Gunter Preuß

Die Schule auf dem Baum


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weiß nicht', hat Panzer gesagt. 'Das Meer, Hans - Mensch, es ist doch so unendlich weit. Und so verdammt tief. Du, ich muss festen Boden unter den Füßen haben. Ich brauche ihn. Zum - zum Tanzen.'

      'Zum Tanzen? Du machst wohl Witze?'

      'Ich mache keine Witze. Ich - ich würde gern - ich will Tänzer werden.'

      'Tänzer?' habe ich gefragt. 'So auf der Bühne? Vor allen Leuten?'

      'Ja', hat Panzer gesagt. 'Wenn du lachst, haue ich dir die Kinnlade weg.'

      Ich lachte kein bisschen, warum auch?

      'Und dein Vater', habe ich gesagt. 'Der Mann ist doch Major oder so was in der Art. Der hat doch die ganze Brust voller Blech. Du hast immer gesagt, du wirst Panzerfahrer.'

      Panzer hat geschwitzt, so sehr hat er die Hände gegeneinander gepresst. Am Nachbartisch haben Mädchen gelacht. 'Weiber', hat Panzer gesagt. 'Überall müssen die sich reinhängen. Wir brauchen sie nicht.'

      Panzer ist dann ganz bleich und still geworden. Ich wohl auch.

      Wir sind aus der Eisdiele gerannt. Haben uns 'Mach's mal gut!' zugerufen. Das viele Eiswasser hat zu wirken begonnen. Ich habe es gerade so bis nach Hause geschafft.

      Karlchen trommelt noch immer. Woher der Stift nur die Kraft nimmt? Die Leute schreien sich im Treppenhaus heiser. 'Rabenmutter! ' 'Hure!' 'Dreckstück!' Aber am Tag werden sie alle wieder vor Karlchens Mutter in die Knie gehen. Weil ihr nämlich das Haus gehört.

      Es ist schon komisch, dass Panzer mich ins Eiscafé eingeladen hat. Was für ein Mensch ist Panzer eigentlich wirklich? Jedenfalls spielt er den Angeber nur. Ich hätte ihn gern mit auf der Pinta. Aber Panzer will ja tanzen. Wer das verstehen kann? Tänzer reißen mich auch nicht zu Begeisterungsstürmen hin. Auf alle Fälle sind sie mir sympathischer als Panzerfahrer.

      Großer Neptun. Und Karlchen trommelt. Wenn der Stift nur nicht so verdammt jung wäre, würde ich ihn unter das Kommando des Admirals stellen. Als Trommler. Wenn Land in Sicht ist.

      Achtundzwanzigster September. Sieben Uhr fünfzehn.

      Aufnahme! Aufnahme!

      Er segelte weiter auf seinem Weg nach Westen. An diesem Tag, bei Sonnenaufgang, hisste die Karavelle Nina - sie fuhr voraus, da sie sehr segeltüchtig war, die Schiffe fuhren jetzt um die Wette, denn jeder wollte zuerst Land sichten, um der Gnade teilhaftig zu werden, welche die Könige jenem verheißen hatten, der es als Erster sähe - eine Fahne auf dem Topp ihres Großmastes, und sie schossen eine Lombarde ab zum Zeichen, dass Land in Sicht war; denn so hatte es mir der Admiral befohlen. Da sie am Abend nicht das Land erblickten, das die Männer von der Karavelle Nina zu sehen vermeint hatten, und weil eine große Menge Vögel von Norden nach Südwesten vorüberflog und anzunehmen war, dass sie zum Schlafen an Land flögen oder dass sie vielleicht auf der Flucht vor dem Winter waren, und weil der Admiral wusste, dass die Portugiesen die meisten der Inseln, die sie besitzen, durch Beobachtung des Vogelfluges entdeckt hatten, erklärte sich der Admiral einverstanden, dass man den Westkurs verließ und den Bug nach Westsüdwest richtete, mit der Absicht, zwei Tage lang auf diesem Kurs weiterzusegeln.

      Die ersten beiden Unterrichtsstunden fallen aus. Ich bin nicht gewöhnt, morgens Zeit zu haben. Jeden Morgen renne ich wie blöd durch die Gegend. Um ja nicht zu spät zu kommen. Das ist nämlich für meine beiden Alten das zweitschlimmste Verbrechen. Es kommt gleich nach der Unordnung.

      Der Mann und die Frau sind längst aus dem Haus. Sie reden am Morgen kein Wort miteinander. Alles geht wie geschmiert. Auf die Sekunde. Drei Minuten machen sie Sitz, um diese schwarze Brühe zu schlucken. Aber dann jagen sie los. Irgendeinem unsichtbaren Hasen hinterher.

      Ich sitze am Küchenfenster und sehe hinaus. Wir wohnen im dritten Stock. Aber ich kann trotzdem nicht weiter sehen als bis zum nächsten Haus. Das steht einen Katzensprung von unserem Haus entfernt. Dazwischen ist eine Straße, auf der Tag und Nacht das ganze Blech scheppert und kracht. Hinter dem Haus sind auch Häuser. Meilenweit Mauern. Wer das aushalten kann.

      Der Schulrat will unsere Schule besichtigen. Nun müssen wir alle kreiseln. Es ist wie bei Schorns, wenn meine beiden Alten Besuch erwarten. Da wird alles keimfrei gemacht. Als hätten sie Angst, der Besuch könnte sich mit einer unheilbaren Krankheit anstecken und sie dafür verantwortlich machen.

      Ich soll ein für alle Mal vom Baum herunter. Jeder verlangt das von mir. Die Direktorin Wendisch. Die Lehrer. Horst Rappke, der alte Knabe, hat mir angedroht, mich in seiner Umarmung verhungern zu lassen. Keine Ahnung, warum den stört, dass ich auf dem Baum sitze. Er kurvt jeden Tag enger um Christa Mällmann herum. Ich habe sehen müssen, wie sie erste Hilfe trainiert haben. Mund-zu- Mund-Beatmung. Sollen sie doch ersticken daran.

      Auch der alte Hausmann sagt, dass ich von der Kastanie herunter soll. Aber bei ihm klingt es so, als wollte er, dass ich da oben bleibe. Er hat auch nicht meine beiden Alten informiert. Wie es sein Auftrag war. Panzer versorgt mich mit Informationen. Er sagt, wenn er aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen kein Tänzer werden kann, dann wird er Geheimagent. Er weiß nur noch nicht für wen er arbeitet. Für die Russen. Oder für die Amerikaner. Aber wahrscheinlich für die Indianer. Oder für die Aborigines. Jedenfalls für einen Freund.

      Ich will keinem Ärger machen. Auch dem Schulrat nicht. Früher hätte ich vielleicht das große Zittern bekommen, wenn so ein Max angetanzt wäre. Aber ich stehe bald unter dem Kommando des Admirals. Inzwischen hat nur noch der große Neptun das Sagen über mich.

      Ich schreibe es den Leuten in der Schule jetzt auf. Und werde es ans Schwarze Brett pinnen. Vielleicht versteht mich dann einer.

      Er segelte nach Westsüdwest, und sie legten am Tag und in der Nacht elfeinhalb oder zwölf Meilen zurück; das Meer war ruhig wie der Fluss bei Sevilla. Gott sei gelobt, sagt der Admiral hier: Die Lüfte sind sehr sanft wie im April in Sevilla, so dass es ein Vergnügen ist, sie um sich zu spüren, so wohlriechend sind sie. Das Gras schien sehr frisch zu sein; man sah viele Landvögel, und sie fingen einen von denen, die nach Südwesten flohen, es waren Tölpel, Enten und ein Pelikan.

      Zweiter Oktober. Vierundzwanzig Uhr.

      Aufnahme! Wer mich hören will!

      Es ist wieder einmal Freitag. Und Geisterstunde. Ich bin auf den Apfelbaum gestiegen. Auf dem Grundstück rührt sich nichts. Absolute Flaute. Wie an jedem Wochenende. In der Hütte habe ich es nicht aushalten können. Der Gestank nach Sonnenöl und Bratwürsten ist noch hier draußen zu riechen. Das Schnarchen meiner beiden Alten ist bis hierher zu hören. Sie haben irgendwas gefeiert. Der Mann hat fast einen Kasten Bier geschluckt. Die Frau hat zwei Flaschen vom Rotwein befreit. Nun sind die Alten happy.

      Heute haben die Mällmann und der Rappke wieder Mund-zu-Mund- Beatmung betrieben. Dass ich es sehen musste. Panzer hat gesagt, sie wären zwei alte Säue. Er hat von mir wissen wollen, ob er dem alten Knaben Rappke einen Arm, ein Bein oder sonst was auskugeln soll. 'Lass mal', habe ich gesagt. 'Es interessiert mich kein bisschen, wie die beiden ihre Bazillen übertragen.'

      Panzer hat gewollt, dass wir nach dem Unterricht gemeinsam was unternehmen. Er kennt einen Mann vom Theater. Der würde uns hinter die Kulissen sehen lassen. Das wäre spannend, hat Panzer gesagt. Der reinste Krimi. 'Ein andermal', habe ich gesagt. 'Heute passt es nicht.' 'Na schön', hat Panzer gesagt. 'Ein andermal. Aber versprochen.' Er hat schnell begriffen, dass ich allein sein wollte.

      Bevor meine beiden Alten mich zu ihrem Grundstück transportierten, bin ich mit dem Rad zum Tagebaugelände gefahren. Vom Stausee ist hier eine Pfütze übrig geblieben. Am Steg sind noch zweieinhalb Boote vertäut. Einer der Kähne hat schon viele Jahre auf dem Buckel. Er ist leck an vielen Stellen. Neptun hätte ihn längst absaufen lassen, wenn ich ihn nicht ab und zu leer schöpfen und mit Kaugummis abdichten würde.

      Als ich den Kahn wieder trocken hatte, habe ich Segel gehisst und Flagge gezeigt. Lust hatte ich zu gar nichts. So eine Frau wie Christa Mällmann ist schlimmer als Zahnziehen ohne Betäubung. Ich finde sie rundum behämmert. Und trotzdem. Das Weib bringt meine Hormone in Aufruhr. Wenn ich auf See bin, schenke ich sie dem alten Knaben Rappke. Und ein Grundstück dazu. Vielleicht produzieren sie mal einen