Reiner Brinkmann

"Opa, wann ist Corona vorbei?"


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auch so etwas wie eine Familie entstehen. Es wurde sein Motto: ‘Nimm deinen Leuten die Angst, gib ihnen Sicherheit, steh zu ihnen und sie stehen zu Dir‘.

      Helmut geht an den Spinden entlang. Sieht die Namensschilder. ‘Anna‘, sechs Jahre dabei, immer zur Stelle, wenn sie gebraucht wurde, auch spontan, wenn es mal sein musste. Sie hat noch eine andere Arbeit und konnte nur als Aushilfe angestellt werden. Der Zuverdienst plus Trinkgeld war für ihre Familie das Salz in der Suppe. Das bisschen Extra, das sie hatten, um sich mal zu gönnen, was für andere selbstverständlich ist. Jetzt hat sie nichts. Kein Ersatz, keine Kurzarbeit, keine Entschädigung, nichts. Durch das System gefallen. Es ist nicht ihre Schuld. Berufsverbot. Sie sucht gerade nach einer Putzstelle, wie alle. Helmut geht der Tür entgegen. Viele seiner Festangestellten sind auf Kurzarbeit. Helmut stockt ihre Gehälter auf 90% auf, schließlich steht der Weihnachtsmonat vor der Tür. Da brauchen alle ihr Geld besonders. Ist wahrscheinlich von der Regierung noch keinem aufgefallen. Sein Blick fällt auf die letzten beiden Spinde. ‘Carola‘ und ‘Ines‘. Helmut fühlt, wie Wut in ihm aufsteigt. Er musste ihnen zum Jahresende kündigen. In den Flautemonaten des ersten Quartals kann er nicht für alle Angestellten Arbeitsbedarf nachweisen. Sie haben sonst ja immer von ihren Überstunden gezehrt. Also keine Kurzarbeit, es blieb nur die Kündigung. Das haben die beiden nicht verdient. Aber sie haben es verstanden, hingenommen. Sie wussten, dass es Helmut unendlich schwerfiel, ihnen das Papier zu überreichen. Es ist so ungerecht. Warum trifft es immer die Falschen? Helmut ballt die Hände zur Faust. Dann tritt er raus ins Freie, atmet die kühle Luft des Novemberabends tief ein, schließt ab und macht sich auf den Heimweg. Die Straße ist leer. Nur wenige sind unterwegs. Ein einsamer Fahrradfahrer kommt ihm auf der gegenüberliegenden Straßenseite entgegen. Er hat sein Gesicht mit einer Mund-Nasen-Bedeckung verhüllt, hebt seine Hand, grüßt und ruft ihm zu: „Bleib gesund". Helmut sieht ihm schweigend hinterher. Dann setzt er seinen Gang fort, entschlossen, zügig, will nur noch nach Hause. „Hallo Helmut", die Ansprache bremst ihn aus. Erwin und Amelie, ein befreundetes Ehepaar haben ihn erkannt. Erwin und Helmut haben beide damals bei der Stadtverwaltung gelernt. Erwin ist bei der Stadt geblieben und mittlerweile im Vorruhestand. „Wie geht's denn so?" Gemütlich schlendern beide Arm in Arm auf ihn zu. „Naja, es geht", gibt Helmut zurück. „Ist ja schlimm für Euch im Moment", sagt Amelie, „die ganze Sache. Wir haben einen Gang durch die Stadt gemacht. Ist nichts los. Irgendwie blöd". „Ich bin nur froh, dass ich Rentner bin", lässt Erwin raus, „mein Geld läuft ja weiter". Das stimmt, denkt Helmut. Die Solidarität mit der Risikogruppe der Alten zahlen andere. „Ich muss weiter, wünsche Euch noch einen schönen Abend", Helmut wendet sich ab. Schließlich hat er seine Wohnung erreicht. Erleichterung überkommt ihn, als die schwere Holztür hinter ihm ins Schloss fällt. Später, im Schein der Küchenlampe bei einem Glas Rotwein, sitzt Helmut vor seinem Abendbrot. Ihm geht das Bild nicht aus dem Kopf. Der vermummte Fahrradfahrer, der ihm zuruft: „Bleib gesund", „Bleib gesund". Helmut greift zu Zettel und Papier. Er muss es loswerden. Warum nicht ein Gedicht?

      Bleib gesund

      So alt kann man scheint's nicht werden,

      als dass das Leben immer neu,

      was Du als wahr geglaubt auf Erden,

      vor Dir zermalmt wie Katzenstreu.

      Worauf Du Dich verlassen hast,

      mit sich'rem Halt und festem Stand,

      kehrt sich nun um, wird Dir zur Last,

      und fährt mit Vollgas vor die Wand.

      Was Du in all der Zeit erkoren,

      was Dir gelang und anderen nicht,

      schlägt Dir das Schicksal um die Ohren,

      und lächelt noch dabei und spricht:

      „Sieh' die Zeit, die Du gewonnen,

      Denke neu, der Kopf ist rund,

      wie gewonnen, so zerronnen,

      bescheide Dich und bleib gesund."

      Purer Sarkasmus, aber es ist Helmuts Wahrheit, die ihn umgibt. Erwin und Amelie haben eine andere Wahrheit. „Wir leben beide am gleichen Ort, aber dennoch in völlig unterschiedlichen Welten", geht es Helmut durch den Kopf. Ein letzter Schluck Merlot, Schlafenszeit und Helmut löscht wieder das Licht.

      ☆

      001.3 Erwin und Amelie

      Amelie setzt den schweren Einkaufskorb ab. „Wenn ich die Sachen eingeräumt habe, können wir los." Ihre Worte sind an Erwin gerichtet, der draußen hinter ihrem Wohnmobil steht und die Fahrräder am Wagen verzurrt. Erwin lächelt zufrieden. Es war eine gute Entscheidung gewesen, letztes Jahr das Wohnmobil zu kaufen. Jetzt, wo alle Hotels geschlossen sind, alle Restaurants und Cafés nicht öffnen dürfen, haben sie ihre eigene Urlaubsinsel auf Rädern. Auf den Straßen ist derzeit nicht viel los und Parkraum steht auch ausreichend zur Verfügung. Alles bestens. Amelie schaut aus der Tür: „Fertig?" „Fertig!", sagt Erwin und setzt sich hinters Steuer. Langsam setzt sich das doppelachsige Gefährt in Bewegung. Amelie sitzt neben Erwin, streckt die Arme in die Luft und trällert: „Herrlich, der Urlaub fängt schon an."

      ☆

      Enno sitzt im Klassenzimmer der 9a. Wechselunterricht mit halber Besetzung. Eine Woche Präsenzunterricht, dann eine Woche Online von Zuhause aus. Eigentlich geht Enno gerne in die Schule, hat gute Noten. Aber die Motivation hat gelitten, bei ihm, bei seinen Freunden und auch bei den Lehrern, die jeden Tag neue Anweisungen umsetzen müssen. Die letzte Klausur ist so schlecht ausgefallen, dass sie nicht gewertet werden konnte. Ständig beschlägt die Brille wegen der Maske vor dem Mund und kalt ist es auch. Die Fenster werden alle zwanzig Minuten geöffnet, zur Durchlüftung wegen der Aerosole. Enno kann sich nicht wirklich auf den Unterricht konzentrieren. Er denkt an das Fußball-Freundschaftsspiel, das heute stattgefunden hätte. Denkt an seine Kameraden, an Finn und Steffen, mit ihm das gefürchtete Stürmerdreigestirn. Sie hätten heute die Gegnermannschaft aus dem Nachbardorf abgezogen. Gerade stellt Enno sich den perfekten Pass von Finn vor, den er an Steffen weitergibt, damit dieser den Ball rechts oben im Tor versenkt. „Enno, träumst du?" Frau Eger, seine Deutschlehrerin, ermahnt ihn. Ja, Enno träumt von seinem Fußballverein. Seit Monaten Spielverbot wegen Corona. Finn und Steffen hat er seitdem nicht mehr getroffen außer auf WhatsApp. Enno schaut auf. Frau Eger setzt den Unterricht fort. Enno schaut zur Seite aus dem Fenster. Sieht die vorbeifahrenden Autos, darunter ein Wohnmobil mit zwei älteren Leuten, beide scheinen fröhlich zu sein. Hinten baumelt eine rot-weißes Flatterband an den verzurrten Fahrrädern. Enno wendet sich wieder Frau Eger zu, die gerade ihre Maske zurechtrückt. „Die Ferien beginnen dieses Jahr früher", Frau Egers Brille beschlägt ebenfalls. Ennos Ferien spielen sich dieses Jahr in seinem Zimmer an der PlayStation ab. Wegfahren und Wandern in den Bergen muss ausfallen. Wäre sowieso finanziell nicht gegangen. Sie hatten den Urlaub immer vom Geld der Mutter bezahlt. Als Aushilfskellnerin hat sie immer übers Jahr etwas zurücklegen können. Seine Mutter, Anna, sucht sich gerade eine Putzstelle. Wie alle.

      ☆

      001.4 Tony und Berthold

      „Ich weiß, dass es eine ernste Sache ist. Ich weiß auch, dass es gefährlich ist und sich keiner damit wirklich auskennt und die Lage verlässlich einschätzen kann. Aber ich sehe doch, dass sehr viele, die sich infizieren, genesen. Jeder einzelne Todesfall im Zusammenhang mit dem Virus ist der Zeitung eine Schlagzeile wert. Das ist doch nicht normal. Das hat es nie gegeben. Der Unfall mit dem Schulbus in Bayern, der durch die Raserei auf der Autobahn von einem PKW ausgelöst wurde und sechs Opfer gefordert hat, war nur eine Randnotiz wert. Ich höre immer, es geht darum, Leben zu retten. Warum in aller Welt tun sie sich dann so schwer damit, Tempo 100 auf Autobahnen durchzusetzen? Das rettet auch Leben." Tony spürt, wie ihm das Blut in den Kopf steigt. Er will das nicht. Immer ruhig bleiben, sagt er sich. Aber bei diesem Thema und dem dritten Glas Rotwein fällt es ihm schwer. Berthold sitzt ihm gegenüber. Nickt, schweigt. „Du darfst es heute ja fast nicht mehr sagen", fährt Tony fort, „Kritik an der Politik macht Dich zum Querdenker und damit schon fast zum Rechtsradikalen. Querdenker, Berthold, das war früher eine Auszeichnung. Heiner Geißler,