Gerda M. Neumann

Ein stilles Dorf in Kent


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Begrüßung quittierte er mit einer ruhigen Bewegung seiner Hand über den weißen Entenkopf. Ein letzter Schrei aus voller Kehle, dann schloss das Tier den Schnabel und senkte den Kopf.

       »Wir versuchen gerade zu erraten, welche Stauden hier aus der Erde kommen und wie schön alles in wenigen Wochen aussehen wird«, erweiterte Olivia die Begrüßung.

       »Ja, ganz richtig, das sind alles Stauden. Die alte Lady hat sie gesetzt.«

       »…und sie sind durch gute Pflege auf dem Weg zur Unsterblichkeit…«

       »So ungefähr. Ich teile sie halt immer wieder mal und nehme die alten Teile dabei weg, gebe den Wurzelstöcken neue Erde… wie das so geht… aber ich verändere damit nichts, da haben Sie schon recht.« Er räusperte sich: »Die jetzige Hausherrin ist nicht da und auch sonst niemand. Wenn Sie wollen, kommen Sie herein, ich zeige ihnen den Garten.«

       »Aber…«, Susan fuhr ein wenig zurück, »das geht doch nicht.«

       »Doch, geht. Ist in gewisser Weise auch mein Garten, ich pflege ihn schon ewig. Und eine solche Pracht muss man mit anderen teilen, jedenfalls wenn es die anderen auch freut… und so sehen Sie mir aus.« Er schlurrte zwei weitere Schritte vor und entriegelte die Pforte: »Bitte sehr, meine Damen. Joe, du übernimmst die Nachhut.« Sorgfältig sicherte er hinter ihnen die Pforte und übernahm die Führung. Die Ente, die scheinbar ein Enterich war, watschelte am Schluss. So bewegte sich der Gänsemarsch, oder besser der Entenmarsch, auf dem schmalen Pfad zwischen dem Buchsbaum.

       Die Führung an den zahllosen Beeten entlang war so ausführlich, wie nur ehrliche Begeisterung sie zuwege bringt. Der alte Gärtner spürte sie in den vielen Fragen Olivias. »Wenn ich mich umschaue«, sinnierte sie endlich, »müsste Ihre Herrschaft Roses oder Cardoon heißen oder eine der beiden Blumen schmückt wenigstens das Familienwappen.« Abwartend sah sie ihn an.

       »Was Sie nich’ sagen… keine Ahnung von einem Wappen. Aber Cardoon heißt die Familie wirklich. Die jetzige Besitzerin ist auch stolz darauf. Sie hat die vielen verschiedenen Distelarten gepflanzt. Zwischen all den Margeritenstauden sehen sie im Hochsommer auch wirklich gut aus. Hätte ich gar nich’ so gedacht… früher hatten wir nie welche, wissen Sie. Dort hinten«, er zeigte auf eine Art Gartenpavillon, der die Nordwestecke des Gartens markierte, »wachsen die größten. In guten Jahren werden die Pflanzen an die zwei Meter hoch und bekommen viele dunkellavendelfarbene Blüten, ein bisschen so wie die von Artischocken. Zusammen mit dem silbernen Laub sieht das schon gut aus… eigenwillig… aber gut.«

       Olivia ging ein wenig näher. Ratlos sah sie ihren Führer an: »Aber dann blockieren die Pflanzen diese Gartenecke völlig… ist das so?«

       Er räusperte sich, möglicherweise ein wenig unbehaglich, war ihr vager Eindruck, bevor er sich einen Ruck gab: »Wissen S’e, das dahinter ist das Familiengrab. Dort sind die Urnen von all den toten Cardoons… auch von den Eltern der jetzigen… und dort wird sie auch einmal enden.«

       »Ach du lieber Himmel!« entfuhr es Olivia. »Entschuldigung«, bat sie gleich im Anschluss, »aber das frappiert mich etwas.«

       Der alte Diener nickte verständnisvoll: »Iss so, aber eigenwillig, das auch… iss nun mal Tradition. Aber schauen Sie«, jetzt zeigte er zur Südwestecke, »der Pavillon dort ist den ganzen Sommer hindurch mit roten Rosen überwachsen, so vielen, dass man den Sommer hindurch eigentlich nirgend woanders hinschaut. So ist dann alles in Ordnung. Ich zeig’s Ihnen später mal, wenn Sie wollen.«

       Susan nutzte diesen gastfreundlichen Ausblick, um sich zu bedanken und zu verabschieden. Olivia folgte ihr, nachdem sie mit ihrem Dank an den alten Gärtner die Bitte verbunden hatte, in einigen Wochen wiederkommen zu dürfen.

       Als der Weg sich hinter einem weiteren kleinen Stück Wald zwischen die offenen Weiden senkte, fand Susan endlich ihre Sprache wieder: »Es gibt entschieden merkwürdige Züge an diesem Landstrich.«

       »Du magst Gräber einfach nicht, nicht wahr?« Susan schüttelte den Kopf. »Die Gräber nicht oder die Toten?«

       »Wo ist da der Unterschied?« Susan schlang die Arme um ihren Oberkörper.

       »Im einen Fall sind es einfach Gegenstände: Urnen mit Asche gefüllt. Im anderen Fall irgendeine Form von Gegenüber, könnte ich mir denken…«

       »Du meinst, weil ich gestern gesagt habe, die Toten können uns vielleicht hören? Dass das auf die Asche nicht zutrifft… ich weiß es nicht… Ich finde diese Totenecke jedenfalls ziemlich gruselig. Stell dir mal vor, du sitzt an einem schönen Sommertag auf der Terrasse – im Angesicht der Toten. Was immer du im Garten tust – im Angesicht der Toten. Und selbst im Haus, am Abend, wenn du drinnen die Lichter anzündest, anschaltest, was immer, von draußen der Blick der Toten. Sie sind immer da und du weißt von ihnen eine ganze Menge, schließlich sind sie alle deine Verwandten. Sicher fängst du irgendwann an, mit Ihnen zu reden, in Gedanken natürlich, aber doch. Das kann nicht gut sein, nicht für das Leben!«

       Die nächsten vielen Meter schwiegen beide. »Hast du in Indien viele Tote gesehen?« nahm Olivia den Faden behutsam auf.

       Überrascht sah Susan sie an. »Ja, sicher. Dort ist der Tod Teil des Lebens. Viel wirklicher als hier in England. Aber Indien ist weit weg. Es liegt hinter mir.«

       Jetzt wechselte die Überraschung zu Olivia: »So schnell? Wie geht das?«

       »Es ist einfach passiert. Als ich das Haus betrat. Tante Delias Anwalt hatte mir die Schlüssel gegeben, in London. Ich stand ein paar Atemzüge lang in der offenen Tür und schaute mich um. Dann schloss ich die Haustür. Als ich mich danach wieder umdrehte, schien das Haus mich zu begrüßen. Seitdem haben wir ein schweigendes Übereinkommen: Ich sorge mich um das Haus und im Gegenzug wird es mir immer Geborgenheit geben. Das, was ich nie hatte.«

       »Redest du mit deiner Tante, im Geiste, meine ich?«

       »Nein, das nicht. Ich frage mich manchmal, was sie jetzt an meiner Stelle täte, aber das ist etwas anderes. Tante Delia ist nicht mehr da. Das Haus ist ganz meines. Sira sagte das auch schon.« Viele Meter später fuhr sie fort: »Tante Delia war immer ein Gegenüber, eine Gesprächspartnerin, die Ratschläge gab, half Vorstellungen zu besichtigen, Ideen zu entwickeln. Nie hätte sie die Entscheidung beeinflusst. Sie ließ mich immer völlig frei. Und so ist ihr Haus jetzt das meine, da sie es nicht mehr bewohnen kann.«

       In einem Bogen gelangten sie, dieses Mal aus der anderen Richtung, zu dem weißen Farmhaus mit den grünen Fensterläden in dem großen Garten. In ihm ging eine alte Frau mit zwei Stöcken langsam spazieren. Susan begrüßte etwas später Mrs Mellings Esel. Langsam und schweigend stiegen sie nach Howlethurst hinauf. In dem Wäldchen unterhalb der Kirche begegneten sie Mrs Melling selbst. Sie trug ein Netz mit Lebensmitteln, wie Olivia es seit Kindertagen nicht mehr gesehen hatte. Es funktionierte einwandfrei. Susan übernahm die Vorstellung.

       »Sie sind also die Nichte von Mr Fisher?« Mrs Mellings Interesse war nicht zu übersehen.

       »Eine Nichte«, korrigierte Olivia.

       Der musternde Blick wurde aufmerksamer: »So, ja dann… Wir treffen uns sicher wieder.« Sie nickte beiden zu und ging an ihnen vorbei den Hang hinunter. Susan wunderte sich offensichtlich, aber sie schwieg. Sie waren den Toten und den Lebenden für ihren Geschmack wieder zu nah gekommen.

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