Siegfried Ahlborn

Veronika


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des Lichtes im Raum, sie öffnet ihre Blüte den Strahlen der Sonne und wirft ihren Samen in eine neue Welt hinein. Das ist die Zeit im Raum: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem Bild und als Wahrnehmung des Werdens des Kosmos.“

      „Aber irgendjemand muss dieser wunderbaren Idee der Zeit und ihrer Spiegelung im Körper der Pflanze doch physische Substanz geben, sonst könnten sie sich uns ja nicht im Raume zeigen“, beharrte Veronika.

      Die Alte lächelte. „Gleich“, sagte sie, nahm Veronika bei der Hand und führte sie an das kleine Mäuerchen, das den Garten umsäumte. Dann deutete sie über die sich im Wind wiegenden Kornfelder, die sich Ähre an Ähre golden schimmernd über die angrenzenden Hügel erstreckten und sagte:

      „Sehen Sie einmal über das Kornfeld hin. Was sehen Sie da?“

      Veronika ahnte wohl, dass die Alte jetzt nicht einfach nur das hören wollte, was ihre physischen Augen sahen, sondern etwas ganz anderes. Aber das konnte sie nicht finden. Deshalb bat sie: „Sagen Sie es mir.“

      „Sie müssen empfinden lernen, was Sie sehen“, sagte die Alte. „Um Gott zu finden, müssen wir zu ihm hingehen – stufenweise wie die Pflanzen. Und die erste Stufe ist die Wahrnehmung der Engel im übersinnlichen Raum. Öffnen Sie ihre Augen dem Phänomen, Veronika, und schauen Sie: Wenn Sie ihr Auge über das Korn schweifen lassen und diese Wahrnehmung mit einem Blütenfeld vergleichen, sehen Sie, dass sich hier die Ausgestaltungen der Blüten zu Gunsten der Früchte, also der Körner – die eine neue Welt in der Zukunft bedeuten –, geopfert haben. Über dem Feld und im Übersinnlichen lebt eine Aura des Verzichtes, des Opfers und der Hingabe an eine größere Aufgabe – der Ernährung von Tier und Mensch. Die Blüten sind gestorben und aus dem Tode heraus wird im Brot ein neues Leben entstehen.“

      „Das ist wirklich ein wunderbarer Gedanke“, sagte Veronika, „aber noch einmal: Das Feld und die Ähren sind ja physisch da. Sie verschwinden ja nicht wie eine Idee. Wer lässt sie stehen bis zur Ernte? Und wir Menschen haben das Korn gezüchtet und aus wenigen Ähren viele gemacht. Richten sich die Seelen der Engel nach den Taten der Menschen?“

      Über diese Frage war nun wiederum die Alte erstaunt – zögerte einen Augenblick und sagte dann:

      „Die kosmische Idee, die die Engel tragen, ist eine Idee des Lichtes und eine Erinnerung an das Werden des Kosmos, aber sie verändert oder plant nichts. Sie spiegelt sich nur im Raum der Elemente. Und die Elemente der Erde, in denen sie sich spiegelt, sind gegenständlich und können vom Menschen verändert werden. Sie sind so gegenständlich, weil sie wiederum die Körper anderer Wesen sind.“

      „Und was sind das für andere Wesen?“

      „Das sind die Wesen der Elemente, der Erde, des Wassers, der Luft und der Wärme. Mann nennt sie auch Elementarwesen. Kinder sehen sie manchmal noch.“

      „Aber ich sehe sie nicht“, beharrte Veronika.

      „Das weiß ich wohl“, sagte die Alte nachsichtig. „Auch die Wesenheiten der Elemente werden Ihnen erst sichtbar, wenn Sie gelernt haben, Empfindungen zu sehen. Denn in den Elementen – Erde, Wasser, Luft und Feuer – empfinden sich Wesenheiten und die lassen sich nur mit Empfindungen sehen.

      Und bedenken Sie, Veronika, Sie haben eben das Wasser genossen. Sie brauchen das Wasser zum Leben. Auch die Pflanzen brauchen das Wasser, um zu leben. Ihnen, Veronika, dient das Wasser dazu, um mit Ihrer Seele in ihrem Körper zu leben. Den Engeln dient es dazu, um ihre Empfindungen auf Erden sichtbar zu machen. Und da wir die Elemente der Erde verändern können, müssen sich auch die Engel nach diesen Änderungen richten. Wir können mit Hilfe der Elemente unterschiedliche Pflanzen züchten. Doch die Grundidee der Pflanze wird immer und in allen Pflanzen dieselbe sein; die kosmische Erinnerung ihres Werdens in der Zeit. Die Rose bleibt immer eine Rose, egal, ob sie rot, weiß, oder gelb ist, und der Baum bleibt immer ein Baum und wird kein Tier werden. Nur müssen sich die Engel in ihren Gestaltungen und Empfindungen nach den Elementen der Erde richten und erzeugen so die unterschiedlichsten Elementarwesen.“

      „Müssen sich nach ihnen richten …“, wiederholte Veronika erschrocken. „Müssen sich auch meine Empfindungen nach meinen körperlichen Elementen richten und erzeugen Elementarwesen?“

      „Ich denke schon“, sagte die Alte. „Nur ist es nicht so zwingend, wie in der Natur. Des Menschen Geist kann sich verändern und verwandeln und sich selbst beherrschen. Das macht ihn, wenn er es denn kann, unabhängig vom Zwang der Elemente und der irdischen Stoffe.“

      „Dann muss ich meine Hormone aber in den Griff bekommen“, sagte Veronika nachdenklich. Die Alte schmunzelte.

      „Gewiss!“ sagte sie. „In diesem Bereich ist alles möglich. Erst wenn wir noch näher an das Göttliche herankommen und uns von unseren persönlichen Empfindungen und Wünschen lösen, - wenn wir uns dieses Göttliche auch ganz anders vorstellen, als wir das gewöhnlich tun – erst dann werden wir frei.“

      „Auch von unserer Schuld“, fragte Veronika leise. Sie war plötzlich wieder sehr nervös, ging ein wenig auf und ab und ließ die Alte einfach stehen.

      Vor ihr erhoben sich zwei Krähen, die sich aber gleich wieder niedersetzten und sich nicht mehr aus den Augen ließen. Auf der kleinen Mauer, an der sie eben noch mit der Alten gestanden hatte und die den Garten umsäumte, lag regungslos eine Katze und schlief.

      Sie mochte nicht mehr an die Elementarwesen denken, sondern versuchte, sich nur die Empfindungen der Engel über den Blumen vorzustellen. Sie versetzte sich in das Wesen der Zeit.

      Und da tauchte plötzlich eine Erinnerung in ihrer Seele auf: Sie sah sich, wie sie sich als junge Lehrerin mit ihrer damals vertretungsweise übernommenen Klasse bei einem Gebirgsausflug in einem Höhlensystem verlaufen hatte. Sie hatte unvorsichtigerweise die Führung übernommen, weil kein Höhlenführer zu bekommen war und war mitsamt der Klasse vom Wege abgekommen. Die Höhle, in der sie sich befunden hatten, war weitläufig und bestand aus vielen Gängen. Sicherlich hätte man sie und die Kinder auch gefunden, wenn sie lange genug an Ort und Stelle geblieben wären, aber das hätte lange gedauert und die Kinder hätten das nicht ausgehalten. Deshalb hatten sie selbst nach einem Ausgang gesucht, aber sie hatten ihn nicht gefunden. Sie waren orientierungslos durch die langen, dunklen und feuchten Gänge geirrt und hatten sich gegenseitig Mut zugesprochen. Das Wasser, das durch die niedrige Decke auf sie herabgetropft war, und die Wurzeln der Bäume, die sie am Kopf gestreift hatten, waren nicht dazu angetan gewesen, ihnen ein Gefühl der Sicherheit zu geben, sondern hatten sie wie fremde Wesenheiten nur noch mehr gequält und geängstigt. Es war unheimlich gewesen unter der Erde, spärlich beleuchtet, streckenweise sogar finster, und man hatte den Eindruck gehabt, dass man das Sonnenlicht niemals wieder sehen würde.

      Die Kinder waren damals zwischen zehn und zwölf Jahre alt gewesen und hatten das Innere der Erde noch nie erlebt. Und Veronika hatte gehofft, sie nun nicht für immer erschreckt zu haben. Lange waren sie so im Gänsemarsch, sich teilweise an den Händen haltend, singend, weinend und lachend durch den Berg geirrt, bis sie plötzlich von weitem einen Lichtstrahl gesehen hatten und in diesem Lichtstrahl eine Blume. Diese hatte ihre Blüte der Sonne entgegenstreckt und hatte ausgesehen, wie ein auf sie wartender Engel des Lichtes und der Freiheit. Sie hatten den Ausgang erreicht.

      An diesen Eindruck erinnerte sie sich jetzt: Die Blüte im Licht der Sonne – nach der langen Dunkelheit im Berg. Hatte sie da den Engel empfunden, von dem die Alte sprach? –

      Oh ja, solch einen Engel, den hätte sie jetzt auch gebrauchen können, um die Dunkelheit ihrer Seele zu überwinden.

      Sie wandte sich um, kam zur Alten zurück, setzte sich auf eine Bank, die in Reichweite des Hauses stand und fragte noch einmal: „Was ist das für ein Engel in der Pflanze?“

      „Passen Sie auf“, erklärte die Alte geduldig: „Wäre die Pflanze eine so schöne, sich nach außen und zum Sonnenlichte hin orientierende Wesenheit, wenn sie nicht an Ort und Stelle mit dem Erdboden verwachsen wäre? Wäre sie so keusch und rein, wenn sie sich wie ein Tier oder wie ein Mensch über die Erde hinbewegte? Sie zeigt das nach außen, was Tier und Mensch nach innen verbergen: die Reinheit der Empfindungen im Hinblick auf das Licht der Sonne