Kendran Brooks

Head Game


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schloss probeweise ihre Augen. Doch an Schlaf war für sie nicht mehr zu denken. Denn irgendetwas war da weiterhin vorhanden. In ihren Erinnerungen oder in ihren Gefühlen, etwas das sie nun bereits seit mehreren Wochen immer wieder mal aus dem Schlaf schrecken ließ, so dass sie mit heftig pochendem Herzen erwachte.

      Sihena Ling dachte mit geschlossenen Augen nach.

      Ihre Mutter war in Peking aufgewachsen, hatte dort studiert, Mandarin und chinesische Geschichte. Später heiratete sie ihren um viele Jahre älteren Professor und Mentor Wengdo Wong. Die beiden lebten einige Jahre lang in Peking, bekamen dort auch ihr einziges Kind. Sie nannten ihre Tochter Sihena, nach einer vor Jahren verstorbenen Tante ihres Vaters. Doch während der Kulturrevolution mussten ihre Eltern mit der Tochter zusammen fliehen. Auf einer abenteuerlichen Reise gelangten sie über Hongkong nach Taiwan und von dort über Australien nach Brasilien. Damals war Sihena gerade vierzehn Jahre alt geworden, ein typischer chinesischer Teenager, der sämtliche Ideologien des Staatsapparats schon vom Kindergarten an eingeflößt bekommen hatte und nichts anderes auf der Welt kannte und auch nichts anderes als richtig erkannte.

      Ihre Eltern waren zwar nie Maoisten gewesen, hatten die Ideologie des Führers insgeheim sogar verachtet und gehasst, ihre Tochter jedoch als Kind und Jugendliche nie korrigiert. Denn zu sehr waren die Schergen der Staatsgewalt ständig darauf bedacht gewesen, selbst schon die Allerjüngsten auszuhorchen und auf diese Weise die Abweichler und möglichen Aufwieglern gegen die Staats-Doktrin zu entlarven. Erst als sie alle gemeinsam in Brasilien angekommen waren und ihr Vater eine Anstellung als Chinesisch-Lehrer ergattert hatte, sprachen ihre Eltern mit ihr offen über all das Unrecht und die Gewalt, die in ihrer alten Heimat herrschten, auch vom Druck der kommunistischen Partei auf jedes einzelne Individuum, ebenso von der Selbstverleugnung der meisten Menschen und vom großen Elend all jener, die sich offen gegen diesen Unrechtsstaat auflehnten.

      Sihena hatte das alles aber erst nach vielen Jahren verstanden, hatte sich zuerst sogar gegen ihre eigenen Eltern gewehrt, wollte nichts wahrhaben, nichts gelten lassen, war während ihrer Schulzeit in China ganz einfach zu sehr geimpft worden, von der allumfassenden Ideologie eines Machthabers, der jede mögliche Opposition schon in den Anfängen zertrat und ausmerzte und dazu auch die jüngsten Kinder schamlos ausnutzte.

      Doch Sihena erkannte schließlich doch das Unrecht und sie wandelte sich. Dazu beigetragen hatte sicher auch ihr ständiger Umgang mit brasilianischen Teenagern in der Schulklasse. Sihena musste damals zwar gleich drei Stufen wiederholen, bis sie endlich das Portugiesisch gut genug beherrschte, um mithalten zu können und sich in der neuen Gemeinschaft zu behaupten. Doch gleichzeitig begann sie, den brasilianischen Lebensstil zu lieben und den chinesischen unter Mao zu verachten.

      Schon mit zwanzig oder einundzwanzig Jahren lernte sie Zenweih Ling kennen. Er war der Sohn eines chinesischen Auswanderers und in Brasilien geboren und aufgewachsen. Seine Eltern betrieben drei kleine China-Restaurants, eher Imbiss-Stuben, die einfachste Gerichte zu günstigsten Preisen servierten. Für ihre hochgebildeten Eltern war Zenweih Ling und dessen Eltern darum kein akzeptabler Umgang.

      »Was willst du mit diesem Mann aus der Gosse?«, warf ihr die stolze Mutter vor, »Familie Ling lebt doch intellektuell immer noch in der Steinzeit?«

      Und ihr Vater Wengdo, der hier in Brasilien als kleiner Lehrer für eine unbedeutende Schule arbeitete, hieb in dieselbe Kerbe, drückte sich noch drastischer aus, sprach vom Bodensatz der Zivilisation, von einer Beleidigung des Intellekts.

      Erst sehr viel später konnte Sihena ihre Eltern verstehen. Denn all ihr riesiges Wissen über die Sprache und die Kultur des großen China war hier in Brasilien einfach nicht gefragt. Statt an einer Universität den interessierten Studenten sein Heimatland näher bringen zu können, büffelte ihr Vater mit irgendwelchen Kindern im Freifach Chinesisch die Schriftzeichen, ihre Bedeutung und ihre Aussprache. Und so wurde Wengdo Wong schon bald zu einem verbrämten und vom Leben enttäuschten Mann, als den sie ihn auch nach seinem Tod in Erinnerung behielt.

      »Die Lings mögen rechtschaffene und hart arbeitende Menschen sein. Doch über was willst du dich mit diesem Zenweih eigentlich unterhalten? Er kennt China bloß vom Hörensagen und ist hier in Brasilien als Asiat genauso ein Aussätziger, wie wir Wongs auch. Schlitzaugen nennen sie uns. Oder Kulis«, so ihr Vater, nachdem sie sich weiterhin mit Zenweih traf.

      Doch wer verliebt war, der fragte nicht nach Gesprächsthemen, der wollte einfach nur leben, spüren, fühlen und nicht zuletzt träumen. Und so festigte sich ihre Beziehung trotz des Widerstandes ihrer Eltern, oder gerade deswegen, wurde groß und wunderbar.

      Sie heiratete Zenweih Ling nach nur einem Dreivierteljahr und ohne Zustimmung ihrer Eltern. Der Kontakt zu ihnen gestaltete sich für sie hinterher äußerst schwierig, wurde bei jedem ihrer Besuche von heftigen Vorwürfen und gehässigen Streitereien überschattet. Sihena ertrug vieles, gehorsam und stoisch, wie es die Pflicht einer jeden guten chinesischen Tochter war. Umso mehr freute sie sich jedes Mal, wenn sie hinterher wieder zurück in der winzigen Wohnung war, die sie zusammen mit Zenweih Ling über einem der Imbiss-Restaurants seiner Eltern bewohnte. Vom Hausflur aus führte die Eingangstür direkt in das einzige Zimmer, in dem zwei Sessel, ihr schmales Bett und eine kleine Einbauküche für nur wenig Atmosphäre sorgten. Doch die Wohnung besaß ein eigenes Bad, in diesem ansonsten ziemlich schäbigen Haus ein großer Luxus. Zenweihs Eltern hatten es vor Jahren günstig gekauft und vermieteten die nicht renovierten Apartments möglichst teuer an andere Migranten aus der halben Welt.

      Sihena gab ihr begonnenes Studium als angehende Ärztin schon bald nach der Hochzeit auf und trat ins Familienunternehmen der Lings ein, arbeitete zuerst nur in der Buchhaltung, später auch im Einkauf, schlug sich mit unflätigen Gemüsehändlern und frechen Fleischlieferanten herum. Und trotzdem war das die schönste Zeit in ihrem ganzen Leben gewesen, konnte sie sich doch mit Zenweih Ling nach jedem harten Arbeitstag in ihre kleine Oase zurückziehen. Damals liebten sie sich noch fast täglich, vor allem auch, weil Zenweih Ling meistens viel zu rasch zum Erguss kam. Der für einen Chinesen hoch aufgeschossene junge Mann roch meistens nach Bratenfett und geschmorter Entenhaut, wenn er sie in seine Arme nahm. Doch was waren das für wunderbare Düfte der Liebe?

      Als der Vater von Zenweih starb, übernahm er als einziges Kind das Geschäft. Zusammen mit Sihena steckte er sich bald hohe Ziele und gemeinsam machten sie große Pläne, eröffneten nach und nach weitere und immer gediegenere Restaurants in der Stadt, wurden sehr rasch zu sehr erfolgreichen Wirtsleuten und Unternehmern, schufen sich einen wachsenden Wohlstand, der sich irgendwann in echten Reichtum verwandelt hatte.

      Sihena bekam auch Kinder von Zenweih Ling, drei Töchter und zwei Söhne. Die fünf Enkelkinder ließen die verhärtete Kruste ihrer eigenen Eltern endlich aufplatzen. Sicher sorgte auch der steigende Wohlstand aus dem Restaurant-Business für zusätzliche Entspannung. Reichlich Kinder und reichlich Geld. Mehr Fantasie für ein glückliches Leben besaßen ihre Eltern nicht mehr, trotz all ihrer Kultur und ihres hohen Geistes. Denn wer über Jahre hinweg bis zum Hals in wachsenden Sorgen um die eigene Zukunft steckte, der fand in seinem Kopf kaum noch Platz für andere Dinge, höchstens noch für Neid und Vorurteile.

      Doch Sihena war zufrieden, hatte sich doch das früher ewig wiederkehrende Gezanke um die unerwünschte Heirat in ein wohlgefälliges Beobachten der rasch wachsenden Familie Zenweih und Sihena Ling gewandelt.

      Trotz der besseren Stimmung fühlte sich Sihena, nachdem ihre Eltern kurz hintereinander verstorben waren, irgendwie befreit, so als wäre ihr der allerletzte Albdruck von der Brust genommen, ihre letzte Verbindung zum chinesischen Reich und seiner immer noch alles beherrschenden Diktatur gekappt. Und sie sah ihre fünf Kinder damals als einen riesigen Schatz an, als eine Art von Gegenpol zur unmenschlich Einkind-Doktrin ihrer alten Heimat, aber auch als Ausdruck ihrer grenzenlosen Befreiung in Brasilien.

      Zenweih und Sihena Ling hatten sich im Laufe der Jahre ein Restaurant-Imperium aufgebaut, das aus mehreren Dutzend Lokalen bestand, hier in Rio de Janeiro, aber auch in anderen Großstädten. Doch das Ehepaar entfremdete sich schleichend voneinander, Schritt-für-Schritt und mit dem Erwachsenwerden ihrer Kinder. Und genauso, wie sich ihre Söhne und Töchter nach und nach von ihren Eltern lösten, verwelkte auch die Liebe zwischen Sihena und Zenweih.

      Ob zuerst sie oder ihr Gatte fremd