Ursula Reinhold

"Erlesene" Zeitgenossenschaft


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zu einer Veranstaltung, die für das Selbstbewusstsein der kubanischen Revolution eine große Bedeutung bekam, es wurde ein Vorgang von geschichtlicher Tragweite, ein historischer Glücksfall, den Enzensberger mit dem Material des Protokolls aufgriff. Er hat aus dem Material Verhöre ausgewählt, übersetzt und sie so angeordnet, dass sich im Fortgang der Verhöre nach und nach die wirklichen Motive der Invasoren enthüllten. Es wird deutlich, was sich hinter den Formeln über freie Wahlen, über Meinungsfreiheit und Marktwirtschaft an tatsächlichen ökonomischen und sozialen Interessen verbirgt. So enthüllt der Autor die wirklichen Interessen, die hinter den euphemistischen Formeln stecken, es kommen die wahren Motive für Interessen zum Vorschein, die sich hinter einem Wust von Ideologismen und Idealismen verbergen. Ihr Gebrauch ist interessegeleitet, entspringt mehr oder weniger bewusster Täuschung bzw. Selbsttäuschung. Im szenischen Vorgang, im Hin und Her des Befragens werden Strukturen falschen Bewusstseins offengelegt, die ihre Wirkungskraft zur Durchsetzung von Herrschaftsinteressen bis heute behalten haben.

      Im Gespräch hält der Autor an der Einsicht fest, dass sich jeder Herrschaftsanspruch mit falschem Bewusstsein zu legitimieren sucht. Auf die von mir bemühte Formel von den Arbeiterinteressen in den Gesellschaften des realen Sozialismus geht er nicht ein, lässt das Gesagte einfach stehen, ignoriert es. Er muss sich gedacht haben, dass auch mir irgendwann einmal die Strukturen eigenen falschen Bewusstseins auffallen werden. Aber das dauerte noch eine Zeit lang, damals brachte ich die Vorstellung von falschem Bewusstsein nur mit der imperialistischen Klassengesellschaft in Verbindung. Eine solche Kategorie auf das eigene Denken anzuwenden, lag mir ganz fern, erst spät wurde mir bewusst, dass ideologische Floskeln vor allem Ordnung auf Kosten von Weiterdenken erzeugen, um eine Formel aufzugreifen, die von Friedrich Dürrenmatt stammt.

      Erst einige Zeit nach dem Gespräch las ich Enzensbergers Analyse über den Zustand der Kommunistischen Partei Kubas, eine Arbeit, die zeitnah zu dem Dokumentarstück entstanden war. Er analysiert und beschreibt hier den Widerspruch zwischen Führungsanspruch und Dogmatismus, verweist auf Bürokratisierung, mangelnde Demokratie und Privilegienwirtschaft und übt so eine durchaus verallgemeinerbare Kritik an der Führungsdoktrin staatstragender kommunistischer Parteien auch anderer Staaten. Als ich das las, fiel mir natürlich auf, dass vieles vom Gesagten auch auf meine eigene Partei, die SED, zutraf. Aber damit stieß ich auf eine Problematik, über die weder in der DDR noch in einem anderen sozialistischen Staat öffentlich geredet werden konnte. Allenfalls im kleinen Kreis wurden Fragen des Führungsanspruchs der Partei angesprochen, ihr Verhältnis zu den Massen diskutiert. Die Legitimation für den Führungsanspruch der SED und ihrer Spitze blieb so ungeprüft, bis das Volk entschieden die Gefolgschaft aufkündigte.

      Solche Fragen berührte ich in meinem Beitrag „Literatur und Politik bei Hans Magnus Enzensberger“ nicht. Hier ging es mir um den politischen Charakter seiner Arbeiten, um das Verhältnis von politischem Engagement und poetischem Schaffen in seiner Entwicklung. Denn eine enge Beziehung zwischen den beiden Sphären war und ist für einen Autor wie Hans Magnus Enzensberger konstitutiv. Seit Beginn seiner literarischen Arbeit in der Mitte der Fünfzigerjahre richtet er sein Interesse auf öffentliche Belange, finden Zeitklima und mentale Befindlichkeit im geschichtlichen Augenblick Eingang in Gedichte und Essays. Mit ihnen wurde er Zeuge, Mitgestalter, Anwalt und Kritiker der politischen und literarischen Entwicklung in der Bundesrepublik. Als Dichter, Publizist, Essayist, Übersetzer, Herausgeber und vielseitiger Medienarbeiter hat er sich von Beginn an gegen die dominierende Literaturdoktrin des frühen Adenauer-Staates gewandt, die sich auf Autonomie und Politikferne zurückzog. Der von Gottfried Benn verkündete selbstbezügliche Formalismus war seine Sache nicht, ihn provozierte das Restaurationsklima der frühen Jahre zu vehementem Widerspruch. Literatur und Politik bildeten einen widerspruchsvollen Zusammenhang, in dem er sich als politischer Dichter verstand. Daraus folgten seine poetischen und publizistischen Einsprüche, mit denen er sich aufklärerischem Denken verpflichtete. Mit medienkritischen Analysen, in dem Band „Einzelheiten“ zusammengefasst, begründet er seine grundlegend kritische Haltung gegenüber der manipulierenden Funktion der Bewusstseinsindustrie, untersucht Zusammenhänge von „Politik und Verbrechen“ und stellt seine grundlegenden Vorstellungen über den Zusammenhang von „Poesie und Politik“ vor. Mit der Herausgabe von G. Büchners und L. Weidigs „Der hessische Landbote“ hat er revolutionäre Traditionen wieder ins öffentliche Bewusstsein gebracht. Engagement wurde zu einer wesentlichen Konstituante seines literarischen Selbstverständnisses, was nichts anderes hieß, als dass er sich der öffentlichen Rolle, in die er geriet, bewusst zu werden suchte, um sie verantwortungsvoll wahrzunehmen. Zu den geistigen Vätern solchen Engagements gehörte Jean Paul Sartre, der seine Vorstellungen von littérature engagée in der Résistance entwickelt hatte und dessen Auffassungen für viele aus der Generation junger Schriftsteller, die nach dem Krieg in Westdeutschland zu schreiben begannen, wesentlich wurden. Sartre spezifizierte später seine Ansicht für die Bedingungen des bürgerlichen Literaturbetriebs und grenzte sie dabei gegen den Parteilichkeitsbegriff kommunistischer Schriftsteller ab. Moralische Integrität, selbstverantwortete Unabhängigkeit im Denken, parteipolitische Abstinenz sah er als Voraussetzungen für eine belangvolle öffentliche Mitsprache.

      Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs war Enzensberger ein Protagonist des linken Zeitgeistes, der damals, im Unterschied zu heute, die öffentliche Meinungsbildung mitbestimmte. Dabei ist unserem Gesprächspartner durchaus bewusst gewesen, dass die demokratische Bewegung keine Massen von Menschen erreichte. Dennoch hielt er den Grad gesellschaftlicher Gärung für beträchtlich und sah in diesem Kontext auch die Rolle von Intellektuellen, die mit ihren speziellen Fähigkeiten und Wirkungsmöglichkeiten daran teilnehmen sollten. In der geistigen Potenz linker, unabhängig denkender Intellektueller vermutete er eine Quelle für die Herausbildung alternativen Bewusstseins, erhoffte von ihrem Wirken die Unterwanderung der bestehenden Medienmacht. Dabei ging er davon aus, dass die bürgerlichen Medien auf die Mitarbeit von Trägern kultureller und geistiger Produktivität angewiesen blieben. Aussichten und Möglichkeiten, die herrschende Medienmacht zu brechen, spielten in seinen damaligen Überlegungen eine wichtige Rolle. Seine analytischen Essays zur Bewusstseinsindustrie lagen seit zehn Jahren vor. Aus dem Befund von deren manipulierender Funktion folgte vor allem auch die Notwendigkeit für die Opposition, eigene, konzernunabhängige Publikationsorgane und Medien zu entwickeln. Auf ihre Herausbildung setzte Enzensberger damals viel Hoffnung. Mit dem „Kursbuch“ gab es seit 1965 ein solches unabhängiges Publikationsmittel, zum Zeitpunkt des Gesprächs hatte er die Bindung an den Suhrkamp Verlag aufgekündigt. Und darüber hinaus gab es in dieser Zeit ein ganzes Netzwerk alternativer und linker Produktionsmittel, vor allem im Verlagswesen. Dennoch blieb die Macht der konzertierten Medien bestehen, deren Möglichkeiten er für eigene Publikationen immer auch nutzte. Vorwürfen in dieser Frage begegnete er mit dem Hinweis, dass die „Berührungsangst mit der Scheiße“ ein Luxus sei, den sich ein Kanalisationsarbeiter nicht leisten könne. Es ist viel Zuversicht zu spüren, dass sich die vorhandenen Anfänge von Gegenöffentlichkeit weiter entwickeln und ausbauen lassen werden.

      Zeugnis für die in meinem Kopf wirkende Schere ist, dass nur Themen zur Sprache kamen, auf die man Antworten erwarten konnte, deren Veröffentlichung, ohne Schwierigkeiten zu bekommen, in den „Weimarer Beiträgen“ möglich war. Damals war mir das allerdings nicht bewusst, es wird mir erst im Rückblick deutlich. Denn wie anders wäre zu erklären, dass Probleme von Mediengebrauch und Öffentlichkeit nur im Hinblick auf die andere Gesellschaft erörtert werden und jeder Bezug auf DDR-Realitäten unterbleibt. Als wäre in der Presselandschaft und im Verlagswesen, das auf der Existenz volkseigener Verlage beruhte, alles aufs Beste geregelt. Das war natürlich nicht so, wir alle kannten die komplizierten Prozeduren, die der Veröffentlichung neuer Bücher vorausgingen, sie mitunter auch verhinderten, wussten von der Existenz der ministeriellen Behörde, die für ein lästiges und langwieriges Genehmigungsverfahren zuständig war, und kannten die Folgen für Autoren. Das 11. Plenum vom Ende des Jahres 1965, das die Produktion mehrerer Jahre von Filmarbeit hatte sterben lassen, lag zwar schon einige Jahre zurück, aber auch aktuell gab es mehr oder weniger öffentliches Hin und Her um Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“ u. a. Von alledem hörte und wusste ich, blieb aber unsicher im eigenen Urteil. Natürlich kannte ich Menschen, klügere als ich, bekannte Intellektuelle, die über all das besser Bescheid wussten. Sie wussten, was im inneren Zirkel des DDR-Kunst- und Literaturbetriebs vor sich ging, waren mit den verschiedenen Meinungen und Haltungen von