ächzte sein Bett, als würde es gleich zusammenbrechen. Als sie sich darüber beschwerte, meinte er, sie könnte ja die Tür zwischen ihrem und seinem Zimmer zumauern lassen oder ihm ein Bett besorgen, das weniger altersschwach wäre. Sie hatte es ihm aber gegeben! "Nicht das Bett ist altersschwach, sondern Ihre Lunge! Sie husten ja zum Verzweifeln. Wenn Sie ihre Krankheit so verschleppen, habe ich am Ende noch Scherereien mit Ihnen. Das eine sage ich Ihnen, wenn Sie mal nicht mehr aus dem Bett kommen, kann ich mich nicht um Sie kümmern. Ich bin selber krank." Am liebsten hätte sie auf Untermieter verzichtet. Aber sie brauchte die Einnahmen. Und Herr Müller war gewiß besser als die ewig Radio spielenden und Mädchen auf die Bude schleppenden Studenten. Er hatte noch nie Besuch gehabt. Er wandte die Teile des Notenständers verlegen in seinen Händen. Von der Höhe seiner mächtigen Gestalt blickte er ergeben herab auf die unleidliche Person in dem verschossenen braunen Kleid, das sie von ihrer Großmutter geerbt haben mußte . "Ich werde es wieder ganz machen," sagte er ohne Überzeugung. "Ach, geben Sie her. Sie sind doch zu nichts nütze, als Sachen zu zerbrechen und Krach zu machen. Was wollen Sie überhaupt?" Er reichte ihr die Holzteile mit ausgestrecktem Arm und zog einen zerknitterten 100-Mark-Schein aus der Hosentasche. "Die Miete." "Wieviel ist es denn?" "95 Mark, dachte ich," sagte er erschreckt und befürchtete eine Erhöhung. Aber es war wirklich nur ihre Vergeßlichkeit. Seufzend wendete sie sich einem vielstöckigen Vertiko zu, zog eine Schublade auf und suchte aus einer Zigarrenschachtel, die noch von ihrem Vater stammte, ein paar Münzen hervor. "Mir fehlen noch 80 Pfennig. Aber Sie müssen mir sowieso noch die Tasse ersetzen, die Sie vorige Woche zerbrochen haben." "Schon gut," brummte er störrisch und schickte sich zum Rückzug an. "Was heißt: schon gut? Habe ich die Tasse auf dem Gewissen oder Sie? Und der Notenständer?" "Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!" murmelte er abwehrend und schloß die Tür hinter sich. So schnell seine wackeligen Beine es erlaubten, verzog er sich durch den dämmrigen Flur in sein Hinterzimmer. Bloß einem weiteren Disput ausweichen! Er wußte nicht, ob er nicht doch einmal ausfallend werden würde. Seine Stube ging auf den Hof hinaus. Nur durch das Oberfenster sah man den Frühlingshimmel über dem Gefängnis der Brandmauern und Dächer. Er setzte sich auf das knarrende Bett, beugte sich nach vorn und ließ die Hände zwischen den Beinen baumeln. Eigentlich machte er sich nicht viel aus den Unfreundlichkeiten der Zimmerwirtin, und doch fühlte er sich bedrückt. Er war so einsam wie ein Hund. Seine Frau war vor acht Jahren gestorben, seine Tochter kümmerte sich nicht um ihn, sein Sohn lebte in Australien. Kaum, daß er zu Weihnachten eine Karte schrieb. Er fühlte sich grenzenlos müde. Auf dem Hof tönte Kindergeschrei. Ein Knistern an der Tür, die sein Zimmer mit dem Schlafzimmer von Fräulein Cybulka verband, ließ ihn aufblicken. Ein Stück Papier schob sich langsam durch den Spalt, blieb liegen, eine Ecke noch unter der Leiste. Er sah stumpf hinüber, konnte keinen Gedanken fassen. Endlich stand er auf, schlurfte hinüber und bückte sich. "Sie sind gekündigt", las er, als er den Zettel auseinandergefaltet hatte, "Sie verlassen das Haus am 1. Mai bis 12 Uhr mittags." Hastige Schriftzüge bedeckten riesig das ganze Papier. So, das war geschafft! Sie erhob sich erleichtert vom Boden und zitterte noch ein wenig. Sie schlich sich durch das Schlaf- und das Eßzimmer in den Salon, drehte den Schlüssel an der Tür zum Flur um, setzte sich trotzig an den Flügel und übte "Lieder ohne Worte". Tom toom tom hämmerte sie, welch seliger Klang, auf und davon, und durch den Plafond schwang sie sich aus dem grauen Dämmer der portierenverhüllten Pracht der Gründerzeit hinaus ins Licht. Ihr Spiel übertönte die Tapsschritte des gräßlichen Herrn Müller, das zaghafte Klopfen an der Tür. Tam tamtam. Nachher wußte sie wirklich nicht, ob Herr Müller angekrochen gekommen war oder nicht. Als sie ihm abends im Flur begegnete, hätte sie ihn gern danach gefragt, aber das war unmöglich. Er schob sich gruß- und blicklos an ihr vorbei. Sie stand mit dem Spiegelei in der Pfanne vor der Küche und sah seinen breiten Rücken eingerahmt von der Balkontür, vornübergebeugt im blassen Dämmerlicht.... "Wie ein Orang Uttan," dachte sie gehässig. Bald darauf ging sie ins Wohnzimmer, öffnete die grünbespannten Türen des Bücherschranks und sah im Konversationslexikon - 30-bändig - nach, wie Orang Utan geschrieben wird. Die Nacht ist so alt und doch immer noch unbekannt. Sie preßt sich so dicht an den Schlaflosen, daß er ihr Gesicht nicht sieht. Sie ist so ungeheuerlich groß wie das Maul des Walfischs, aber sie hat keine Zähne. Für alle hat sie eine unhörbare Melodie, das Lied ohne Worte, das Lied des Schweigens und Vergessens, der Schwermut und des Verzichts. Fräulein Cybulka lag im Bett und wagte nicht sich zu rühren. Schon das Geräusch ihres Atems erschreckte sie. Sie streckte die nackten Arme auf der Bettdecke aus. Es war so ruhig nebenan. Wenn er doch husten