Nicole Beisel

Ich nannte dich Kate


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dass sie ihn in diesem Dokument wiederfand. Zumindest ging Betty davon aus; beinahe automatisch hatte sie diesen Namen mit dieser Sache in Verbindung gebracht, als wäre er fest in ihrer Erinnerung eingebrannt, obwohl sie zu diesem Namen, zu dieser Person überhaupt keinen Bezug hatte. Aber wer weiß, ob sich das nicht bald wieder ändert…

      Sie suchte und suchte, aber sie konnte diesen Namen nirgends finden. Schaute sie auch richtig? Ließ sie ihren Blick vielleicht doch etwas zu hastig über das Blatt Papier gleiten? Oder sah sie mittlerweile schlechter? Vielleicht war sie in diesem Moment auch einfach nur zu hektisch und fand deshalb nicht, wonach sie suchte. Sie gab auf, vielleicht zu schnell, klappte die Mappe nachdenklich zu und legte sie in ihren Schoß, die Hand wie zum Schutz obenauf. Ihr Blick war auf die offenstehende Schublade ihrer Kommode gerichtet, die sie einige Minuten später fest verschloss ehe sie den Schlüssel zurück an seinen Platz legte. Sie war sich sicher, dass dieser Name damit zu tun hatte. Dass diese Frau damit zu tun hatte. Wie konnte es sonst sein, dass sie ihrer Enkelin nicht mehr aus dem Kopf ging? Betty wusste nicht, wie die Dame aussah, sondern klammerte sich lediglich an die Informationen, die Linda ihr nach dem Abendessen mitgeteilt hatte. Vielleicht sahen die beiden sich ähnlich? Vielleicht wusste diese Kundin auch, wer Linda tatsächlich war, ohne sich etwas anmerken zu lassen? Aber das konnte eigentlich nicht sein, dafür war inzwischen zu viel Zeit vergangen. War diese Fiona mit einer festen Absicht hierhergekommen oder war es purer Zufall gewesen? An einen Zufall konnte und wollte Betty nicht so recht glauben, aber was sollte sie auch tun? Ihr blieb nichts anderes übrig, als Linda genauestens zu beobachten und auf der Hut zu sein. Vielleicht suchte diese Dame die Bank noch ein weiteres Mal auf. Sicher war es auch möglich, dass Betty dieser Frau irgendwann selbst begegnete, aber sie hatte sie nie zuvor gesehen und würde sie nicht erkennen. Schließlich lief niemand mit einem Namensschild herum, es sei denn, es waren wichtige Personen oder direkte Ansprechpartner. Aber eines stand fest: Betty würde nicht zulassen, dass man Linda weh tat. Sie liebte ihre Enkeltochter, ihre Liebe zu ihr wuchs seit dem Tod ihrer Kinder ins Unermessliche und würde niemals enden. Zumindest nicht so schnell. Immerhin war das ihre Hoffnung…

      Bettys kleines Geheimnis

      Als Linda am nächsten Morgen erwachte, um sich auf den letzten Arbeitstag in dieser Woche vorzubereiten, fühlte sie sich trotz des tiefen und recht langen Schlafs wie gerädert. Es hatte sich beinahe so angefühlt, als wären ihre Gedanken im Gegensatz zu ihrem Körper nicht einen Moment lang zur Ruhe gekommen. Vielmehr war sie sich ziemlich sicher, dass sie im Schutze der Nacht noch immer über diese seltsame Frau nachdachte, die sie in einen unsichtbaren Bann gezogen hatte. Möglicherweise war diese Dame selbst sich dessen gar nicht bewusst.

      Linda ging ins Bad, bemühte sich um ein frisches und gepflegtes Aussehen und setzte sich an den Frühstückstisch, den ihre Großmutter wie jeden Morgen liebevoll gedeckt hatte, obwohl Linda nur selten Zeit für ein ausgiebiges Frühstück hatte. Manchmal tat es Linda leid, dass Grandma sich solche Mühe gab, aber Betty war niemals enttäuscht gewesen oder gar müde geworden, sich weiterhin Tag für Tag solche Mühe zu geben, wenn es um ihre Enkelin ging. Sie kümmerte sich gerne um Linda; mit dem Decken des Frühstückstisches bekamen Bettys Bemühungen morgens aufzustehen erst einen Sinn. Betty mochte sich gar nicht vorstellen, was ihr fehlen würde, sollte Linda eines Tages ausziehen, um mit einem Mann zusammenzuleben, dem sie ihr Herz zu schenken gedachte. Was sollte sie alleine in diesem großen Haus mit seinen zahlreichen Zimmern, die zwar leer, aber zugleich voller Erinnerungen waren? Die Tatsache, dass es bislang keinen vernünftigen Mann in Lindas Leben gab und im Haus genügend Platz gewesen war, schenkte Betty immerhin ein bisschen Zuversicht. Zumindest wusste sie keinen Grund für einen eventuellen Auszug ihrer Enkeltochter.

      "Guten Morgen, Kleines". Betty hatte sich diese Angewohnheit noch immer beibehalten. So hatte sie sie schon immer genannt, und dass sie es auch jetzt noch tat gab Linda ein leises Gefühl der Vertrautheit. Etwas, das früher schon immer so gewesen war und sich bis heute nicht geändert hatte. Es gab ihr Sicherheit.

      "Guten Morgen, Grandma". Während Linda sich setzte und nach einem Croissant griff, prüfte Betty sie mit leicht irritiertem Blick. "Eigentlich wollte ich dich gerade fragen, wie du geschlafen hast, aber ich glaube, das kann ich mir sparen." Linda würdigte ihre Großmutter mit einem kurzen, leicht mürrischen Blick, ehe sie sich wieder ihrem Frühstück widmete. Betty startete einen letzten Versuch. Immerhin konnte sie sich denken, was ihre Enkelin so sehr beschäftigte. "Wenn du darüber sprechen möchtest, nur zu." Linda war ihrer Großmutter sehr dankbar dafür, dass sie immer für sie da gewesen war und sie auch immer alles besprechen konnten, ohne, dass Linda sich schlecht oder unbehaglich fühlen musste. Aber selbst, wenn Linda das Gespräch mit Betty gesucht und sie um Rat gefragt hätte, was hätte Linda denn überhaupt noch dazu sagen sollen? Das war ja das Seltsame an dieser Sache. Es gab nichts mehr zu sagen. Da war eine Frau, die die Bank betrat, weil sie einen Termin hatte wie zahlreiche Kundinnen und Kunden vor ihr. Sie hatte sich nicht sofort zurechtgefunden und Linda um Hilfe gebeten. Sie war nett und hübsch gewesen, aber auch nicht besonders. Und doch hatte Linda von der ersten Sekunde an das Gefühl, dass diese Dame für sich genommen schon etwas Besonderes war. Sie konnte sich nur nicht erklären, warum. Und da ihr auch sonst niemand eine Antwort würde geben könnten, machte es keinen Sinn, weiter darüber nachzudenken oder gar darüber zu sprechen. Linda wusste, dass ihre Gedanken stockten, dass es kein Vor und kein Zurück zu geben schien und dass sie letztlich nur warten konnte, bis diese Kundin langsam aber sicher in Vergessenheit geriet.

      "Danke, Grandma. Aber das ist nicht nötig. Ich komme schon zurecht." Betty beließ es dabei, denn sie wusste, dass Linda sich ihr zuwenden würde, wenn sie es für nötig hielt. "Ich muss jetzt los, aber ich bin ja bald wieder da. Dankeschön für das Frühstück. Bis heute Nachmittag." Mit einem sanften Kuss auf die Wange verabschiedete sie sich von ihrer Großmutter, die nun damit beschäftigt war, den Tisch wieder abzuräumen. Normalerweise hätte sie sich Zeit gelassen, aber an diesem Tag musste sie sich beeilen. Dr. Hayes hatte sie zu einer gründlichen Untersuchung einbestellt, zu der auch eine Blutabnahme gehörte, was der Grund dafür gewesen war, dass sie selbst sich an diesem Morgen kein Frühstück gegönnt hatte.

      Betty hoffte, dass der Arzt ihre Bedenken als harmlos erachtete und dass ihre Beschwerden auf ihr zunehmendes Alter zurückzuführen waren. Sie erzählte Linda noch nichts davon, sie wollte sie nicht unnötig beunruhigen. Vor allem jetzt, wo ihre Abschlussprüfungen nicht mehr allzu lange auf sich warten ließen und ihre Gedanken um seltsame Geschehnisse kreisten. Sie wollte nicht, dass Linda sich Sorgen um ihre Grandma machen musste, und Betty musste sich gleichwohl eingestehen, dass auch sie selbst sich nicht unnötigerweise verrückt machen wollte.

      Es wird schon nichts Ernstes sein, sagte sie sich selbst. Es sind nur ein paar Herzstolperer, mehr nicht. Heutzutage hat doch jeder mal Herzrhythmusstörungen.

      Das letzte vorhandene Marmeladenglas landete im Kühlschrank an seinem festen Platz ehe Betty in ihr dunkelblaues Kleid schlüpfte und sich auf den Weg zur Bushaltestelle machte. Zum Glück war der Weg nicht allzu weit. Dr. Hayes' Praxis war nur wenige Bushaltestellen von ihrem Haus entfernt, und unter normalen Umständen hätte Betty diesen Weg zu Fuß bewältigt. Aber da sie sich körperlich noch immer nicht ganz wohl fühlte und sie zudem deutlich spürte, dass sie an diesem Tag kein Frühstück zu sich genommen hatte, hatte sie beschlossen, den Bus zu nehmen.

      Dr. Hayes war ein netter verheirateter Mann Mitte fünfzig, der alle seine Patienten genauestens kannte und immer den richtigen Ratschlag parat hatte, was die guten alten Hausmittelchen betraf, auch wenn diese selbstverständlich nicht immer die geeignete Lösung für das eigentliche Problem waren. Sein Haar war in den letzten Jahren zunehmend grauer geworden und sein Bauch immer runder, aber der Blick in seinen Augen war gütig und herzlich wie eh und je. Genau das zeichnete sich auch in der Einrichtung seiner Praxis ab. Die Schränke waren neutral und einfach, aber nützlich, während das Wartezimmer mit Stühlen und einem Tisch aus Holz ausgestattet war. Man konnte sich dort beinahe heimisch fühlen. Kaum zu glauben, dass in diesem Raum Menschen saßen, die an manchen Tagen, in manchen Momenten sicher auch Angst empfanden. Genau wie Betty an diesem Morgen, auch wenn sie sonst sehr zuversichtlich ist.

      "Guten Morgen, Mrs. Wellington. Nehmen Sie doch schon