Gerda M. Neumann

Ein stilles Dorf in Kent


Скачать книгу

»Wissen Sie etwas über das Verhältnis zwischen Vater und Tochter?«

       Mr Mottram leerte sein Sherryglas, in Ruhe, stellte Olivia bei sich fest. »Ich fürchte, darüber weiß ich nichts«, bekannte er bedauernd. »Aber das könnte ein gutes Thema für Sie sein, wenn Sie mit der jungen Frau ins Gespräch kommen, meinen Sie nicht?«

       »Wenn…« Sie sah einen nach dem anderen genau an: Leonard bemühte sich, ein neutrales Gesicht zu machen, Raymund schaute ernst und offen, Roger Mottram voll erwartungsvoller Hoffnung. Wie kam er nur dazu, sie war Übersetzerin und Journalistin und zwar gern. Nur weil die Neugierde sie sehr gelegentlich in einen Mordfall hineingerissen hatte, musste sie doch nicht zwangsläufig zur Wiederholungstäterin werden. Sie seufzte hörbar: »Wissen Sie, ich bin alles andere als ein Profi im Aufstöbern von Erklärungen für verwirrende Befunde oder auch für eine so klare Frage wie die: Wer hat Delia Large ermordet. Mit einem solchen Verdacht sollte man doch die Polizei in Bewegung setzen können.«

       »Du übersiehst den Totenschein von Dr. Chalklin, Puck«, erinnerte Raymund sie sanft und zurückhaltend. »Aphra und Roger sind aus einer Reihe von Gründen anderer Meinung als er, aber das interessiert unter diesen Umständen keine offizielle Stelle.«

       Mr Mottram erhob sich etwas schwerfällig und trat hinter seinen Sessel. Beide Hände auf die Lehne gelegt, sah er Olivia verständnisvoll an und entschuldigte sich sehr förmlich. Nichts lag ihm ferner, als sie zu bedrängen. Leonard stand ebenfalls auf: »Ich könnte Sie ins Pfarrhaus begleiten, und wir schauen, ob wir aus Ihren Kirchenbüchern noch mehr Statistiken herauslesen können und ob uns das weiterbringt. Am hellen Tag macht sich so etwas Trockenes besser als am Abend… wenn sie einverstanden sind.« Erleichtert stimmte der Pfarrer zu. Leonard umarmte Olivia: »Es wird ein wenig dauern, mir sind noch einige Fragen eingefallen.« Und schon eilte er hinter Mr Mottram durch den Garten davon.

       Mit leicht geneigtem Kopf sah Olivia ihnen nach: »Kommt der Pfarrer immer so inoffiziell hinten herum zu dir?«

       »Normalerweise nur, wenn ich den Türklopfer nicht höre, was im Garten immer der Fall ist.« Ihr Onkel überlegte kurz. »Genau betrachtet macht er das auch erst seit Anns Tod. Seltsam? Es hat mich, glaube ich, nie gestört.«

      Kapitel 2

      Raymund Fisher ging hinaus in den Garten. Leise rief er nach Marmalade. Das Katzenmädchen schob sich mit durchhängendem Kreuz unter der Buchsbaumabgrenzung zum Gemüsegarten hindurch, streckte sich behaglich und spazierte heran, strich um die Beine seines Besitzers und wandte sich neugierig Olivia zu. Folgsam hockte diese sich nieder und kraulte die junge Dame hinter den Ohren. Leise erzählte sie ihr, wie hübsch sie sei, doch nicht lange, dann musste sie lachen. »Wie viel närrisches Zeug man aus dem Stegreif zu reden imstande ist!« Sie streckte sich nun ebenfalls. Einen Handstandüberschlag oder andere unerwartet ausgreifende Aktionen verkniff sie sich angesichts des Katzenmädchens. Seit den Balletträumen ihrer Schulzeit halfen ihre die seinerzeit vieltrainierte Übungen, ihrem inneren Menschen Luft zu verschaffen und sich zu entspannen. Das ging nun nicht, aber es bedeutete ihr gerade nicht viel. »Ach, Raymund, wie schön es bei dir ist! Schau mal«, sie schlenderte zu den Rosen hinüber, »das dunkle Rot der jungen Blätter über einem Meer blauer Frühlingsanemonen.«

       Während er sein Rosenbeet betrachtete, nahm der Onkel zum ersten Mal Stellung: »Puck, selbstverständlich kannst du Rogers Ansinnen ablehnen.«

       Olivia sah ihn an: »Warum hast du mir nichts gesagt?«

       »Du weißt, dass ich die Dinge nicht gern unnütz herum rolle. Er sollte es dir zuerst einmal selber erzählen, handelt es sich doch um sein Problem. Ihm würdest du helfen, nicht mir, jedenfalls nicht in erster Linie.«

       »Aber du nimmst es genauso ernst?«

       »Bis zum Tode von Mrs Large nahm ich es ernst, weil ich Roger sehr ernst nehme. Aber ich sah weder eine Möglichkeit noch wirklich eine Notwendigkeit zum Handeln. Jetzt, denke ich, ist der Zeitpunkt zum Handeln gekommen, weil Rogers Verdacht für mich unabweisbar zu sein scheint, ich sage scheint, und außerdem ein erster Ansatzpunkt für Fragen greifbar ist.«

       Er sah sie offen an. Langsam schlenderten sie an den verschiedenen Rosen entlang. Schließlich blieb Olivia stehen: »Der einzige Schluss, den deine Äußerung zulässt, ist der, dass auch du den Tod von Mrs Large für Mord hältst.« Sie sah ihn fest an. »Demnach wäre die Überzahl der Todesfälle ebenfalls auf Mord zurückzuführen. Und da Morden kein Gesellschaftssport ist, hättet ihr einen Serientäter unter euch.«

       »Vermutlich eine Täterin.«

       Olivia wartete.

       »Die meisten Toten sind Frauen«, ergänzte ihr Onkel, »ich glaube, man darf das aus Rogers Befund schließen. Es geschieht vollkommen gewaltfrei und aus präziser Kenntnis der Verstorbenen. Nur so ist es möglich, dass Dr. Chalklin immer eine natürliche Todesursache diagnostiziert. Deshalb halte ich es für die Handschrift einer Frau.«

       »Wenn auch du den Tod der Mrs Large für Mord hältst, wäre das trotz Dr. Chalklin der Zeitpunkt, die Polizei zu benachrichtigen.«

       »Die wird uns auf den Totenschein zurückverweisen.«

       »Also steht Dr. Chalklin zwischen euch und der Polizei.«

       »So kann man es sehen.«

       »Hältst du es wirklich für vollkommen zwecklos, mit ihm über den letzten Fall, nur über den letzten, noch einmal zu reden?«

       »Es ist zwecklos. Roger hat es versucht und wurde kompromisslos abgeschmettert. Chalklin lässt nur Fakten gelten.«

       »Hmm, mit so einem Menschen kann man sich im Grunde nicht persönlich unterhalten.«

       »Das unternimmt auch niemand. Aber bevor er beginnt, dir leid zu tun, kann ich dich beruhigen: Er hat ein kleines Apartment in London. Dorthin fährt er, sobald die Praxis geschlossen ist. Das Leben dort scheint mir ein durchaus geselliges zu sein, sonst müssten allmählich kauzige Züge an ihm sichtbar werden. Das ist nicht der Fall.«

       Ihr Schlendern durch den Garten kam vor dem Wintergarten wieder zum Stehen. Gemeinsam sahen sie auf die ruhige Rasenfläche, die geraden Linien des Buchsbaums und die überall neu erwachenden Stauden. »Mein Problem ist«, hob Raymund an, »dass ich niemanden außer dir sehe, der sich dieses Falles annehmen würde. Und gleichzeitig habe ich beträchtliche Angst um dich.« Wieder sah er seiner Nichte ernst und offen in die Augen. »Wir haben eine Feindin, dürfen allerdings bereits hier nicht vergessen, dass das Geschlecht unseres Gegenübers nur eine These ist. Sehr streng betrachtet, ist bereits die Annahme einer Feindin eine These. Nehmen wir an, diese These stimmt. Dann müssen wir uns ganz klar darüber sein, dass die Frau gefährlich ist. Tatsächliche Gefahr für dich, vor allem für dich, in der Konsequenz sogar für mich, besteht aber erst, wenn klar wird, was du tust.«

       »Verstehe. Um beim Anfang zu beginnen: Warum sollte ich mit dem Zug kommen?«

       »Nun, in unseren ersten Jahren hier, in der Zeit also, in der deine detektivischen Fähigkeiten offensichtlich wurden, hast du uns gelegentlich besucht. Irgendwer hat sich deinen alten Saab bestimmt gemerkt. Seit Anns Beerdigung warst du nicht mehr hier, das heißt, wenn du dein Aussehen ein klein wenig verändern würdest, könntest du als eine andere Nichte durchgehen, keiner hier weiß die Zahl meiner Verwandten. Das wäre für dich sehr viel sicherer.«

       »Du hast wirklich Angst?«

       »Lass uns jetzt nicht über wirklich und theoretisch debattieren. Ich gebe zu, dass ich sicherlich nicht folgenlos mein Leben mit Kriegsgeschichte verbracht habe. Eines der obersten Gebote ist, dass der Feind nie wissen darf, was man im Schilde führt. Schon vor zweieinhalbtausend Jahren schrieb Sun Tsu in China, dass jede Kriegsführung auf Täuschung gründet. Die Menschen haben sich nicht verändert, also wollen wir das beherzigen.« Er lächelte. »Marmalade braucht ihr Futter. Also lass uns hineingehen.«

       Ein ingwerfarbener Pfeil tauchte umgehend von irgendwoher auf und schloss sich der Kolonne in die Küche an. Raymund öffnete eine Dose mit Lachs, füllte die genaue Hälfte des Inhalts auf einen Teller und zerteilte die Masse in kleine Bissen. Der Teller hatte seinen Platz neben der Küchenanrichte, das Trinkwasser wurde erneuert,