Gunter Preuß

Der 884. Montag


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Kabel und Schnüre und wischte tatsächlich Staub von Telefonen und Faxgeräten. Er war dabei so pingelig, dass ich dachte, ich müsste raus und das Frühstück von mir geben.

      Kauer drückte mir ein Staubtuch in die Hand. Er sagte: "Nur zu, Mutzelkopp. Staub ist der Feind der Technik. Je früher du das begreifst. Um so besser für dich."

      Die Hände in den Hosentaschen geballt sah ich ihm zu. Ich dachte, dass ich mich über eine Decksplanke genau so hergemacht hätte, wie er über die-se Faselkästen.

      Kauer guckte hoch und sagte: "Mach doch keinen Firlefanz, Mutzelkopp, damit machst du's dir doch nur selber schwer. Jede Pflanze muss sich nun mal zur Sonne hinbiegen. Sonst geht sie ein. Wir sind jetzt ein Gespann. Da kann der eine nicht nach links ziehen. Und der andere nach rechts."

      "Was ist denn deine Sonne?", fragte ich. "Manchen reicht schon ein Heizgerät oder ein Paar Filzlatschen, in denen sie sich ihre Gichtzinken wärmen können. Nach was für einer Sonne soll ich mich denn hinbiegen?"

      Kauer versuchte seine Wirbelsäule wieder einigermaßen gerade zu rücken. Er öffnete Spalt weit ein Fenster, zwängte den Arm durch, wandte den Kopf ab und schüttelte das Staubtuch aus. Dann faltete er den Lappen zusammen und steckte ihn in die Tasche seines Blaumanns. Er sah noch einmal prüfend auf die elektrische Uhr und die Apparate, nickte den Frauen zu, wünschte "Einen wunderschönen guten Tag" und schob mich hinaus.

      In dem Stil ging es weiter. Als es Mittag war, schluckte Kauer abermals drei bunte Pillen, kaute wieder stinkiges Käsebrot und steckte sich die zweite Hälfte der Zigarre ins Gesicht. Es hörte einfach nicht auf, nach grünen He-ringen zu stinken.

      Nachmittags, als wir unsere Tour erledigt hatten, kurvten wir zur Pathologie zurück und tauchten in dem Kellerloch unter. Die anderen waren beim Umziehen und Firat sah mich mit Schellfischaugen an. Er wollte von Kauer wissen, ob ich entwicklungsfähig sei. Kauer nickte und meinte, dass wir das schon hinkriegen. Firat schüttelte den Kopf und schwieg, was ihm verdammt schwerfiel. Kauer stieg in seine langen Unterhosen und striegelte mit einer Pferdebürste seine Haare, die er mit Veilchengel an die Schädeldecke leimte.

      Eine Stunde nach Arbeitsschluss standen wir endlich außerhalb der Um-zäunung. Die große Sonnenblume war schon am Verwelken. Ich bestieg meinen Renner. Kauer warf sein Motorrad an. Es war ein Eigenbau mit Bei-wagen und verdammt viel PS, die er nie ausfahren würde. Er stülpte sich einen Wehrmachtshelm auf sein deutsches Weichei und rief mir zu: "Bis morgen dann, Mutzelkopp! Und hör mir auf mit dem Firlefanz! Wir sind doch schließlich keine kleinen Kinder mehr!"

      Ich sah ihm nach und dachte, dass es ihm flau war in der Magengegend und dreißig Zentimeter höher, weil ich Firlefanz machen könnte, wie sein Spruch war. Er würde großartige Schwierigkeiten kriegen, wenn ich nicht mitzog.

      5.

      Ich ritt durch die Stadt in Richtung Stall. Alle Leute, wenn sie nicht gera-de in einem Stau steckten, jagten mit der gleichen Geschwindigkeit heimwärts, mit der sie früh zur Arbeit hetzen. Da war nun mein neunhundertsechsunddreißigster Montag, der ja mein 884. Montag hatte bleiben sollen, bald über die Bühne gegangen und hatte nach Fisch gestunken. Von nun an würde es wohl endgültig jeden Tag Montag bleiben, und ich müsste meine Tage mit Rotstift an der weißen Tapete in Olgas guter Stube anstreichen. Ich brauchte ja nur noch aushalten und mich anpassen, wie es meine Frau Mutter und alle Welt von mir verlangten.

      Anpassen, wenn ich das verdammte Wort schon höre! Ich will mich nicht anpassen oder aushalten oder mithalten, ich will rein halten, mit vollem Rohr, und es muss was losgehen dabei, ich meine, es muss was passieren, nicht nur, dass ein Spruch nach dem anderen losgelassen wird. Aber ich glaube, man muss ganz oben sitzen, um was in Bewegung setzen zu können. Doch ehe man sich hochgetreten hat, ist vergessen, was man in Bewegung setzen wollte. Die meisten wollen mit ihrem Schimpansenbacken nicht vom Stuhl hoch, den sie anderen weggezogen haben. Sie haben Angst, mal einen eigenen Schritt zu wagen. Es geht genauso weiter wie im Sozialismus, wo jeder meinte, die Seligkeit wäre auf einem ausgelatschten Trampelpfad zu erreichen, immer dem rötesten Breitarsch hinterher, denn die anderen wer-den es schon richtig und aus allem Dreck Milch und Honig machen. Und Entschuldigungssprüche fürs Zugucken gibt es viele: Mir geht's doch gut so weit. - Was willst du denn, ich habe Frau und Kinder. - Ich habe genug auf dem Buckel, Mann! - Ich? Ich bin krank, Mann, krank bin ich!

      Na, ich kann den Scheiß nicht mehr hören über das Leben, das so lebens-gefährlich ist. Die meisten seilen sich an, als wollten sie den Mount Everest besteigen, wenn sie nur eine Bockleiter hoch wollen. Wir hatten an der Schule einen großartigen Pauker. Ich nannte ihn Prinzip Hoffnung, dieses Lichtlein in der allgemeinen Finsternis. Er hätte ebenso gut Seemann oder Flieger sein können. Er wäre überall einsame Spitze gewesen, weil er keine Sprüche machte und zuhören konnte, egal, was man auch von sich gab. Da-bei war er spätes Mittelalter, aber nur biologisch gesehen, sonst hätte ich ihm nicht mehr als achtzehn Sommer gegeben. Er wusste eine Menge, was er aber nie ausnutzte. Er war einfach ein Kumpel. Aber nach der Wende musste er abtreten, weil er Mitglied der SED gewesen war, was von den Schülern keinen gestört hatte. Jetzt zieht er mit seinem Zelt von Markttag zu Markttag und versucht, künstliche Blumen unter die Leute zu bringen. Auch rote Mainelken sind in seinem Angebot, nur dass die keiner nicht einmal mehr geschenkt haben will.

      Er sagte uns oft: "Es mussten Millionen Jahre vergehen, und der Mensch wäre nie zum Menschen geworden, wenn die Hand nicht den Daumen entwickelt hätte, um den Pinzettengriff ausüben zu können zur Herstellung von Werkzeugen und zur Durchführung komplizierter Arbeiten. Seht euch immer erst mal euren Daumen an, ehe ihr eine wichtige Entscheidung trefft, bevor ihr Ja oder Nein zu etwas sagt. Und gebraucht eure Hände, lasst den Daumen nicht verkümmern, wehrt euch, wenn euch einer den Daumen ab-schneiden will."

      Also, es war noch nichts Richtiges losgegangen, seit ich im Leben stand. Noch keiner hatte mir gezeigt, wo ich wirklich gebraucht werde.

      Als ich heute bei Olga ankam, roch es nach Kaffee und Kuchen. Ich erinnerte mich, dass ich ja Geburtstag hatte und noch allerhand überstehen musste. Olga hatte mindestens zehn Pfund Tortenpamps angefahren, der nach Kabeljau und Sprotten schmeckte. Sie zerriss sich um mich, als wäre ich gerade vom Scheintod erwacht. Die Frau nannte mich Säckel und Bruni. Ich ließ sie gewähren, weil ich mir noch immer die drei Affen vor Augen hielt.

      Sie hatte mir ein weißes Hemd und zwei Binder geschenkt. Als ob sie nicht genau wüsste, dass ich ein weißes Hemd nicht einmal anhaben möchte, wenn man mich in die ewigen Jagdgründe singt. Und dass ich so einen Binder nur dazu gebrauchen würde, um mich aufzuhängen. Aber erst, wenn ich den kaukasischen Opa überlebt habe, der mit seinen hundertfünfzig Sommern die einsame Spitze hält.

      Klock sechs kamen Tante Resi und Onkel Hagen und vertilgten mindestens acht Pfund Tortenpamps und schluckten drei Kannen Kaffee. Sie sehen aus, als wären sie soeben einem oberbayrischen Heimatfilm entstiegen. Regelmäßig jeden Freitag veranstalten sie bei uns eine Haussuchung mit anschließendem Kreuzverhör. Ich habe beide so lieb, dass ich ihnen mal was antun werde. Sie sind nach der Ost-Revolution, wie sie das nennen, aus dem Westen in unsere Stadt gezogen, um zu helfen, nun auch den Osten zu vergolden und um sich meiner Erziehung zu widmen.

      Tante Resi ist die Schwester meiner Mutter, nur tausend Jahre älter. Sie stinkt hundertmal mehr nach grünen Heringen, obwohl sie keinen verdammten Fisch verkaufen muss. Sie wiegt drei Zentner oder mehr, und sie bringt sich noch einmal selbst zum Platzen. Ich halte nichts von dürren Frauen, die fassen sich an wie ein Sack Hirschgeweihe. Aber fette Weiber sind wie Hefeteig, in dem der Finger stecken bleibt, wenn man ihn rein-steckt.

      Onkel Hagen ist so ein unverwüstlicher, aus Eisendraht und Stahlnägeln gebauter Krieger. Er war schon im Dreißigjährigen Krieg Offizier. Inzwischen hat er so das Zipperlein gekriegt, dass er den Rest seiner Jahre opfern müsste, sollte er einen Faden durch ein Nadelöhr fädeln. Als er in Rente ging, hoffte ich, jetzt schmeißt er die Flinte ins Korn. Aber Onkel Hagen wurde Mitglied eines Jagdvereins. Er legt alles um, was Fell und einen Schwanz hat. In der Abschussliste für streunende Hunde und Katzen steht er unangefochten an erster Stelle. Er