Peter Schmidt

Schwarzer Freitag


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      Meine erste Begegnung mit Dagmar, der minderjährigen Tochter aus einer "eingeschobenen Beziehung" (wie der Terminus technicus im Hause der Schittecks lautete), hinterließ in mir beträchtliche Zweifel an meiner sexuellen Verfassung.

      Ich habe in meinem Leben Lolita von Nabokow vielleicht zwölf bis achtzehnmal gelesen und bin mit den dort beschriebenen Problemen älterer Männer bestens vertraut.

      Von der Theorie her sollte es also kein nennenswertes Defizit bei mir geben.

      Aber leider hat sich auch für mich herausgestellt, das Theorie und Praxis wohl immer zwei verschiedene Schuhe bleiben werden.

      Es war einer jener sonnigen Samstagnachmittage, an denen ich gern hinter dem Haus im Schatten zweier knorriger Walnussbäume saß, um mich ganz meinen weltanschaulichen Überlegungen hinzugeben.

      Ich atmete die Freiheit des Geistes, das heißt, ich dachte darüber nach, warum ich in einer Zeit wie dieser, wo der materielle Verstand die Oberhand über die Vernunft erlangt hat und die Welt von Mikroprozessoren und Antibabypillen gesteuert wird, einem so antiquiert anmutenden Beruf wie dem des Philosophielehrers nachging.

      Die Antwort ist, dass ich ihn als Bastion und Oase empfand. Irokesenhaarschnitt, infrarotgesteuerte Bomben, Latexpenisse und Computerspiele, bei denen Asylanten gejagt und Kopfprämien vergeben werden – das alles verliert seine Wirkung, wird aufgehoben und verwandelt angesichts eines zweieinhalbtausend Jahre alten Nachdenkens über die Frage, was es mit der Welt auf sich hat.

      Durch das Küchenfenster hörte ich Xaveria zum sechsten Male in dieser Woche den Eichenboden schrubben (man hatte sie wegen ihrer nervösen Beschwerden für ein paar Tage vom Schuldienst beurlaubt).

      Dass er so hygienisch wie ein ausgeglühtes Pizzabrett war, verschaffte mir ein sicheres Gefühl, denn schon die Vorstellung von schädlichen Keimen löst allergischen Schnupfen bei mir aus.

      Den Schittecks bereitete es gerade Vergnügen, den größten, als "Feuchtbiotop" deklarierten Badesee des Landes anzulegen. Die Überschwemmung reichte bis zum Anwesen der Klein-Familie ...

      Glücklicherweise stand ihr Bungalow auf einer natürlichen Anhöhe. Die Häuser von BIO-EINS waren wie Rom auf sieben Hügeln erbaut, jedes mit eigener Holzveranda, Gras- und Kräuteranpflanzungen, Sträuchern und langstieligen Wildblumen.

      Wir hatten vor elf Jahren einen verfallenen Militärkomplex zwischen verkehrsumtosten Wohnsilos und dem Chemiewerk erworben, um darauf eine umweltbewusste Musterlandschaft anzulegen, ein Vorbild für das Wohnen der Zukunft.

      Durch einen etwa hundertfünfzig Meter langen Hohlweg, über den zwei Reihen dicker Rohre des Chemiewerks in die benachbarte Entsorgungsstation und zur Raffinerie laufen, gelangte man von BIO-EINS zu BIO-ZWEI.

      BIO-ZWEI war so etwas wie die größere Schwester von BIO-EINS.

      Das Areal wurde unserer Schule eigens von der Landesregierung für meinen "Schulversuch im Unterrichtsfach Ökologie" zur Verfügung gestellt, um die Richtigkeit der ökologischen Weltauffassung zu demonstrieren – unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten übrigens, was der örtlichen Presse immer wieder Anlas bot, kleine Artikel über unsere Arbeit zu verfassen.

      Ihr besonderes Interesse galt dabei einem Lebewesen, das BIO-ZWEI zum fast schon mystischen Wallfahrtsort der Biologen und Umweltschützer machte.

      Dort hatte sich nämlich – offenbar durch Mutation und wohl nicht ganz ohne Zutun des benachbarten Chemiewerks und der Bodenstrahlung – aus dem gewöhnlichen gelbbraunen Grasfrosch, der früher in den Feuchtbiotopen der Teiche und Bäche lebte, der "schwarzgrau melierte Kohlenfrosch" entwickelt.

      Obwohl in BIO-ZWEI an manchen Tagen immer noch kleine Rauchsäulen aus dem im Boden glühenden Koks aufstiegen, war das Gelände inzwischen vollständig bepflanzt und wieder so verwildert, dass man von einer nachindustriellen Urlandschaft sprechen konnte.

      Allerdings wurde es wegen des leicht radioaktiv strahlenden Abraums nie zur Bebauung freigegeben.

      BIO-EINS dagegen stand trotz der Nachbarschaft des Chemiewerks und der Raffinerie auf bestem Grund und Boden, weil der Wind gewöhnlich in nördliche Richtung wehte.

      Aus den Fenstern der Mietskasernen, die uns wie hohe Gefängnisbauten umgaben, beobachtete man ungläubig und immer noch voller Argwohn das Spiel der drei Windkrafträder auf den Hügelkuppen, die Solarzellen und bepflanzten Erddächer, und wartete darauf, ob nicht doch noch ein einziger starker Regenguss unsere Bungalows aus Holz und Lehm-Knochenleim-Sägemehl-Mischung einfach hinwegschwemmen könnte.

      Das Material wurde am Institut für ökologische Rohstoffe entwickelt und soll haltbarer sein als gewöhnlicher Mörtel.

      Es war eine heile Welt, gegen die alle Lustwogen der Spielsalons, Peepshows und Sexläden aus den angrenzenden Bezirken immer wieder vergeblich anbrandeten. Zwar fraß sich das Unheil trotz unseres erfolgreichen Versuchs wie beim Tageabbau der Braunkohle unaufhörlich weiter, aber es hatte sich dafür die ergiebigeren Randzonen der Stadt ausgesucht.

      Die Schittecks hatten genau wie wir eine völlig unbefangene Beziehung zum Unkraut. Es konnte gar nicht hoch genug wachsen.

      Darin waren sie ökologisch durchaus auf der Höhe der Zeit und "Alternative" im wahrsten Sinne des Wortes. Vielleicht glaubten sie ja, der alte Brookmann habe ihnen mit dem Haus und seinem Anteil am Gelände von BIO-EINS auch das Recht vererbt, ungehemmt und ohne jeden Skrupel ihre ökologischen Schnapsideen auszuleben.

      Brookmann hatte in unserer letzten Mitgliederversammlung vor seinem mysteriösen Verschwinden gegen die Satzung von BIO-EINS durchgesetzt, dass er selbst einen würdigen Nachfolger bestimmen dürfe. Mit einer Einschränkung allerdings:

      Seine Erben sollten die Ideale von BIO-EINS genauso ernst nehmen wie seine Gründer. Und genau an jenem Samstagnachmittag, als das Unkraut etwa Mannshöhe erreicht hatte, begannen die Schittecks mit der Einleitung undefinierbarer graubrauner Flüssigkeiten in die Senke. Ich saß in meinem Liegestuhl und versuchte eben eine gedankliche Beziehung zwischen Heideggers "Abgrenzung der Daseinsanalytik gegen Anthropologie, Psychologie und Biologie" und meiner Vorstellung von einem selbstverantwortlichen menschlichen Wesen herzustellen, als ein ungewöhnliches Glucksen zu hören war.

      Es schwappte und brodelte jenseits der kniehohen, von Farnen überwucherten Lehmmauer, die unsere Gärten trennt. Dann trieb eine leere Apfelsinenkiste vorüber.

      Gleich darauf sah ich den alten Schitteck bis zur Brust im Wasser waten. Er trug einen grünen Angleranzug mit angeschweißten Stiefeln. Die Stange in seiner Hand diente offenbar dazu, den Wasserstand zu ermitteln.

      Als er ein paarmal damit herumgestakt hatte, warf er sie weg, riss seine Arme über den Kopf – und irgendwo im Haus ertönte Freudengeheul.

      Die Einleitung der trüben Flüssigkeit wurde gestoppt.

      Seitdem sind wir Anlieger eines beachtlichen Weihers. Anfangs hatte ich dem Teich keinerlei Überlebenschancen gegeben. Ich hoffte, die jaucheähnliche Brühe würde sofort wieder im Boden versickern. Aber das Erdreich wehrte sich zu Recht und mit Erfolg dagegen, auf diese scheußliche Weise verunreinigt zu werden.

      Ein paar Minuten, nachdem sich das Ufer wie bei der Erschaffung der Erde als braune Kruste im Dunst abzuzeichnen begann, tauchte Dagmar mit Handtuch, Luftmatratze und Sonnenbrille am "Strand" auf.

      Sie hatte sich einen Flecken ausgesucht, der neben meinen Walnussbäumen lag. Ein Radio plärrte, und der Geruch von stark parfümiertem Sonnenschutzmittel wehte zu mir herüber. Dagmar war frühreif, was ihre obere Körperhälfte anbelangte, und sie bemerkte, dass ich es bemerkte.

      Wir spielten eine Zeit lang das Spiel: "Niemand schaut hin, wenn ich gerade hinschaue", aber die Sache wurde ihr schnell langweilig.

      Als ich mich wieder meinem Buch widmete, erfasste sie deutliche Unruhe. Ich nahm es aus den Augenwinkeln wahr – die Sonne hatte sich schamhaft hinter ein paar aufgetürmten Gewitterwolken