Petra Pfeiffer

Gano


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      PETRA PFEIFFER

      Gano

      Das Flüstern aus der Tiefe

      Roman

       Für meinen Ehemann. Den besten von allen.

       Prolog

       Chile, im Jahr 1878, südwestlich von Villarrica

      »Señor van Lyncken, kommen Sie bitte!« Vicente war außer Atem, nachdem er den ganzen Weg zum Lager der kleinen Expedition gerannt war. Es war heiß, über dreißig Grad im Schatten, und die kleine Gruppe hatte sich in den letzten Wochen langsam, aber stetig durch die unterschiedlichen Vegetationszonen gearbeitet, um die größtenteils unbekannten Pflanzen dieser Gegend zu erforschen und zu katalogisieren. Für den deutschen Wissenschaftler Dr. Peter van Lyncken war es eine große Ehre, von der Universität Berlin als Expeditionsleiter für diese Aufgabe ausgewählt worden zu sein. Nach einer mehrjährigen Lehrtätigkeit in Chile war diese Expedition der krönende Abschluss seiner Tätigkeit auf einem fremden Kontinent.

      Van Lyncken sah von seinen Notizen auf. »Was ist denn los, mein lieber Vicente?«

      »Señor, Joaquin und Cristobal haben in einer kleinen schattigen Schlucht etwas gefunden, das sehr eigenartig aussieht. Vielleicht sollten Sie es selbst einmal untersuchen.«

      Der Biologe stand ächzend von seinem improvisierten Arbeitsplatz auf und folgte seinem Assistenten hinab in die Schlucht, die etwa dreihundert Meter vom Lager entfernt war. Ein kleines Grüppchen stand um einen grünlichen Buckel am Boden herum.

      Joaquin ergriff das Wort. »Sehen Sie, Señor, wir glauben, das ist eine Art Pilz, aber keiner von uns weiß so recht, wie wir ihn einordnen sollen – keiner von uns hat so etwas jemals gesehen.«

      Van Lyncken setzte seine Brille auf und beugte sich hinunter. Der Buckel schimmerte grünlich, etwas feucht, fast als lebte er – oder etwas in ihm. »In der Tat, auf Anhieb kann ich mir da auch keinen Reim darauf machen … lass uns eine kleine Probe mit nach Hause nehmen, an der Universität haben sie bessere Analysewerkzeuge als wir hier mit unserer doch sehr begrenzten Ausrüstung.« Er nahm ein kleines Glasröhrchen aus der Tasche, die er aus dem Lager mit­gebracht hatte, und schabte vorsichtig einige Zentimeter von dem grünen Schleim ab. »So, mein Guter, jetzt wirst du eine weite Reise nach Deutschland machen …«

       Kapitel 1

       Ella

      »Feierabend!«, seufzte Ella erleichtert, ausnahmsweise pünktlich. Was für ein Glücksfall, da sie am Abend mit ihrer Mutter zum Essen verabredet war. Gerne legte ihr der Chef noch in letzter Sekunde einen eiligen Auftrag auf den Tisch. Heute war er auf einer Schulung gewesen, deshalb hatte sie einen ruhigen Tag im Büro verbringen können.

      Der Raum bot ihr eine kleine Waschgelegenheit, mit Waschbecken und Spiegel. Sie blickte in den Spiegel und bürstete sich energisch das dunkelbraune, halblange Haar. Noch etwas Eyeliner, um die braunen Augen zu betonen, Wimperntusche, fertig. Sie betrachtete ihr Gesicht mit der etwas zu groß geratenen Nase und den ausgeprägten Wangenknochen. Nein, eine Schönheit war sie nicht, aber durchaus gutaussehend. Wie schön wäre es, heute Abend ein Date zu haben statt mit ihrer Mutter essen zu gehen. Sogar ihre Mutter war der Meinung, dass es mit 24 Jahren an der Zeit war, eine feste Beziehung zu führen. Aber da hatte ihr Bernd einen dicken Strich durch die Lebensplanung gemacht und sie vor vier Monaten für eine 30-jährige Diplomsozialpädagogin verlassen. Jetzt bewohnte sie die kuschelige Zwei­zim­mer­woh­nung in Heimlingen alleine. Vor zwei Jahren hatten Bernd und sie die kleine Wohnung angemietet und waren unglaublich glücklich in ihrer Zweisamkeit. In ihren Träumen kamen bereits zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, ein Golden Retriever und ein großes Einfamilienhaus im Grünen vor. Ella zuckte mit den Schultern. Sollte Bernd doch glücklich werden mit seiner Diplomsozialpädagogin.

      Sie holte ihren Blazer aus dem Schrank, zog ihn über ihre blau gemusterte Bluse, die gut zu den Jeans und den Turnschuhen passte, hängte sich ihre große Umhängetasche über die Schulter, und warf noch einen prüfenden Blick durch ihr Büro. Die Fenster waren zu, der Computer ausgeschaltet, die Schreibtischlampe aus. Sie zog die Bürotür hinter sich zu und sperrte ab. Am Ausgang steckte sie ihren Ausweis in das Zeiterfassungsgerät, winkte dem Pförtner fröhlich zu und verließ das Gebäude.

      Bis zur Bushaltestelle musste sie einige hundert Meter laufen. Die Tasche hing ihr schwer über der Schulter. »Was habe ich da eigentlich alles drin?«, überlegte Ella und zog den Riemen wieder höher über die Schulter. Ella verzichtete gern auf das Auto. Auf der Schnellstraße war während des Berufsverkehrs immer Stau; der Bus stand zwar auch in der Kolonne, aber sie konnte die Zeit wenigstens dazu nutzen, sich zu entspannen, weiter in ihrem Thriller zu schmökern, oder einfach vor sich hin zu träumen.

      Sie ging die Gartenstraße schnellen Schrittes entlang. Der Weg zur Haltestelle führte geradeaus, bis er auf die Hauptstraße stieß; dort, gleich ums Eck, war das Haltestellenhäuschen. Die Gartenstraße war gesäumt von alten Vorkriegshäusern. Manche wirkten heruntergekommen, hatten aber ihren eigenen Charme entwickelt, mit den schiefen Fensterläden und den efeubewachsenen Fassaden. Sie standen neben liebevoll renovierten Häusern, die zu wahren Schmuckstücken geworden waren. Zu jedem Haus gehörte ein kleiner Vorgarten, und dahinter öffnete sich jeweils ein großer, parkähnlicher Garten. Eine schöne Wohngegend, dachte Ella, aber die Häuser waren bestimmt unbezahlbar, und wenn nicht, dann war eine Renovierung sicher ruinös. Am liebsten ging sie auf der linken Straßenseite. Hier musste sie zwar zwei Seitenstraßen überqueren, aber die Wohngegend war kaum befahren, und sie kam an den schönsten Vorgärten vorbei. Es waren kleine, gepflegte Schmuckstücke, üppig bewachsen mit Rhododendren, Hortensien, Rosen und Lavendel, die je nach Jahreszeit ein wahres Blütenmeer entfalteten.

      Gerade überquerte sie eine der Seitenstraßen, als sie lautes Gegröle hörte. Sie drehte sich um und sah drei große Jugendliche den Gehweg entlang torkeln. Die drei trugen schwere Springerstiefel, die Haare kurzgeschoren, einer hatte eine überschäumende Bierflasche in der Hand. Ella packte ihre Tasche fester und ging energisch weiter. Nur nicht auffallen, dachte sie. Was gar nicht so einfach war: Kein Auto oder Radfahrer war in Sicht; weit und breit werkelte niemand in den Gärten. Ein lautes Klirren war zu hören. »Ey, scheiße, Mann, jetzt ist das Bier hin!« Nun wurde es Ella doch mulmig. Sie senkte den Kopf und ging schneller. »Du bist doch echt der totale Loser«, grölte einer der Jugendlichen, dann johlten und lachten die drei. »Ey, da vorne läuft eine! Los, schnappen wir uns die Alte!«

      »Oh nein«, dachte Ella, »jetzt sind sie hinter mir her!« Sie begann zu rennen, die schwere Tasche schlug ihr gegen den Rücken. Hilfe, dachte sie. »Hilfe!«, krächzte sie erstickt. Ella bekam heftiges Seitenstechen, sie japste und rang nach Luft. Hinter ihr hallten die Springerstiefel auf dem Asphalt. Sie konnte den Atem der Verfolger förmlich in ihrem Nacken spüren. »Bleib doch stehen, Süße!« – »Gib die Tasche, Alte!« Plötzlich erhielt sie einen heftigen Stoß in den Rücken, stolperte hilflos nach vorne, sah den Asphalt auf sich zukommen … und fing sich gerade noch. Ella richtete sich auf und rannte, heftig nach Luft schnappend, weiter. Sie lief in eine Nebelfront hinein. Die Straße war in dichten, grauen Nebel gehüllt. Seltsam, wunderte sie sich, gerade war doch noch strahlender Sonnenschein. Links von ihr sah sie eine offene Tür, durch deren Spalt diffuses Licht durch den Nebelvorhang strömte. Meine Rettung, dachte sie erleichtert, machte einen scharfen Linksschwenk, rannte durch den kleinen Vorgarten, die Stufen zur der offenen Eingangstür hinauf, schlüpfte hindurch und drückte kräftig mit dem Rücken die Haustür zu.

      Sie beugte den Oberkörper nach vorne, stützte sich mit den Händen auf den Knien ab und ließ ihre Tasche dabei zu Boden gleiten. Sie versuchte, regelmäßig tief ein und auszuatmen, was einen heftigen Hustenanfall zur Folge hatte. Links neben ihr befand sich ein schmales Fenster aus kleinen Buntglasscheiben. Sie spähte vorsichtig hinaus. Viel konnte sie in dem dichten Nebel nicht erkennen, aber von ihren Verfolgern war nichts zu sehen.

      Jetzt erst sah sie sich um. Niemand schien ihr Eindringen bemerkt zu haben. Es roch irgendwie eigenartig. Bitter, oder eher modrig? Sie stand in einem langen Flur, der von wunderschönen Wandlämpchen aus feinem Glas in ein angenehmes Licht gehüllt