Lars Bessel

Vom alltäglichen Scheitern


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einmal Punkte in der Verkehrssünderkartei in Flensburg. Doch dann war da dieser 19. Januar: Storm ist Stammkunde in dem größten Bekleidungsgeschäft am Ort, hat seit Jahrzehnten eine Treuekarte, die er auch dem Richter zeigt. Es war kalt an diesem Tag, weshalb Storm sich Treuekarte und Geld einsteckte, um sich mehrere Langarm-Shirts zu kaufen. „Ich kenne Herrn Storm schon lange“, sagt die Verkäuferin vor Gericht aus, „er ist Stammkunde bei uns – und ein sehr netter Mann.“ Veronika ist spürbar aufgeregt, war vorher noch nie in einem Gerichtssaal. Ob sie aufstehen solle, fragt sie vor ihrer ersten Antwort, der Richter verneint. Genauso aufgeregt wie sie sei auch Storm an diesem 19. Januar gewesen, erinnert sich die Zeugin, „er war sehr nervös“.

      Hektisch habe er nach einigen Shirts gegriffen, „doch die hatten die falsche Größe“. Als sie ihn darauf aufmerksam gemacht hatte und ihm empfahl, die nächstkleineren in der Umkleidekabine anzuprobieren, sei Storm sogar leicht aggressiv geworden. Schließlich habe sie auf seinen Wunsch hin die Diebstahlsicherung an den Kleidungsstücken entfernt, und Storm sei in der Kabine verschwunden. Aber schon nach kürzester Zeit habe der Angeklagte diese wieder verlassen, in der Hand einen prall gefüllten Stoffbeutel. Die Shirts lägen in der Kabine, soll Storm gesagt haben, dann verschwand er sehr zügig Richtung Treppenhaus. Doch in der Umkleidekabine lagen keine Sachen, weshalb Veronika dem alten Mann folgte und ihn im Treppenhaus zur Rede stellte. In der Aufregung hatte Storm den Personalaufgang gewählt und stand nun vor verschlossener Tür. Erwartungsgemäß befanden sich die Langarm-Shirts in Storms Stoffbeutel, weshalb er sich nun neun Monate später wegen Diebstahls vor Gericht verantworten muss.

      Immer wieder sucht die Zeugin Blickkontakt zum Angeklagten, der regelmäßig sein graues Haupt schüttelt. „Ich kann mich an diese Situation wirklich nicht erinnern“, versichert Storm anschließend und zeigt wie zum Beweis erneut seine Treuekarte. „Ich habe das Gefühl, der Mann braucht dringend Hilfe“, sagt Veronika zum Schluss und vergleicht Storm mit ihrem eigenen Vater – der sei dement. Dieser Satz ist es, der den Vorsitzenden Richter umdenken läßt, ebenso die junge Staatsanwältin. „Sie meinen, Herr Storm leidet unter Demenz?“, fragt diese nach. Die Zeugin zuckt mit den Schultern, schaut zu Storm – und nickt.

      Adolf Storm ist Bundesbahnbeamter im Ruhestand, Witwer, und lebt allein in seinem bezahlten Reihenhaus am Stadtrand von Itzehoe. Seine Pension beläuft sich auf 1.842 Euro netto, womit mindestens 1.300 Euro zum Leben verbleiben. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm gleichwohl Diebstahl in drei Fällen vor, im Bekleidungshaus, im Schuhladen und im Supermarkt, alles innerhalb von vier Monaten. Neben den Langarm-Shirts für 43,90 Euro soll er ein Paar Schuhe im Wert von 59,90 Euro gestohlen haben sowie Zeitungen und Süßigkeiten für 10,33 Euro. „Das paßt doch nicht zusammen“, befindet der Richter.

      „Ich habe das alles bezahlt“, versichert der Angeklagte, „ich habe noch nie etwas gestohlen!“ An irgendwelche Langarm-Shirts im Bekleidungshaus könne er sich ebenso wenig erinnern, wie an irgendwelche Schuhe im Geschäft nebenan. An die Situation im Supermarkt erinnere er sich schon, da sei er von den vielen Menschen einfach an der Kasse „vorbeigeschoben“ worden. Er habe sich sowohl den „Spiegel“ als auch die „Bild“ angeschaut und anschließend bezahlen wollen, „aber die ganzen Leute, die da anstanden, haben mich rausgedrängt“. Warum er deshalb jetzt vor Gericht steht, verstehe er nicht, „ich habe doch anschließend bezahlt“ - und hält die Quittung hoch.

      Ob er in ärztlicher Behandlung sei, möchte der Richter wissen. Storm verneint. Ob seine drei Kinder von dem Prozess wüßten, lautet die nächste Frage. Seine beiden Söhne, von denen einer bei der Bundespolizei arbeitet, nicht, seine Tochter, Angestellte bei der Sparkasse, schon - „aber nicht, dass ich genau heute hier bin.“

      Als nächster Zeuge sagt ein Polizeihauptmeister aus, der bei Storm die angeordnete Hausdurchsuchung geleitet hat. „Herr Storm wirkte schwankend, mal kooperativ, mal aufbrausend.“

      Auf den Polizisten folgt im Zeugenstand Schuhverkäuferin Sabine. Sie sei im Lager gewesen, als die „Warensicherungsanlage“ angesprungen sei. Am Eingang ihres Geschäftes stieß sie auf Adolf Storm, der den Laden zunächst mit den diebstahlgeschützten Schuhen verlassen habe, dann jedoch sofort umgedreht sei. „Er hat die nicht bezahlten Schuhe abgestellt und wollte gehen – da habe ich ihn festgehalten und die Polizei gerufen.“ Storm sei daraufhin aggressiv geworden und wollte durchs Lager fliehen, aufmerksame Passanten hielten ihn jedoch bis zum Eintreffen der Polizeistreife fest. Bei deren Eintreffen holte der alte Mann 80 Euro aus der Tasche und wollte die Schuhe bezahlen. Die Polizisten wollten jedoch kein Geld, sondern seine Personalien. Nachdem Storm zunächst angab, Herbert zu heißen, kramte er seinen Personalausweis hervor, auf dem richtigerweise Adolf stand.

      „Warum klauen Sie Dinge, die Sie problemlos kaufen könnten, beziehungsweise Dinge, die Sie gar nicht brauchen?“ Der Vorsitzende Richter ist mehr und mehr erstaunt über seinen Angeklagten, der sich gelegentlich zu erinnern scheint, dann wieder alles bestreitet. Storm beschickt seinen Hauhalt nach wie vor allein, ab und zu hilft die Tochter. Eine Betreuung brauche und wolle er nicht, erklärt der 74jährige. Was er sich allerdings vorgenommen habe, sei, Kontaktanzeigen aufzugeben, um wieder eine Frau kennenzulernen.

      Zum Schluß der Zeugenvernehmung nimmt der Marktleiter des geschädigten Discounters vor der Richterbank Platz. Auch er kennt Storm schon seit vielen Jahren als Stammkunden. Als er den Angeklagten im Personalraum des Supermarktes wegen offensichtlichen Ladendiebstahles seine Taschen leeren ließ, habe sich dieser nur zögernd kooperativ verhalten. Erst als die Polizei eintraf, kamen Zeitungen, Süßigkeiten und nicht abgewogene Pflaumen zum Vorschein. Daraufhin unterschrieb Adolf Storm ohne Widerrede eine Selbstanzeige und bezahlte die Waren, erhielt dafür auch den im Gerichtssaal hochgehaltenen Kassenbon. „Herr Storm machte auf mich einen ganz normalen Eindruck, nur war er überzeugt, nichts Falsches getan zu haben.“

      Ein Urteil gibt es an diesem Tag nicht. Der Vorsitzende Richter ist nach eigener Aussage überzeugt von der Schuld des Angeklagten, aber darum geht es ihm schon längst nicht mehr. Ihm stellt sich die Frage der Schuldfähigkeit, weshalb er ein medizinisches Gutachten anordnet. Bis zu dessen Fertigstellung wird das Verfahren ausgesetzt. „Wenn jetzt allerdings noch weitere Taten hinzu kommen sollten, könnte das fatale Folgen haben,“ so der Richter.

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      Alfred Rebstock ist ein alter Mann, sollte man bei seinem Vornamen meinen, aber weit gefehlt. Der junge, unsichere Bursche ist im November 1993 geboren worden, also zur Zeit der Hauptverhandlung noch nicht einmal 23 Jahre alt. Andere in seinem Alter haben es zweifelsohne schon weit gebracht, Alfred nicht.

      Als ich ihn vor der Verhandlung auf dem Flur im ersten Stock des Amtsgerichtes treffe und frage, ob die Verhandlung um 13.15 Uhr schon aufgerufen worden ist, schaut er mich fragend an: „Das ist meine Verhandlung“, sagt er schüchtern. Kurz darauf fragt er mich: „Wird man dazu aufgerufen?“ Ich bejahe und ahne schon jetzt, auch dieser Prozeß wird mir vom nur allzu alltäglichen Scheitern erzählen.

      Die persönlichen Lebensumstände sind in der Verhandlung schnell erzählt: Alfred zog mit seiner alleinerziehenden Mutter nach der Trennung vom Vater vor drei Jahren aus dem Münsterland nach Itzehoe. Sohnemann hatte bis dahin zumindest seinen Hauptschulabschluss in der Tasche, die ansonsten jedoch vollkommen leer war – keine Ausbildung, kein Job, kein Geld. Stattdessen hatte Alfred schon mit 16 Jahren Flausen im Kopf, wurde beim Ladendiebstahl erwischt, das Verfahren gegen ihn ließ der Staatsanwalt jedoch wegen der mickrigen Beute fallen. Ein erster Eintrag im Bundeszentralregister war dem Jugendlichen allerdings sicher.

      Der nächste folgte vier Jahre später: Natürlich wollte Alfred auch mal Auto fahren, so wie seine Kumpels, nur hatte Alfred kein Geld für den Führerschein. Dafür jede Menge Pech. Die Polizei stoppte den 20jährigen hinterm Lenkrad. Es gab eine Anklage wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis. Zu allem Überfluss folgte dann der Umzug nach Itzehoe, die ihm aufgebrummten Sozialstunden vergaß er deshalb prompt, den nun folgenden Jugendarrest von zwei Wochen dagegen nie. Eintrag zwei im