Friedrich Schuhmacher

Das Leben an der Wahnsinnsgrenze - eine Reise durch Angst- und Zwangsstörungen


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war ich sicher ganz generell für Angstgefühle durchaus empfänglicher als der Durchschnitt der Bevölkerung, aber all das wurde zusammen mit typischen Stresssymptomen meiner verantwortungsvollen Tätigkeit zugeschrieben und unter der bereits erwähnten Belastungsreaktion verbucht. Hier zählt sicherlich auch eine generell erhöhte Empfindlichkeit bezüglich Schmutz und Verunreinigungen und damit insbesondere Bakterien, Viren und Infektionen hinzu. Diese Ängstlichkeit und Empfindlichkeiten hinderten mich jedoch nicht, am Leben teilzunehmen. D. h. ich konnte meinen Job ausüben und hatte Sozialkontakte, fuhr in Urlaub etc..

      Mit dem Tod meines besten Freundes im Alter von nur 55 Jahren änderte sich das aber alles. In der Folgezeit wurde alles, was zuvor schwierig war unmöglich und alles, was zuvor vielleicht eine Einschränkung war, wurde ein unüberwindliches Hindernis. Als wäre diese Erkenntnis geradezu revolutionär neu, kam ich zu dem Schluss, dass das Leben sehr leicht mit dem Tode enden könnte. Alles und jedes konnte nunmehr infektiös und somit gefährlich sein. Alles war eine potentielle Infektionsquelle, was bereits bei Lebensmitteln anfing, bei jeglichem Körperkontakt mit Menschen weiterging und alles medizinische, wie Arztpraxen und Kliniken, war so etwas wie der Vorhof zur Hölle. Mein ganzes Leben näherte sich der “Wahnsinnsgrenze“ mit schnellen Schritten.

      Kapitel 2 Aus der Wurst lesen

      Es macht die Sache nicht eben leichter, wenn man meint, man müsse alles auf irgendwelche Gefahren hin kontrollieren und dies ein echter Zwang ist, man sich aber zur gleichen Zeit immer weniger selbst vertraut.

      Nur weil man 5 Minuten lang auf die Knöpfe gestarrt hat, muss der Herd ja noch lange nicht aus sein! Und auch die Haustüre muss ja noch lange nicht zu sein, nur weil man minutenlang mit den Fäusten dagegen trommelt. Die Nachbarn, die bei den ersten solcher Versuche noch besorgt um die Ecke bzw. aus dem Fenster schauten, weil sie einen Einbruchsversuch bei uns befürchteten, waren im Ergebnis immer wesentlich schneller vom “verschlossen sein“ der Tür überzeugt als ich selbst.

      Überhaupt sind Nachbarn, Freunde und Bekannte im Zusammenhang mit Angst- und Zwangserkrankungen ein ganz eigenes Thema. Die besonders innige Beziehung zu Gehwegen und verschlossenen Haustüren etc. bleibt diesen ja in der Regel nicht allzu lang verborgen. Die Möglichkeiten der Ausreden sind daher leider auch sehr beschränkt und spätestens beim dritten verlorenen Schlüsselanhänger bemerkt man schon meist ein mühsam unterdrücktes Zucken der Augenbrauen bei seinem Gegenüber. Zumindest dem engeren Kreis von Freunden schenkt man dann doch irgendwann reinen Wein ein und erzählt, was nun mit einem los ist, auch wenn es selbst bei diesen schon viel Überwindung kostet. Bei Bekannten und Nachbarn überlegt man sich dies allerdings schon ein bis dreimal, wenn man nicht als der stadtbekannte, gestörte “Absucher“ zu kommunaler Berühmtheit gelangen will. Dies besonders dann, wenn man auch zuvor schon im öffentlichen Leben gestanden hat. Seltsamerweise ist es heutzutage wesentlich normaler, beim Laufen auf ein Handy zu starren, als ohne Handy stur auf den Gehweg zu schauen. Auch der Zusammenprall mit einer Laterne hat mit Handy heutzutage eine weitaus höhere Sozialakzeptanz, als einen armen Radfahrer zum Absteigen zu zwingen, weil man nicht rechtzeitig bemerkt hat, dass dieser verbotenerweise auf dem Gehweg fährt.

      Nun könnte man meinen, das es die Lösung des Problems sein könnte, einfach beim Gehweg-Absuchen ein Smartphone in die Hand zu nehmen. Die Erfahrung lehrt aber, das dies die Konzentration auf das Absuchen doch erheblich stört, insbesondere, wenn man noch versucht, parallel mit dem Daumen das Tippen von Textnachrichten zu imitieren oder so tut, als würde man telefonieren und dazu lautlos die Lippen bewegt. Hinzu kommt, dass das Erstaunen von Bekannten, die einem hierbei begegnen, auch nicht eben geringer ist, als wenn man von vornherein einfach nur auf den Boden starrt.

      In solchen Dilemmasituationen wünsche ich mich bisweilen zurück in einen früheren Florida Urlaub, genau genommen zurück auf Sanibel Island, auch bekannt als Muschelinsel. Hier gibt es am Strand geradezu Horden von Touristen mit genau der Kopfhaltung, mit der ich innerstädtisch die Blicke auf mich ziehe. Dort ist es völlig normal, mit gesenktem Kopf stundenlang am Strand herum zu laufen und Muscheln zu suchen. Dort würde ich mal überhaupt nicht auffallen. Andererseits … Wie schon gesagt: Mehr als zwei sind eine Gruppe und die Teilnahme am kollektiven Muschelsuchen könnte leicht auch zu unerwünschten Sozialkontakten führen. Das totale KO-Kriterium ist aber, dass es am Strand typischerweise Sand gibt, in den man ebenso typischerweise beim Laufen ein- sinkt. Dazu kommt, dass, in meiner Gewichtsklasse, sich die Gravitation im Sand besonders negativ auswirkt. Hier hilft also das ganze Absuchen nichts, man sieht eh nicht, womit die Füße in Berührung kommen.

      Doch zurück zum Thema “sich selber vertrauen“. Wenn man es nicht schafft, sich in vielen Situationen selbst zu glauben, kommt man schnell auf die Idee, sich anderweitig Sicherheit und Bestätigung zu suchen. Man bräuchte so etwas wie einen Blindenhund, der einem im Panikfall gegebenenfalls zehnmal wiederholt bestätigt, dass der Herd aus ist oder der Gehweg spritzenfrei war.

      Leider hat der Familienhund diese Rolle von vornherein strikt abgelehnt. Wenngleich er nichts dagegen hat, dass sein Herrchen, warum auch immer, plötzlich sein Interesse für die Umgebung rund um den unteren Rand von Laternen und Straßenbäumen teilt, hält er solche Suchaufgaben offenbar für deutlich unter seiner “Golden Retriever Würde“. Außerdem meint er scheinbar, schon genug unter “Herrchens Psychomacken“ zu leiden, weil er wegen dieser Macken regelmäßig dieses fies müffelnde Anti-Zecken-Zeugs aufs Fell bekommt. Schließlich muss man ja nur wegen Herrchens Panik, er könne mal eine Zecke in den sterilen Haushalt einschleppen, nicht gleich seinen guten Eigengeruch überdecken.

      Wenn aber der Familienhund also in Sachen “Blindenhund“ ein Totalausfall ist, bleibt nur noch der Missbrauch der besten Ehefrau von allen (wie Kishon sie nennen würde) als Ersatz-Blindenhund. Missbrauch ist hier ein durchaus angemessener Begriff, denn die Einsatz- und Aufgabengebiete des menschlichen Blindenhundes sind vielfältig, um nicht zu sagen fast unbegrenzt. Aber genau diese Hilfe macht vieles möglich, was ohne sie völlig undenkbar wäre.

      Dieser Einsatz beginnt schon frühmorgens mit dem quasi rituellen “Lesen aus der Wurst“. Ja, Sie haben richtig gelesen und nein, unsere Wurst ist nicht bedruckt. Der Begriff ist nur eine Worterfindung für ein wiederkehrendes Ritual. Unverschämterweise verwenden nämlich Metzger und Wurstfabriken, ohne jegliche Rücksichtnahme auf Leute wie mich, doch tatsächlich des öfteren Paprika und rote Gewürze in ihren Produkten. Denen ist dabei überhaupt nicht bewusst, dass ein roter Fleck auf der Wurst für einen fortgeschrittenen Neurotiker die dünne Grenzlinie zwischen Appetit und Panikanfall ausmachen kann. Eine der ersten wichtigen Fragen des Tages ist daher des öfteren die, ob es sich bei dem Fleck wirklich um Paprika handelt, oder ob sich eine fleißige Fleischereifachverkäuferin bei der Arbeit in den Finger geschnitten hat. Für diese allein schon Blutdruck erhöhende Fragestellung kommt es bei mir auch nicht darauf an, ob die Wurst vom Metzger oder aus industrieller Herstellung ist und vermutlich noch nie auch nur in die Nähe einer Fleischereifachverkäuferin gelangt ist. Realistisch betrachtet ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich nicht um Paprika, sondern um Blut handelt da wohl in etwa so groß wie die Chance auf einen Sechser im Lotto. Aber sobald es um Fragen von Angst und Zwang geht, ist Realismus nicht mehr mein Ding.

      Hier kommen die ersten Blindenhundaufgaben meiner Frau zum Tragen. Sie soll mir - natürlich nach eingehender optischer Analyse des Flecks - mindestens fünfmal versichern, dass es sich um ein Gewürz handelt und die Wurst genießbar ist. Abhängig von meiner Tagesform und der Überzeugungskraft der wiederholten Versicherungen der Genießbarkeit entscheide ich dann, ob die Wurst - unter Zurückstellung aller verbleibenden Bedenken - in meinem Magen, oder doch im Mülleimer landet.

      Apropos Frühstück! An dieser Stelle sollte ich wohl die hohe Gefährlichkeit von Brötchen erwähnen. Ist Ihnen schon jemals aufgefallen, dass Brötchen dazu neigen, beim Backen auf der Oberseite kleine bis größere Spitzen zu bilden? An diesen wiederum könnte sich hier die Bäckereifachverkäuferin beim Eintüten der Brötchen gepiekst haben.

      Sie halten die Wahrscheinlichkeit eines Infektionsrisikos durch eine ausgebackene Brötchenoberfläche für noch geringer als die des bereits erwähnten Sechsers im Lotto? Da haben sie vermutlich