Fritz Leverenz

Du hoffst, und ich gehe


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Hörer mit zwei Fingern hielt, weil sie ihre fettigen Hände nicht so rasch hatte abwischen können und wie gern sie nach Köln mitgefahren wäre.

      "Na, und?" fragte sie vorsichtig. Jonas hörte sie sich mehrmals räuspern. Sie kannte seine Niedergeschlagenheit. Er brauchte Wochen, um die Enttäuschung halbwegs zu überwinden.

      "Genehmigt", sagte er gelassen, konnte aber nicht verhindern, dass es fröhlich klang. Er fühlte sich einfach unglaublich. Er hörte Helga durchatmen.

      "Ich war mir sicher, sie würden dich fahren lassen." Und erleichtert: "Ich bring Gehacktes mit und brate dir Bouletten für die Fahrt ..."

      "Nein", sagte er erschrocken, "ich nehme schon den Zug um siebzehnuhrzwanzig."

      "Deine Wäsche ... Auf drei, vier Stunden kommt es nun auch nicht an."

      "Auf jede Minute." Und dann entschuldigend: "Ich kann nicht warten. Meine Wäsche werde ich schon finden." Die Luft wurde stickig. Ihm schien plötzlich, als berechnete man ihm für jede Sekunde in der Telefonzelle tausend Prozent Zinsen von den sieben Tagen. "Tschüss", sagte er, "ich melde mich aus Köln." Und bei dem Wort Köln fühlte er sich bereits Wochen von Helga entfernt. Für einen Moment öffnete er die Tür, steckte, auf ein Lüftchen hoffend, seinen Kopf in die Sommerglut. Danach rief er Sibylle im Sekretariat des Krankenhauses an.

      "Ich kann morgen nicht mitkommen", sagte er. "Macht euch einen schönen Tag."

      "Es hat also geklappt?!"

      "Ja."

      "Schön", sagte sie leise und nach einer Pause: "Gratuliere!" Aus ihrer Stimme hörte er Sehnsucht und Resignation.

      "Ich werde euch aus jeder Stadt eine Ansicht schicken - und fotografieren. In einigen Jahren ... Du bist ja noch jung ... Du wirst nicht so lange auf freies Reisen warten müssen wie ich."

      "Papa", sagte sie leise, "ich warte schon dreimal so lange." Anschließend rief er seine Arbeitsstelle an. Klemke und Lobisch. Sie betreuten die Kabelautomaten in der Halle II. Mit ihnen wollte er am Abend zum Kegeln. Für den Fall, dass sein 'Spaziergang auf der anderen Seite des Baches' abgelehnt würde. Um nicht in Depressionen zu verharren.

      Wieder auf der Straße musste er sich dazu zwingen, seine Gedanken zu ordnen. Die Blätter der Pappeln hingen reglos wie in Sirup. Einige Jungen mit Badehosen um den Hals gingen vorüber und schlugen sich übermütig mit Handtüchern. Jonas schien, er hätte sich vor Jahrzehnten verpuppt wie ein Insekt, ohne je auszuschlüpfen. Und nun irritierte ihn diese kindliche Hast, die ihn trieb, die stolpernde Eile, die kleinliche Furcht, mit jeder Verzögerung seiner Abfahrt, längst Vergangenes zu versäumen. Er spielte mit dem Gedanken, sich ins Café Jacqueline nahe der Straßenbahnhaltestelle zu setzen und gemütlich diesen stillen Triumph über die Entscheidungsmafia auszukosten, bei einer Tasse Cappuccino lässig ungezwungen eine Zigarre zu rauchen, als wäre er nun tatsächlich erwachsen. Doch die Straßenbahn kam, und er stieg ein. Als sie rumpelnd in die Edisonstraße einbog und ihn gegen einen Haltegriff warf, sah er angstvoll auf die Uhr. Seit er das Polizeirevier verlassen hatte, waren bereits zweiundzwanzig Minuten vergangen. Das Visum galt ab Mitternacht. Ab Mitternacht in Helmstedt. Zur vorgesehenen Abfahrtszeit stünde er bereits auf dem Hauptbahnhof Köln, seiner Zeitplanung acht Stunden voraus. Einmal um den Dom herumtippeln, sich den Hals verrenken, sozusagen der Größe des Augenblicks angepasst, sich auf einer Parkbank sammeln, mit einem Taxi zu Tante Loni und Onkel Walter (Tante Loni bestand darauf, ihm das Taxigeld zu spendieren), Küsschen, Umarmungen, Geschenke überreichen, die Helga vorbereitet hatte: Häkeldeckchen, selbstgekochte Konfitüre aus selbstgeernteten Stachelbeeren, 'Märchen und Sagen aus den Beskiden'. Tante Loni stammte aus Oberschlesien. Er kannte sie nur durch ihre gelegentlichen Besuche. Doch nun, Gott schütze ihre Gesundheit und bessere die Reiseregelung nach, stand sie ihm näher als je zuvor. Einen Cousin seiner Mutter, den er als Onkel hatte vermerken lassen, besaß erst in acht Jahren das geforderte Besuchsalter. Und seine List, einen Kriegskameraden seines Vaters als dessen Stiefbruder auszugeben, hatte eine hartnäckige Befragerin bei einem Gespräch mit Helga durchschaut und aus seiner Reiseakte gestrichen. Nach ausgiebiger Erfrischung und kurzem Schlaf würde er sich von Tante und Onkel verabschieden, nicht ohne zu versprechen, am Tag seiner Rückfahrt zu einer “winzigen Nachfeier“ einzutreffen. Sie sollten ihn verstehen: Es läge ihm viel an dem Geburtstag, doch müsse er seinen Ausgang in die Freiheit nutzen, um sich umzusehen. Das Wörtchen Freiheit musste ihnen doch etwas bedeuten.

      Zum ungezählten Mal stellte Jonas sich vor, wie die sieben Tage für ihn ablaufen könnten. Am ersten Tag, also morgen, sofort zur Kölner Polizei, einen Bundespass beschaffen, den DDR-Pass hinterlegen, zum Sozialamt, das Begrüßungsgeld abfassen (Schön wär’s, Tante und Onkel erinnerten sich daran, dass ihre Währung in seinem Lebensbereich nicht selbstverständlich war), zurück zu ihnen und den Rucksack gegriffen. Darin das Nötigste für eine Tramperwoche: Regenplane, Parker, zwei Handtücher, zwei Paar Socken, Badehose, Taschentücher, Zahnbürste, Seife, Vitaminbonbon, ein Plastbecher, Besteck und zwei Kilogramm Müsli als eiserne Reserve. Noch am Nachmittag würde er sich zu einer der Tankstellen an die Auffahrt zur Europastraße 41 begeben. Winkzettel, die er sich auf die Brust heftete, für die Hauptrichtungen, lagen als Lesezeichen getarnt bereits in mehreren Stadtführern, die er mitnahm. Und dann ginge die Post ab: Die Tramperroute über Holland, Belgien, Frankreich, München und zurück nach Köln hatte er akribisch vorbereitet.

      Am S-Bahnhof Schöneweide stieg Jonas aus. Zwischen Imbisskiosk, Losbude und fliegenden Händlern vor Wassereimern mit Margeriten, Studentenblumen und Nelken oder vor Horden mit jungen Möhren, schritt er durch den Fußgängertunnel zur Volksbank. Gegen Vorlage seines Visums tauschte er eins zu eins Mark gegen D-Mark. Die Kassiererin zählte ihm mit großzügiger Geste drei Fünfmarkscheine hin und wünschte kühl eine schöne Reise.

      "Danke", sagte Jonas. "Ich bin mir unschlüssig, ob ich mich drüben als Bettler durchschlage oder als Hungerkünstler. Ich werde wohl den Hungerkünstler vorziehen." Dann fuhr er nach Friedrichstraße. Dort stellte er sich an den Fahrkartenschalter 'Für Reisende in die BRD und in das nichtsozialistische Ausland'. Wenige Schritte entfernt, an einer rot-weißen Stahlrohrbegrenzung, lehnten Wartende wie an der Reling eines im Museum vertäuten Schiffes. Einige hielten Blumensträuße. Sie starrten auf die aluminiumverkleidete graue Tür wie auf die silberne Linie am Horizont. Hin und wieder stieß sie ein, Taschen und Koffer schleppender, Westrückkehrer mit dem Fuß auf, worauf sie sich mit dumpfem Krachen hinter ihm schloss. Meist kamen ältere Frauen, Männer seltener. Von den Treppen her, die zu den Toiletten hinunterführten, stach Salmiakgeruch in die Nase. Zwei breithüftige Bahnpolizisten, die Hände hinter dem Rücken, schlenderten im Gleichschritt zwischen den Wartenden auf und ab, sie mit dienstlich-misstrauischen Blicken streifend.

      Zurück in der Wohnung, auf dem schmalen Flur, hielt Jonas inne, bis ihm vertraute Details signalisierten, er träume nicht: Der Geruch frischen Holzes vom Schuhschrank, den er kürzlich gewerkelt hatte, das Frühstücksgeschirr, das er unabgewaschen auf dem Küchentisch hinterlassen hatte, Helgas Nachthemd über der Außenklinke der Schlafzimmertür, sein Pyjama auf der Innenklinke. Wieder spürte er, wie die Hast über ihn herfiel, ihn alle Augenblicke auf die Uhr sehen ließ. In spätestens zwei Stunden musste er gehen. Er setzte den Teekessel auf den Gasherd, verplemperte Wasser, nahm den Pass mit dem Westgeld und der Fahrkarte aus der Jackentasche legte beides in die Glasschale auf dem Wohnzimmertisch. Daneben lag die ausgebreitete Karte von Mitteleuropa. Dann zerrte er Rucksack und Reisetasche zwischen Schlitten und Skier vom Hängeboden (jetzt konnte kein Sprichwort mehr dazwischenfunken), staubte sie über der Balkonbrüstung ab, stellte beide ins Wohnzimmer, ging in die Küche, goss sich einen Henkeltopf voll Kaffee auf, eilte ins Zimmer, trank einen Schluck, verbrühte sich die Lippen, stellte den Topf auf die Karte, verschüttete Kaffee über Schleswig-Holstein, tupfte ihn mit einem Zellstofftaschentuch, öffnete die Türen der Anrichte und hockte sich vor seine Wäsche. Seine Gedanken aber tummelten sich, unfähig für sachliche Arbeit, bereits an der Grenzkontrolle und an Straßenrändern Westeuropas. Er erhob sich, trank, verschüttete wieder eine Lache, diesmal über Südfrankreich, tupfte mit dem Taschentuch, hockte sich vor die Anrichte. Um sich herum stapelte er mehrere Wäschehäufchen. Legte zurück, stapelte hinzu, packte ein, fühlte sich gehetzt. Er trank vom Kaffee, stellte die Tasse behutsam ab, öffnete das Fenster, ließ Wärme und Lärm