Rolf Dermietzel

Stachel im Fleisch


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waren, lagen ausgebreitet auf dem Boden. In der Dämmerung leuchteten die Kissenbezüge, waren heimliche Zeichen von Schlaf und Liebkosung. Sie bargen noch die Körperformen ihrer Bewohner, die nur das Lager verlassen zu haben schienen, um sich im nächsten Moment wieder in seinen Mulden und Tälern niederzulassen. Unter der Matratze lag ein dicker Teppich, und die Seitenteile des Wagens waren mit rotem Samt ausgeschlagen. An der linken Wand wippte ein aus Weiden geflochtenes Gestell, auf dem Kochtöpfe und Geschirr bei jeder Wagenneigung das Innere mit einer blechernen Melodie erfüllten. Die scheppernden Grundakkorde wurden durch die Schlaglöcher in der Straße gesetzt.

      In Paul sollte dieses Gefühl von Geborgenheit und Nähe, nach dem vorausgegangenen Entsetzen, verlassen zu sein wie ein Abdruck in weicher Wachsmasse verharren. Als sie schließlich wieder an der Ringstraße ankamen, ließ er den Wagen noch einmal eine ganze Runde um die Schule drehen, bis er endlich erklärte, dass er hier zu Hause sei. Er sprang vom Wagen herunter. Seine Füße berührten zögernd den Boden. Einen Augenblick lang hatte er das Gefühl, sie wollten sich weigern, ihn zu tragen. Mit einem Korb im Arm, den die Fremden ihm geschenkt hatten, stolperte er rückwärts gehend dem Keller entgegen. Plötzlich überkam ihn das heftige Gefühl, etwas auf dem Wagen vergessen zu haben. Er klopfte hastig seine Taschen ab und fand in der rechten Hosentasche den Haustürschlüssel.

      Drei Tage später verspürte Paul heftigste Kopfschmerzen. Er war den ganzen Nachmittag in seinem Bett geblieben. Am nächsten Morgen sollte er in das Kinderheim gebracht werden. Seine Mutter war besorgt um ihn. Eine große Schwäche war von der Mitte seines Leibes ausgegangen. Von der Stelle, wo er den Magen vermutete, hatten sich Übelkeit und Gelenkschmerzen über seinen Körper ausgebreitet. Wie ein großer schwarzer Vogel hockte der Schmerz auf ihm. Er war in einen tiefen Schlaf gefallen. Doch die scharfen Augen des Vogels schienen jedes seiner Traumbilder zu überwachen. Als er im Schlaf versuchte, seinem Inneren durch einen Hustenstoß Luft zu verschaffen, hob der Vogel ein wenig von seiner Brust ab, um sich jedoch im nächsten Moment wieder in seiner Haut festzukrallen.

      Endlich machten die unruhig an ihm vorbei stürzenden Bilder seiner Träume halt, und er sah vor sich den Zigeunerwagen, hinter dem er mit klopfendem Herzen herlief. Der Vogel flog von seiner Brust, flatterte noch einmal mit klatschenden Flügeln um den Wagen herum und verschwand dann über den Dächern der Ringstraße. Er wachte mit einem Schuldgefühl auf, so als hätte er etwas Unrechtes getan, für das er bestraft werden sollte.

      er gehalten von ihrer hand/ mit dem gegendruck/ um dieser hilflosigkeit zu entgehen/ und die schwester martha führte sie in den speisesaal/ hin und her/ ihre stimme/ wie sie mit nachdruck/ so als wenn er ihr weggehen/ rettungslos wahrnehmen sollte/ aufkreischend alle symptome/ empfindungslage auf dauer/

      Bis auf den merkwürdigen stumpfen Druck in seiner Brust, an der Stelle, wo der Vogel gesessen hatte, fühlte er sich nach dem Aufwachen wohl. Die Mutter war schon mit Packen fertig. In einem aus Weiden geflochtenen Reisekorb, der von zwei breiten Ledergurten zusammengehalten wurde, war alles verstaut, was er brauchte: Die braunen langen Wollstrümpfe, die mit Gummizügen am Leibchen festgeknöpft werden mussten, lange und kurze Hosen, wollene Unterwäsche aus grünem Trikotstoff, ein Paar Sandalen, karierte Flanellhemden und obenauf ein dunkelblauer von der Mutter selbst genähter Tuchmantel, der sein ganzer Stolz war, weil er einen aufgesetzten weißen Kragen besaß, wodurch er ein sonntägliches Aussehen bekam. In jedes Kleidungsstück war ein weißes Band mit seinen Initialen eingenäht. >PD< stand in roten Buchstaben auf dem Band.

      »Und wenn es nun mehrere >PDs< in dem Heim gibt?« Hatte er die Mutter gefragt. Die hatte nur den Kopf geschüttelt. »Die Schwestern werden schon auf deine Sachen aufpassen.«

      Die ersten Stunden hatte Paul das Gefühl, sich durch das Kinderheim zu tasten, das in einem alten Wasserschloss untergebracht war. Ein zäher Nebel schien alle Konturen zu verschleiern. Es war ihm unmöglich, die Dimensionen der Räume zu erfassen, obwohl er mit seinen Augen sah, wo sie begannen und endeten. Als er bei seiner Ankunft neben seiner Mutter die breite von einem grauen, wuchtigen Sandstein Geländer eingerahmte Treppe hinaufgegangen war, hatte er ihre Hand ganz festhalten müssen, und sie hatte versucht, ihm mit einem sanften Gegendruck, die Angst zu nehmen. Gerade zur Essenszeit waren sie eingetroffen, und Schwester Martha hatte sie in den Speisesaal geführt, wo an einem langen Tisch die Kinder auf ihr Essen warteten. Auf einem vierrädrigen Wagen stand ein silbrig glänzender Topf, ungefähr so groß wie ein Waschkessel. Mit einem Kinds-kopf großen Kelle schenkte eine Schwester den Kindern eine cremige Flüssigkeit in die weiß emaillierten tiefen Teller. Es herrschte eine sonderbare Ruhe in dem Saal. Obwohl fast hundert Kinder den Raum bevölkerten, war nur das metallene Klingen zu hören, wenn die Kelle gegen die Topfwand oder die Blechteller schlug. Die Kinder saßen still auf ihren Bänken, beide Hände neben den Tellerrändern flach auf den Tisch gelegt, als wären sie dort festgewachsen. Nur einigen merkte man ihre natürliche Unruhe an. Sie ließen ihre Beine hektisch unter den Bänken baumeln. Die anderen schienen von einer unsichtbaren Kraft gezähmt, die sie lähmte und verstummen ließ. Als Schwester Martha sich an den Kopf des Tisches setzte, war dies offenbar das Zeichen, dass die Kinder mit dem Essen beginnen konnten. Ein aufgeregtes Geklapper erfüllte daraufhin den Saal. Gesprochen wurde jedoch kein Wort. Und wenn ein Kichern aufkam, weil eines der Kinder sich bekleckert hatte, hörte man Marthas Stimme wie sie mit Nachdruck: »Ruhe, Kinder!« rief, und damit das schüttere Lachen erdrückte.

      Paul wurde auf einen freien Platz gesetzt. Der vor ihm stehende Teller füllte sich mit mehlig angesetzter Blumenkohlsuppe. Wieder spürte er den schwarzen Vogel auf seiner Brust und einen Druck, der ihm den Atem nahm. Er sah noch, wie sich seine Mutter durch die Tür hinausschlich. Mit einem Mal schienen die Kinder um ihn herum ihre Teller in die Hand zu nehmen, und mit den Löffeln darauf herumzuschlagen, als wollten sie böse Geister vertreiben. Ein Höllenlärm erfüllte den Saal. Paul hielt sich die Ohren zu. Er sah, wie Schwester Martha ihn an die Hand nahm und hinausführte. Sie trug in der anderen Hand seinen Reisekorb. Wie ein Ertrinkender auf hoher See fühlte er sich. Der Reisekorb, an den er sich klammerte, war seine Rettungsboje.

      Im Schlafsaal türmten sich die stählernen Doppelbetten zu beiden Seiten des Ganges über seinem Kopf auf. Schwester Martha zog ihn bis an das Ende der Reihe und stellte den Koffer ab. Hinter jedem Eisengestänge schien einer der schwarzen Vögel zu lauern. Die restlichen Verrichtungen, das Ausziehen, Aufhäufen der Kleidungsstücke, Arme Hochhalten, vollführte er in einem dumpfen Automatismus. Erschöpft schlief er ein.

      Am nächsten Morgen war das Fieber wiedergekommen. Der ungeschützte Schlaf und der anhaltende Schmerz in seiner Brust hatten der Krankheit Tor und Tür geöffnet. So war der Raubvogel nach langem Kreisen über seiner Beute herabgestoßen und begann sich Paul einzuverleiben. Er wurde hastig auf die Krankenstation verlegt. Der Heimarzt ordnete jedoch an, dass er isoliert werden muss, weil er offenbar eine Infektionskrankheit ausbrütete. Daraufhin wurde Paul in den großen Saal des Schlosses geschoben, der von den Kindern nicht betreten werden durfte. Er konnte noch erkennen, wie sich die weiten Flügeltüren öffneten. Als ihr Zuschlagen in seinen Ohren nachhallte, schien sein Schicksal besiegelt zu sein.

      Sie hatten ihn also in das metallene Kinderbett gelegt. Ohne Widerspruch, zu schwach, um sich aufzurichten, lag er da. Sein Blick reichte gerade über das Kopfkissen hinweg bis zu den angrenzenden Wänden, die noch weiter entrückt zu sein schienen als bei seiner Ankunft. Von einer entfernten Ecke drang das harte Rattern einer Nähmaschine herüber. Das Geräusch war ihm wohlvertraut. Manchmal, wenn er nachts zuhause wach geworden war und noch in warmer Benommenheit aus seinem Bett heraus taumelte, fand er seine Mutter über die Nähmaschine gebeugt. Im Licht der kleinen Nähmaschinenlampe, die nur ihr Gesicht erhellte, sah sie blass und zerbrechlich aus. Wenn sie sich dann umdrehte, auf ihn zuging. Um den Schlaftrunkenen wieder zurück ins Bett zu tragen, ohne ein Wort zu verlieren, war eine sprachlose Innigkeit zwischen ihnen gewesen, deren Verlust ihn jetzt so allein sein ließ. Paul konnte in der weit entfernten Ecke des Saales, aus der das Geräusch kam, die schwarze Haube einer Nonne erkennen, die in ruhigen Bewegungen lange Gardinenbahnen über ihre Nähmaschine schob. Sie blickte nicht von ihrer Arbeit auf. Durch die hohen Fenster, vor denen durchscheinende Vorhänge bis zum Boden hingen, fiel ein milchiges Licht, das seine Wahrnehmungen noch zusätzlich