Rücken«, jammerte er manches Mal seiner Lebenspartnerin am frühen Morgen vor, »mein Rücken bringt mich noch um.«
Sophie Shi lächelte bloß dazu, meistens sogar ziemlich abfällig. Denn sie wusste sehr genau, wie körperlich fit Fu Lingpo tatsächlich noch war. Er konnte es noch mit jedem Dreißigjährigen aufnehmen. Zwar nicht bezüglich Körperkraft oder Beweglichkeit oder gar Schnelligkeit. Doch alle diese Mängel glich der Chinese durch seine Hinterlist und eine schonungslose Brutalität aus. Wenn Fu Lingpo eines konnte, so war es Gewalt. Die hatte er in seinem langen Leben erst kennen und dann anzuwenden gelernt und in seiner ganz persönlichen Weise zu einer echten Blühte gebracht. Ja, Fu Lingpo hatte ausgesprochen gewalttätige Jahrzehnte hinter sich gebracht, musste deshalb kaum noch jemanden fürchten, wusste fast immer, was zu tun war.
Sophie Shi traf jeweils gegen zehn Uhr morgens in der Küche des Pubs ein, hatte zuvor auf dem Markt fürs Mittagsgeschäft eingekauft, kannte ihre Rezepte und die zu erwartenden Mengen auswendig im Kopf, begann um diese Zeit mit den Vorbereitungen für den Lunch, während ihr Lebenspartner die große Schiefertafel mit dem Angebot des Tages beschrieb und nach draußen hängte und zusätzlich am alten Computer zwei Dutzend einfache Handzettel ausdruckte, die er auf den Tischen und auf seiner Theke verteilte.
Die Chinesin war eine schöne Frau gewesen, in ihrer Jugend, hatte ihren mädchenhaften Körper bis ins Alter bewahrt, auch wenn die Runzeln und die zunehmend fleckige Haut ihre übergroße Lebenserfahrung verrieten. Sophie Shi war nämlich schon als kleines Mädchen an ein Bordell verkauft worden, lernte dort das Geschäft von der Pike auf kennen, machte sich später selbstständig, war über viele Jahre in Hongkong sehr erfolgreich tätig gewesen, bevor sie sich mit dem Aufkommen des Internets nur noch als Digital-Hure verdingt hatte. Nichts an möglicher und unmöglicher männlicher Fantasie und Abartigkeit war ihr in diesen Jahren verborgen geblieben. Sophie kannte das Leben mit all seinen Höhen und den sehr viel häufigeren Tiefen, machte sich keine Illusionen mehr.
Doch irgendwann hatten Fu und Sophie das große Glück, einander kennenzulernen. Sie waren Wohnungsnachbarn gewesen im riesigen Apartmenthaus-Komplex in Hongkong, trafen sich so manches Mal eher zufällig vor dem Aufzug. Sie mochten einander von Beginn weg, auch wenn sie nur sehr wenig voneinander wussten. Und ihre Liebe musste erst einige ausgesprochen hohe Hürden überwinden, bevor sie dauerhaft zueinander finden konnten.
Der Chinese war als Waise aufgewachsen, musste schon als Knabe lernen, wie man sich in dieser so harten Welt durchschlägt und gleichzeitig auch noch für zwei jüngere Schwestern sorgte. Bereits als Teenager galt er unter den erwachsenen Gangstern als höchst verschlagen und kompromisslos brutal. Denn Fu Lingpo setzte seine Ellbogen und Fäuste ohne jede Rücksicht ein, wenn er weder Pistole noch Messer oder wenigstens einen Baseball-Schläger zur Hand hatte. Er wurde später Mitglied einer der größten Triaden in Hongkong, war dort vor allem als sogenannter Ausputzer tätig gewesen. Denn Lingpo war zumindest damals noch hart wie Stein gewesen, kannte weder Skrupel oder Scham und schon gar kein Gefühl der Schonung, war ohne jedes Gewissen, hatte sogar Frauen und auch Kinder, ohne zu zögern umgebracht, wenn von ihm verlangt. Auf seine Weise arbeitete er sich in der Verbrecherorganisation hoch, vom Streuner zum Schläger, hin zum Gangster bis zum kaltblütigen Auftragsmörder.
Doch vor einigen Jahren erlebte Fu Lingpo das umgekehrte Stockholm-Syndrom. Er musste damals im Auftrag seiner Triade eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter entführen und tagelang festhalten. Dabei beobachtete er diese Frau und wunderte sich immer mehr über sie und ihre Haltung. Denn diese Mutter zeigte keinerlei Angst und verzweifelte nicht, auch wenn sie große Furcht verspürte. Sie sprach ihrer Tochter trotz eigener Not immer wieder guten Mut zu, ließ sich von ihrer eigentlich völlig hoffnungslosen Lage zu keinem Zeitpunkt überwältigen. Sie bewies eine wahre und zähe Kämpfernatur. Solche Frauen hatte Fu Lingpo nie zuvor kennengelernt, hatte auch nie von ihnen gehört. Der sonst so brutale Gangster und gewissenlose Mörder verliebte sich in sein Opfer und verhalf der Mutter und ihrem Kind wenig später zur Flucht.
Seine Triade bestrafte ihn für den Vertrauensbruch. Doch man tötete ihn nicht, sondern verstieß ihn nur. Warum man ihm damals keine Kugel verpasst oder eine Würgeschlinge umgelegt hatte, wusste Lingpo bis heute nicht zu erklären. Doch er war plötzlich frei. Das erste Mal in seinem Leben. Gleichzeitig begann er zu spüren, dass er sich neue Ziele setzen musste und das auch konnte.
Zuerst besuchte er die von ihm entführte Mutter in der Schweiz, tötete ohne Wissen der Frau einen ihrer früheren, nun erpresserischen Liebhaber. Erst einige Zeit später verstand der Chinese aber, nach was er tatsächlich suchte, nämlich nicht wirklich nach Liebe, sondern einzig nach Heimat. Das war ein Gefühl, das er nie zuvor bewusst empfunden hatte. Diese Frau und Mutter machte ihm das damals klar. Vielleicht konnte sie das, weil sie selbst keine Heimat besaß? Fu Lingpo kehrte jedenfalls zurück nach Hongkong und fand dort Sophie Shi.
Doch auf ihrem neuen Lebensglück lag von Anfang an ein mächtig großer Schatten. Denn seine ehemalige Triade begann das Paar in Hongkong zu verfolgen. Schließlich flohen die beiden nach Afrika, um hier gemeinsam ein neues Leben aufzubauen, versuchten es jedoch ohne großen Erfolg in Kenia, probierten es nun erneut in Kapstadt.
In ihrem Lokal lief den ganzen Tag über der Fernseher an der Wand, war fast immer auf CNN eingestellt, wohl um etwas amerikanisches Flair in das chinesisch-irisch-südafrikanische Pub mit den Frühstücks-Croissants zu bringen. Viele der Gäste über Mittag liebten es allerdings, die neuesten Entgleisungen des US-Präsidenten Trump im US-Morgenfernsehen, stets abfällig von einer Sprecherin oder Sprecher kommentiert, zusammen mit ihrem Essen serviert zu bekommen.
Wie hatten die USA bloß einen solchen Trottel in ein solch hohes Amt wählen können? Dass der eigene Präsident Südafrikas, Jacob Zuma, weitaus unfähiger und korrupter als Trump war, wussten die Gäste selbstverständlich. Doch Zuma war für sie längst zu einer unumstößlichen Tatsache geworden, gehörte als Teil ihrer gemeinsamen Geschichte zu ihnen. Man konnte seinen Werdegang doch weder verleugnen noch ihn austauschen, musste mit ihm leben. Doch diesen Donald Trump hätte man ohne Weiteres verhindern können und auch müssen.
An einem dieser Mittage wurde eine Nachricht verbreitet, die fast alle Gäste zumindest für kurze Zeit elektrisierte. Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un erklärte sich überraschend bereit, den amerikanischen Präsidenten zu treffen und Friedens- und Abrüstungs-Gespräche mit den USA zu führen. Und Trump hatte bereits freudig getwittert, dass er jederzeit bereit wäre, auch ohne jede Vorbedingung, den kleinen, dicken Diktator zu treffen, wie er Kim Jong-un nur wenige Wochen zuvor betitelt hatte.
Die meisten Anwesenden im Pub begannen nun heftig miteinander zu diskutieren. Kaum einer glaubte an irgendeine Form von Ehrlichkeit, weder auf Seiten Nordkoreas noch der USA.
»Kim zieht wieder einmal eine Show ab, verspricht das Blaue vom Himmel, nur damit die Sanktionen der USA gelockert werden. Wenig später lässt er die nächste Rakete über Japan hinweg fliegen. Doch dieser Trottel Trump wird bestimmt auf den kleinen, dicken Kommunisten hereinfallen. Genauso, wie zuvor Obama und auch dieser Bush Junior.«
So führte einer an der Theke das laute Wort. Er hieß Kulang und trank über den Mittag jeweils zwei große Bier, aß dafür nichts, nicht einmal die Gratis-Irish-Dim-Sum von Sophie.
Fu Lingpo wusste zwar um Einiges besser Bescheid als sein Gast, dass beispielsweise Kim Jong-un erst seit 2011 an der Macht war und George W. Bush ergo nur mit dessen Vater Kim Jong-il zu tun bekommen hatte. Doch warum sollte der Chinese einen zahlenden Stammkunden mit seinen Kenntnissen verärgern? So brummte Fu bloß irgendetwas vor sich her, das man ohne weiteres als Zustimmung werten mochte. Auch die Nachbarn von Kulang am Tresen nickten kauend, weniger als ein Zeichen ihres Einverständnisses, als vielmehr zur Beruhigung des laut gewordenen Biertrinkers mit dem gedrungenen, sehr kräftigen Körper.
An den Tischen war die Diskussion allerdings weitaus vielfältiger. Die weniger gut Informierten wurden von anderen darüber aufgeklärt, dass Trump die Daumenschrauben gegenüber Nordkorea doch ganz schön angezogen hatte. Zuerst zwang der US-Präsident die Chinesen dazu, die Unterstützung für ihren kleinen Nachbarn weiter einzuschränken. Beispielsweise wurden chinesische Banken gebrandmarkt, die Geschäfte für Nordkorea abgewickelt hatten. Zugleich hielt sich Trump auch weitgehend