Gunter Preuß

Die Schule auf dem Baum


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die Sache mit dem Jungen auf dem Baum nicht aus dem Kopf. Das treibt mich durch den Garten und lässt mich schwitzen.

      "Verdammter Lausebengel! Verdammt! Verflucht und zugenäht!"

      Ich sehe mich um. Aber ich bin allein im Garten. Seit über einem Jahr. Henni hat mich verlassen. Sie ist tot.

      Seitdem Henni nicht mehr da ist, spüre ich mein Alter. Aus Beinen und Händen ist die Kraft gewichen. In meiner Brust ist etwas gewachsen. Ein Stein. Im Unterricht rede und rede ich. Ich erzähle, was der Unterrichtsplan verlangt.

      Ich bin alt. Ich fühle es. Ich sehne mich nach Ruhe. Nach Sommerabenden hier in meinem Garten. Nach dem Duft der Rosen, nach ihren kräftigen Farben. Gras will ich unter meinen Füßen spüren. Erde will ich umgraben. Im Korbsessel will ich sitzen und denken, dass Henni in der Laube wirtschaftet. Ich werde auf den Augenblick warten, da sie mir ihre Hand auf den Nacken legt. Zeilen aus vergessenen Gedichten werden mir zufliegen.

      Auf einmal liege ich auf der Erde. Ich bin beim Umherlaufen über etwas gestolpert und gefallen. Der Schreck war kurz. Es liegt sich angenehm, so auf dem Bauch. Gesicht und Hände spüren die warme Erde. So möchte ich liegen bleiben. Schlafen. Erst einmal schlafen. Aber da ist das Klopfen in der Brust.

      Ich stehe auf und spüre den Schmerz. Ich humple zum Korbsessel und setze mich. Gebrochen ist nichts.

      "Dieser dumme Junge! Welcher Teufel reitet ihn eigentlich?"

      Mit zitternden Fingern zünde ich mir die halbe Zigarre an, die ich allabendlich rauche. Nach dem ersten Zug drücke ich sie aus. Noch ein paar Monate, und ich werde in Rente gehen. Zeit werde ich haben. Vergessen werde ich können. Das, was wehtut. Festhalten werde ich, was wohltut. Ich werde nicht mehr vom Bombenhagel und dem tage- und nächtelangen Verschüttet sein träumen und aufschrecken müssen, dass ich bis zum Morgen keinen Schlaf mehr finde. Ach, die Vergangenheit. Der Schwamm ist drüber. Die weiße Kreide ist weggelegt. Ich habe nichts mehr an die Tafel zu schreiben als Es ist.

      In meinem Garten soll es grünen und blühen.

      Der Pirol krächzt wie eine Krähe im tiefsten Winter. Ich klatsche in die Hände. Das stört den Vogel nicht. Ich greife nach einem Stein. Da fliegt er davon.

      Ich habe Hans Schorn nach dem Unterricht in das Lehrerzimmer bestellt. Zuerst wollte ich ihn zu einem Spaziergang einladen. Das hätte er falsch auffassen können. Als Schwäche von mir. Wenn man sich schwach fühlt, kann man sich keine Schwäche leisten.

      Ich habe von unserer jungen Direktorin gelernt. Ich sitze am Tisch, einen Kugelschreiber in der Hand. Auf der anderen Seite des Tisches steht der Junge. Ich blättere im Klassenbuch. Dann sehe ich ihn an.

      Ich atme durch. Das wird nicht schwer werden. Der Junge gehört nicht zu diesen Burschen, die ihren Lehrern Prügel androhen.

      So, wie er nun vor mir steht, tut er mir fast leid. Es ist nichts Auffallendes, nichts Besonderes an ihm. Schmal und blass ist er. Mittelgroß. Er hat dunkle und lockige Haare. Sein Gesicht hat etwas Mädchenhaftes. Sein Körper wirkt weich, ja unfertig. Und doch, er ist ein Junge. Ich sehe es, als er mich kurz mit seinem Blick misst und mich mein Alter spüren lässt.

      Ich bemerke, wie meine Hand den Kugelschreiber auf die Tischplatte stößt. Ich schiebe den Stift weg. Der Junge hat den Kopf gesenkt, die Hände hinter dem Rücken.

      "Hans Schorn", sage ich. "Ich muss mit dir reden."

      Mir ist heiß. Ich öffne das Fenster. Aber da sehe ich die alte Kastanie. Ich schließe das Fenster. Ziehe den Vorhang zu.

      "Hör mal", sage ich. "Hör mal. Wir haben uns das lange mit angesehen. Du sitzt auf diesem Baum. Zwanzig Meter über dem Erdboden. Mitten auf dem Schulhof. Hast du etwas dazu zu sagen?"

      Ich höre meine Stimme fremd und aggressiv. Ich wische mir mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

      Der Junge schweigt. Wieder hat er mich kurz und prüfend angesehen. Wie soll ich es ihm nur begreiflich machen, diesem Grünling, dass ein alter Mann keinen Ärger gebrauchen kann. Ich will Ruhe haben. Ich will mich vorbereiten. Auf das, was kommt. Ich will mich nicht überraschen lassen. Ich habe mich oft bücken und manchmal sogar kriechen müssen. Das letzte Stück Weg will ich aufrecht gehen.

      Diese Hitze. Die Trockenheit seit Wochen.

      "Hans Schorn", sage ich. "Der Baum. Junge, was willst du da oben?"

      Wieder dieser Blick. Keine Antwort. Ich packe das falsch an.

      Ich weiß es. Ich erinnere mich, wie ich vor der jungen Direktorin gestanden habe.

      "Du wirst mir jetzt antworten, Schorn!"

      Wieder halte ich den Kugelschreiber in den Händen. Der Junge schweigt. Mir ist, als drücke sich das Grün der Kastanie in den Raum.

      Ich muss aus diesem Zimmer. Aus dieser Schule. Meine Hände zittern. Hart und rhythmisch klopft die Spitze des Kugelschreibers auf die Tischplatte. Dazu höre ich eine Stimme. "Wir tragen die Verantwortung…! Zwanzig Meter über dem Erdboden...! Die ganze Schule in Verruf...! Ich spreche dir hiermit einen Verweis aus..."

      Allein. Sekunden? Tage? Jahre?

      "Hans Schorn!" rufe ich. "Hans!"

      Es ist niemand mehr in der Schule. Meine Schritte hallen im Flur. An der Kastanie schließe ich die Augen. Endlich erreiche ich die Straße. Ich renne, vorbei an all den Leuten.

      Kein Wind ist zu spüren. Es ist, als stünde die Sonne zum Greifen nahe über der Stadt. Der Staub bildet bunte Nebel. So muss es in der Hölle riechen.

      Die Schule hat ihre Ruhe wieder. Der Junge sitzt nicht mehr auf dem Baum. Alle, Lehrer und Schüler, sind irgendwie erleichtert. Die Spannung ist raus. Jeder bewegt sich wieder sicher.

      Seit drei Tagen nickt Frau Wendisch mir zu, wenn wir uns im Treppenhaus der Schule begegnen. Achtungsvoll und wie entschuldigend. Als hätte sie mich falsch beurteilt.

      Mit mir geschieht Eigenartiges. Es hat mich erst überrascht, und nun erschreckt es mich. Ich begreife es nicht.

      Anfangs, als der Junge nicht mehr auf dem Baum saß, war ich erleichtert. Mein weiteres Leben würde so verlaufen, wie ich es mir vorstellte. Mein Ziel war der Garten. Nun ja, Rückkehr ins Paradies.

      Aber bald hat sich mein Befinden geändert. Ich bin unzufrieden, ohne zu wissen warum. Ich bin todmüde und kann nicht schlafen. Das Herzklopfen, das mich geängstigt hatte, fehlt mir. Lustlos absolviere ich meinen Unterricht. Ich esse kaum etwas. Hatte immerzu Durst.

      Im Schulhof ertappe ich mich oft, dass ich vor der Kastanie stehe. Ich betrachte sie genau, und es kommt mir vor, als fehle ihr etwas.

      "Du bist verrückt, Hausmann", sage ich mir. "Alter, was willst du eigentlich?"

      Es geschieht vieles an der Kastanie. Bisher ist es mir verborgen geblieben. Die Einschusslöcher an ihrem Stamm dienen den Schülern als Briefkästen. Die unteren Löcher benutzen die Kleinen. Die oberen Löcher die Älteren. Mädchen und Jungen tauschen darin Nachrichten aus. Zettelchen und kleine Geschenke werden dort abgelegt und angenommen. Es gibt ein großes Astloch im Stamm. Es ist nicht ohne weiteres zu erkennen. Ein Rindenstück, das sich abnehmen lässt, verdeckt es. Einer Gruppe von Jungen und Mädchen dient es als Vorratskammer. Wenn sie sich unbeobachtet fühlen, versorgen sie sich aus dem Astloch mit Alkohol und Tabletten, die sie in Stimmung bringen sollen. Das Astloch habe ich mit Zement verschlossen.

      Nach dem Unterricht gehe ich wie jeden Tag in meinen Garten. Die meiste Zeit sitze ich im Korbsessel, über mir im Apfelbaum sitzt der Pirol. Ich höre ihn nur noch krächzen. Die Blätter verfärben sich rot. Mir ist heiß. Mir ist kalt.

      Nachts gehe ich auf den Schulhof. Richte den Strahl der Taschenlampe auf die Baumkrone.

      Ich lasse Hans Schorn nicht aus den Augen. Nicht im Unterricht. Nicht in den Pausen. Ich bin neugierig, was er wohl antworten würde, wenn ich ihn nach seiner Lieblingsfarbe fragte. Rot. Ist Rot deine Lieblingsfarbe? Und was er wohl gern isst? Ob die Hitze ihm auch zu schaffen macht? Liebst du Afrika? Oder möchtest