Ludwig Witzani

Transasia. Von Karachi nach Beijing


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aber nicht nur den ersten genormten Ziegel, sondern auch die erste leistungsfähige urbane Kanalisation. An den seitlichen Rändern der Straßen erkannte ich neben den Ziegelmauern überall kleine Rinnen, in denen in altvorderen Zeiten die natürlichen Abwässer der Bewohner in eine zentrale Kanalisation geleitet worden waren. Aber damit nicht genug. Verdankte die Menschheit den Sumerern die erste Schrift, den Ägyptern die Pyramiden, so haben die Angehörigen der Indus Kultur die Sitztoilette erfunden, eine bemerkenswerte kulturelle Innovation mit Dekadenzpotenzial, die nach dem Untergang der Induskultur in Vergessenheit geriet und sich erst wieder in einer späteren Phase der Menschheitsgeschichte durchsetzen sollte.

      Bleibt die Frage, wie eine Kultur mit derart perfekten Ziegelhäusern und einer revolutionären Abwasserentsorgung untergehen konnte. War es der Standardziegel gewesen, dessen millionenfaches Brennen zum Verschwinden der Wälder geführt hatte? War die Stadt von einem Erdbeben zerstört oder war sie vom Indus überschwemmt worden? Wieder andere Erklärungen sprachen von Hitze- und Dürreperioden, Überbevölkerung oder Bodenerschöpfung. Lange Zeit war man davon ausgegangen, dass die geschichtlich verbürgte Invasion der Indoarier aus dem Norden die Induskultur vernichtet hätte. Hinweise im altindischen Mahabharata, die von der Erstürmung großer Städte erzählten, schienen in diese Richtung zu deuten. Ein reizvoller Gedanke: der altindische Held Arjuna erobert an der Spitze seiner Streitwagen Mohenjo Daro und testet die Sitztoilette. Neuere Forschungen legen aber den Schluss nahe, dass sich der Untergang der Induskultur bereits lange vor dem Einmarsch der Indoarier vollzogen haben musste. Die unterschiedlichen Ausgrabungsschichten erbrachten für den Beginn des zweiten vorchristlichen Jahrtausends deutliche Zeichen des Niedergangs. Die Häuser wurden schlampiger und kleiner gebaut, Schäden an den Stadtmauern deuten auf Eroberungen hin, und viele der ausgegrabenen Skelette weisen Tötungsspuren auf. Genaueres würde man erst erfahren, wenn es gelingen würde, die Schrift der Induskultur zu entziffern. Also vielleicht niemals.

      Länger als zwei Stunden hielt ich es auf dem Ruinenfeld von Mohenjo Daro nicht aus. Am frühen Nachmittag wurde die Hitze so unerträglich, dass es zu einer schieren Existenzfrage wurde, einen schattigen Ort zu finden. So lief ich zurück zum Flughafen und verbrachte die letzten Stunden vor dem Abflug in der klimatisierten Abfertigungshalle. Die Wehrpflichtigen, die den Flughafen vor dem Angriff der Banditen schützen sollten, lagen auf den Sitzen und schliefen. Auch ich saß ermattet auf einem Ledersessel und betrachte die Umrisse der Ruinen. Von oben wurden sie durch die Sonne gebacken, von unten stieg das Salz des Grundwassers empor und zersetzte das, was noch im Boden geblieben war. Möglicherweise war die Rückkehr Mohenjo Daros aus den Tiefen der Geschichte nur eine Episode.

Transasia

       Kulturerbe der Menschheit: Die Ziegel von Mohenjo Daro

Transasia

       Keine Sitzplatzreservierung im Schalimar Express

      Geben Sie meinem Sohn einen Dollar

      Mit dem Schalimar Express

      von Karachi nach Lahore.

      Die pakistanische Eisenbahn hat keinen guten Ruf. Und das mit Recht. Sie gilt als unsicher, langsam und veraltet. Zwei Drittel ihres Streckennetzes stammten noch aus der britischen Kolonialzeit und waren dementsprechend veraltet. Instandhaltung, Reparatur, Logistik sowie die Etablierung sicherer Schranken- und Signalsysteme mussten hinter der Entwicklung der Atombombe zurückstehen. Noch ein halbes Jahr vor meiner Reise war ein Fernzug auf dem falschen Gleis mit einem andern Zug zusammengestoßen. Für den Gütertransport des Landes spielt die pakistanische Eisenbahn praktisch keine Rolle.

      Der Hauptzweck der pakistanischen Eisenbahn besteht vielmehr in der Sicherung des Personentransports zwischen den Metropolen Karachi, Lahore, Rawalpindi/Islamabad, Peschawar und Quetta - das allerdings mit Reisezeiten von bis zu anderthalb Tagen. Jedermann, der es sich leisten konnte, ersparte sich deswegen die Zeitlupentouren durch die pakistanischen Weiten und nahm das Flugzeug. Die weniger Betuchten bevorzugten den Bus, der zwar noch unsicherer und überfüllter als die Eisenbahn, aber wenigstens billiger war.

      Aber was war mit denen, die genug Geld für ein Flugticket besaßen, aber vom Land etwas sehen wollten? Die vertrauten ihrem Schutzengel und nahmen die Eisenbahn - dachte ich und ließ mir von Herrn Ibrahim ein Schlafwagenticket für den Schalimar Express nach Lahore organisieren.

      Es war ein Mittwochabend, als ich den Bahnhof von Karachi betrat. Was den Krach und das Gedränge betraf, so unterschied sich er sich in nichts vom Bahnhof in Kalkutta oder Delhi. In dichten Menschentrauben rangelten die Reisenden im catch-as-catch-can-Modus vor den Ticketschaltern, und es war vollkommen unersichtlich, nach welchem System außer dem des rabiaten Körpereinsatzes man jemals an ein Ticket kommen sollte. Scheppernde Stimmen hallten elektronisch verstärkt durch die Eingangshalle, ohne dass man etwas verstehen konnte.

      Angestellte der pakistanischen Eisenbahn kontrollierten und markierten die Billets mit einem Kugelschreiber. Ich hatte wieder meinen Shalwar Qamiz angezogen, um nicht aufzufallen, doch dem Kartenkontrolleur war ich nicht geheuer. Er war ein dicht behaarter Mensch mit einer niedrigen Stirn und den leeren Augen eines Schafes. Wahrscheinlich pries sich glücklich, diesen Job als Fahrkartenkontrolleur am Bahnhof von Karachi ergattert zu haben. Als er meinen Pass studierte und sah, dass ich Deutscher war, ließ er mich durch. Im Unterschied zur allgemeinen Selbstzerknirschung, der man sich in Deutschland gefällt, ist der Deutsche im außereuropäischen Ausland durchaus beliebt – allerdings nicht immer aus ganz koscheren Gründen.

      Der Schalimar Express, der Nachtzug nach Lahore, stand bereits zur Abfahrt bereit. Aus den offenen Fenstern der zweiten Klasse und der Economy Class roch ich Curry, Chilly und Bratenfett – die Passagiere begannen ihre Reise mit einem ausgiebigen Abendessen im Zug. Bei der sogenannten zweiten Klasse handelte es sich um offene Waggons ohne Abteile mit ausklappbaren Pritschen, auf denen geschlafen werden konnte.

      Nach einigem Suchen fand ich meinen Waggon und das Schlafwagenabteil, das ich vorgebucht hatte. Ein Mann in mittleren Jahren hatte sich auf dem Fenstersitz breit gemacht, ihm gegenüber saß ein Jugendlicher, fast noch ein Knabe, wahrscheinlich sein Sohn. Es würde also genug Platz zum Schlafen sein, denn zwei weitere Pritschen, die senkrecht an der Wand befestigt waren, konnten bei Bedarf ausgeklappt werden. Die restlichen Plätze im Abteil waren frei.

      Ein durchdringendes Signal ertönte, es gab einen Ruck und der Zug setzte sich in Bewegung. Hatte ich bislang geglaubt, das Straßenbild von Karachi könnte nicht noch schlimmer werden, wurde ich bei der Zugfahrt durch die Hinterhöfe der Stadt eines Bessern belehrt. Schon nach wenigen Minuten passierte der Zug ein regelrechtes Müll-Land, das aus Blech- und Papphütten und aus Abfallhaufen und Schutt bestand. Eisenbahnfenster, an denen die Umgebung vorbeizieht, gleichen mobilen Reisereportagen, hat Paul Theroux einmal gesagt. Heute Abend war es eine Reisereportage über das urbane Elend. Langsam erhöhte der Zug seine Geschwindigkeit, und die Gruben, Bauruinen, Hinterhöfe und Misthaufen rasten in immer schnellerer Folge vorüber, ehe sie sich zu einem vorbeihuschenden Bild des Elends verbanden.

      Die Abteiltüre ging auf, und der Schaffner kontrollierte die Tickets. Er war ein junger Mann mit vorwitzigem Gesicht, der mein Billet misstrauisch beäugte. Möglich, dass mein Shalwar Qamiz für ihn ein Zeichen war, dass ich eigentlich nicht in dieses Luxusabteil gehörte. Bei meinem Abteilpartner und seinem Sohn ging es schneller.

      Mittlerweile hatte der Zug die Stadt verlassen und ratterte durch eine flache, verkarstete Mondlandschaft. Die wenigen Tamarisken und Hütten, die vom Zug aus zu sehen waren, warfen im Abendlicht grotesk lange Schatten. „Allahs Müllhaufen,“ höhnten die Punjabis über die Landschaft des Sindh. Das gleiche sagten die Sindhis übrigens über Belutschistan, wo es noch schlimmer aussehen soll.

      Mein Abteilnachbar räusperte sich und stellte sich als Dr. Muttar vor, der Jugendliche, der mit ihm reiste, hieß Akbar, und war sein Sohn. Dr. Muttar besaß ein großflächiges pockennarbiges Gesicht, in dem ein mächtiger Schnauz wie ein waagerechtes Ausrufezeichen spross. Er trug einen westlichen Anzug, was kurios war, weil ich ihm im Shalwar Qamiz gegenübersaß.