Jules Verne

Die Schiffbrüchigen der JONATHAN


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von tiefeinschneidenden Wasserarmen bis auf unabsehbare Entfernung hin zerrissen, war nur in vagen Umrissen sichtbar. Inseln und Inselchen waren ihr vorgelagert und erschienen dem fernen Beobachter wie bläulicher Wasserdunst.

      Weder im Osten noch im Westen konnte man das Ende dieser Meeresstraße erblicken, die von hohen, drohenden Klippen umsäumt war.

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      Gegen Norden breiteten sich unendliche Prärien aus, die von zahlreichen Wasserläufen durchquert wurden, welche entweder als tosende Wildbäche oder in donnernden Wasserfällen ins Meer stürzten. Aus der Oberfläche dieser ungeheuren Ebenen erhoben sich stellenweise grüne Oasen, dichte Wälder, in deren Mitte man vergebens nach einem Dorfe gefahndet haben würde und deren Wipfel von den Strahlen der eben untergehenden Sonne in rotes Gold getaucht wurden. Noch weiter im Hintergrunde türmten sich schwere Bergmassen auf, mit glitzernden Kronen blendend weißer Gletscher geschmückt.

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       In östlicher Richtung war der bergige Charakter der Gegend fast noch mehr ausgeprägt. Als ob sie mit dem Binnenlande Schritt halten wollten, erhoben sich die Felsen terrassenförmig zu immer höheren Regionen und verloren sich schließlich als spitze Gipfel in den höchsten Himmelszonen.

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      Die Gegend schien gänzlich verlassen, verödet und dieselbe Einsamkeit brütete über dem Wasser: Weit und breit war kein Fahrzeug zu sehen, nicht einmal ein gebrechliches Rindenkanoe oder ein primitives Segelboot! Und so weit der Blick reichen konnte, auf keiner der Inseln im Süden, an keiner Stelle der Küste, auf keinem erhöhten Punkte der Uferklippen stieg auch nur das leichteste Rauchwölkchen auf, das Kunde gegeben hätte von der Gegenwart menschlicher Lebewesen.

      Der Tag neigte sich seinem Ende zu, und über Land und Wasser schwebte jener Hauch von Melancholie, der stets der Dämmerstunde voranzugehen pflegt. Einige dunkle Punkte verfinsterten den Abendhimmel; es waren große Vögel, die langsam durch die Lüfte schwebten und Umschau hielten nach einem Zufluchtsort für die Nacht.

      Mit gekreuzten Armen stand der Kaw-djer auf dem Felsblock, den er erklommen hatte, unbeweglich wie ein Steinbild. Sein Antlitz war verklärt, als hätte er eine Vision, seine Lider zitterten, seine Augen strahlten im Feuer heiliger Begeisterung, während er in die Betrachtung dieses wundervollen Schauspieles versunken war, das Wasser und Land bot, hier, an den äußersten Grenzen der Welt, auf diesen letzten, verstreuten Parzellen des Erdganzen, einer vergessenen Region, wo kein Mensch ein Eigentumsrecht geltend machen konnte und die sich nie unter das Joch eines Gesetzgebers gebeugt hatte.

       Lange, lange stand er so da, vom sinkenden Licht wie von einer Strahlengloriole umwoben, von der leichten Brise liebkosend umfächelt, dann öffnete er weit die Arme, als wollte er die majestätische Unendlichkeit vor sich umfassen, festhalten, an sein Herz drücken und ein tiefer Seufzer hob seine Brust. Und während sein Blick mit stolzer Genugtuung das herrliche Land überflog und sich dann in kühner Herausforderung zu den Himmelshöhen erhob, brach von seinen Lippen ein Ruf, ein Ruf, der sich aus seinem tiefinnersten Sein losgelöst hatte und sein wildes Begehren verriet – nach Freiheit, nach absoluter, unbegrenzter Ungebundenheit.

      – Anarchie = ἀναρχία anarchía „Herrschaftslosigkeit Anarchisten wollen die Gesellschaft sich selbst regeln lassen, etwa über Räte, freie Übereinkunft oder rein funktionale Entscheidungen „Anarchie ist Ordnung ohne Herrschaft.“ Die Gesellschaftsordnungen indigener Kulturen werden bisweilen als „regulierte Anarchie“ bezeichnet.

      Dieser Aufschrei, er war derjenige der Anarchisten aller Länder und Zeiten, jene berühmte und berüchtigte Formel, die so charakteristisch ist, dass sie als landläufiges Synonym für die ganze Verbrüderung gilt, die in vier kurzen Worten alles Wissen und Streben dieser gefürchteten Sekte kennzeichnet.

      „Kein Gott! Kein Gebieter!“ rief er mit Donnerstimme, während er sich von der Höhe seiner Klippe zu den tosenden Fluten unten niederbeugte und eine wilde, gebieterische Handbewegung machte, als ob er die unendliche Welt und alles auf ihr an sich reißen wollte.

      * * *

      Die geheimnisvolle Existenz

       Die geheimnisvolle Existenz

       Die Geographen bezeichnen mit dem Namen „Magalhães-Archipel“ die Gesamtheit aller Inseln und Inselchen, die zwischen dem Atlantischen und dem Stillen Ozean um die Südspitze des amerikanischen Kontinentes gelagert sind. Die südlichsten Gegenden dieses Erdteiles sind die Ländergebiete Patagoniens, das in zwei langgestreckte Halbinseln endet, deren eine als äußersten Ausläufer das Kap Froward trägt. Dem Gebiete, das durch die Magalhães-Straße von dem Festland getrennt ist, hat man – und mit Recht – in dankbarer Erinnerung an den berühmten Seefahrer des 16. Jahrhunderts – den Namen Magalhães-Archipel beigelegt.

      Die abgetrennte geographische Lage hatte zur Folge, dass dieser Teil der Neuen Welt bis zum Jahre 1881 noch keinem zivilisierten Staate einverleibt worden war, selbst nicht seinen nächstgelegenen Nachbarn Chile und der Republik Argentinien, deren Interesse übrigens lange Zeit durch einen Streit um die Pampas Patagoniens gefesselt wurde. Der Magalhães-Archipel gehörte niemandem, Niederlassungen konnten hier nach Belieben gegründet werden und erfreuten sich vollkommener Unabhängigkeit.

      Diese Inselwelt ist durchaus nicht von kleiner Ausdehnung, sie verfügt über einen Flächenraum von fünfzigtausend Quadratkilometern. Außer einer großen Anzahl kleiner Inseln geringer Bedeutung gehören zu dem Archipel das Feuerland, das Desolations-Land, die Inseln Clarence, Hoste, Navarin, die Gruppe des Kap Hoorn, die sich wieder aus den Insel Wollaston, Hermite, Herschel und anderen Inselchen und Klippen zusammensetzt; so löst sich der gewaltige amerikanische Kontinent langsam in kleine Erdschollen und Staub auf.

      Von diesen Teilgebieten, die in ihrer Gesamtheit den Magalhães-Archipel bilden, weist das Feuerland die größte Flächenentwicklung auf.

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      Im Norden und Westen vom Vorgebirge Espiritu Santo bis zum Magdalenen-Sund ist die Küstenlinie wild zerrissen. Nach Westen springt eine schmale Halbinsel ins Meer vor, die den Berg Sarmiento (2.070 m) trägt; im Südosten endigt die Insel in der Spitze San Diego; sie sieht einer zusammengekauerten Sphinx ähnlich, deren Schweif in die Wasser der Straße von Le Maire taucht.

      Im Monat April 1880 haben sich auf eben dieser Insel die im vorigen Kapitel erwähnten Begebenheiten abgespielt. Die Meeresstraße, die der Kaw-djer während seiner fieberhaften Betrachtung vor Augen hatte, war der Beagle-Kanal, der das Feuerland im Süden begrenzt und dessen jenseitiges Ufer von den Inseln Gordon, Hoste, Navarin und Picton gebildet wird. Noch südlicher entfaltet sich die Inselwelt des Kap Hoorn.

      Zehn Jahre vor dem Beginn dieser Erzählung war der Mann, dem die Indianer später den Namen Kaw-djer beigelegt hatten, zum ersten Male auf feuerländischem Boden aufgetaucht. Wie war er hergekommen? Ohne Zweifel an Bord eines der zahlreichen Segelschiffe oder Dampfer, die das Labyrinth von Wasserstraßen befahren, das sich innerhalb des Magalhães-Archipel und jenen Inseln ausbreitet, die dessen Fortsetzung im Stillen Ozean bilden.

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      Handelsbeziehungen verknüpfen sie mit den Eingebornen, deren Jagdbeute an Tierfellen (von Guanakos, Vikunas und Seewölfen) sie sehr zu schützen wissen.

       Die Gegenwart dieses Fremden ließ sich auf die Weise leicht erklären; auf andere Fragen, seinen Namen, seine Nationalität betreffend, war die Antwort schwerer zu finden; man ahnte nicht einmal, ob er der Alten oder Neuen Welt entstamme.

      Man wusste gar nichts von ihm. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muss gesagt werden, dass