Heimweh.«
»Eigentlich müssten wir dich doch einmal besuchen«, schlug Simon vor.
»Oh, das ist eine gute Idee, Liebling«, sagte Colette fröhlich. »Lass uns im Sommer was anderes machen, als nach Italien zu fahren.«
Simon schaute sie an. »Meinen Italien-Urlaub lasse ich mir nicht nehmen, aber wir können doch im Herbst oder im Frühjahr mal daran denken. Wann ist denn die beste Reisezeit für die Marquesas und vor allem, wann wird es dir denn am besten passen?«
Florence sah ihn an und überlegte. »Es gibt zwar eine Art Regenzeit, etwa wenn Ihr hier Sommer habt, aber ab September wird es weniger.«
»Na siehst du, Schatz«, sagte Simon euphorisch, »wir fahren im Juli wieder nach Jesolo und dann in den Herbstferien oder vielleicht sogar über Weihnachten in die Südsee.«
»Das ist doch eine gute Idee, über Weihnachten«, bestätigte Florence.
»Und wie lange braucht man, bis man bei dir da auf der anderen Seite der Welt ist?«, fragte Simon. Er überlegte. »Eine Mitarbeiterin aus unserer Buchhaltung war letztes Jahr in Australien. Das ist ja ungefähr die Richtung. Auf jeden Fall ist sie mehr als zwanzig Stunden geflogen.«
»Mit den Zwischenstopps, also New York und Los Angeles, bin ich jetzt sogar gut zwei Tage unterwegs und dann bin ich auch erst auf Tahiti und muss dort übernachten, bevor ich auf die Marquesas weiterfliegen kann. Also so schnell seid ihr nicht bei mir, aber das ist doch egal, dann bleibt ihr eben drei oder vier Wochen, oder solange ihr wollt. Ihr könnt schon Anfang Dezember kommen. Ich lade euch ein, ich würde mich wirklich sehr freuen.«
»Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, dass es so lange gedauert hat«, sagte Colette. »Aber es ist ja schon mehr als zehn Jahre her, zehn oder sogar zwölf Jahre, dass ich Florence einmal auf ihrem Island besucht habe, das war noch vor unserer Zeit, mein Schatz.«
»Zwei Tage, vielleicht sogar drei.« Simon sah Colette an und verzog die Mundwinkel. »Glaubst du, das schaffen wir, Liebling.«
»Natürlich, ich schaffe das.« Colette legte ihre Hand auf Simons Schulter. »Damit die Reise nicht zu einseitig wird, machen wir tatsächlich noch Zwischenstation in New York, da wollte ich immer schon einmal shoppen gehen.«
»Abgemacht, Florence«, sagte Simon fröhlich. »Du bekommst bald Besuch. Jetzt muss ich aber los, ins Büro.«
Die Frühstücksrunde löste sich auf. Simon nahm heute Morgen wieder das Cabriolet und half noch die schweren Koffer in den Kombi zu wuchten. Marc wollte selbstverständlich mit zum Flughafen fahren. Alles, was sich um Flugzeuge drehte, war zurzeit sein Lieblingsthema. Er wollte unbedingt auf die Aussichtsterrasse, um die startenden Maschinen zu beobachten. Bis sie endlich vom Zuhause der Halters losfuhren, wurde es langsam sogar knapp. Florence durfte die Mittagsmaschine nach New York auf gar keinen Fall verpassen. Sie musste auch noch die Koffer aufgeben, die sie erst auf Tahiti wiedersehen sollte. Als sie am Schalter der Air France stand, machte Colette noch ein letztes Foto, ein Abschiedsfoto. Sie hatte die Kamera immer noch bei sich. Die Frauen umarmten sich, Marc bekam einen Kuss auf die Stirn und Florence entschwand durch das Gate. Sie ging mit ihrer Reisetasche durch die Gepäckkontrolle, winkte noch einmal und verschwand dann in einem Korridor, der sie zu ihrem Ausgang bringen sollte. Als Colette ihre Freundin das letzte Mal sah, war sie kaum fünfzig Meter von ihr entfernt. In wenigen Tagen würden es wieder fünfzehntausend Kilometer sein, erstaunlich dachte Colette. Marc drängte jetzt auf die Besucherterrasse.
Später sahen sie dem Start einer Air-France-Maschine zu, in der Florence sicherlich saß. Colette musste ihrem Sohn zuliebe noch fast zwanzig Minuten in der Kälte auf der Terrasse aushalten. Später wollte er auch noch in das kleine Luftfahrtmuseum, sodass sie den Flughafen erst gegen Mittag wieder verließen.
Zu Hause angekommen dachte Colette an etwas, das sie sofort erledigen musste, weil sie es sonst bestimmt vergessen würde. Sie hielt den Fotoapparat in der Hand und ging damit in das Arbeitszimmer ihres Mannes. Eigentlich war es ihr beider Arbeitszimmer. Sie nutzte es hauptsächlich tagsüber und Simon nur am Wochenende, dennoch war die gesamte Einrichtung von Blammer bezahlt worden. Selbst wenn das Telefon oder der Computer oder die anderen Bürogeräte eine Störung hatten, kam eine Firma, die auch bei Blammer die Hard- und Software betreute, und brachte alles wieder in Ordnung. Colette schaltete ihren Laptop ein. Sie besaßen zwei Geräte. Eines hatte Simon immer dabei, das andere stand im Arbeitszimmer und wurde nur von ihr benutzt. Hier hatte sie die Schulungsunterlagen gespeichert, die sie für ihren Unterricht an der Wirtschaftsakademie brauchte. Aus der Schreibtischschublade holte sie ein Kabel, mit dem sie die Digitalkamera an den Laptop anschloss. Das Programm, mit dem Colette die Bilder herunter auf den Computer speichern konnte, startete automatisch. Sie wollte die Fotos nur kopieren und nicht gleich von der Kamera löschen. Sie wählte die Option alle Bilder kopieren und ließ das Programm den Befehl abarbeiten. Die Aufnahmen begannen über den Bildschirm zu rattern. Das Herunterladen würde einige Minuten dauern. Colette verließ das Arbeitszimmer, um nach Marc zu sehen.
Als sie nach fünfzehn Minuten zurückkam, war das Übertragen der Bilder bereits erledigt. Colette wollte sich die Aufnahmen der letzten beiden Tage später in Ruhe ansehen, jetzt hatte sie nur noch vor, die Bilder an Florence zu mailen. Die E-Mail-Adresse hatte sie in einem Adressordner gespeichert. Die beiden Frauen schrieben sich regelmäßig. Ganz früher waren es noch Briefe, doch seit einigen Jahren hatte sich der Kontakt über das Internet als praktischer erwiesen. Es ging schneller und so würden die Fotografien auch lange vor Florence auf den Marquesas eintreffen. Die Datei mit den Bildern hatte eine Größe von fast zehn Megabytes und es dauerte einige Zeit, bis der Sendevorgang abgeschlossen war. Colette schaltete den Laptop wieder aus. Die Digitalkamera gehörte ihrem Mann. Er hatte sie aber bis heute Morgen noch nicht vermisst. Colette ließ die Kamera einfach auf dem Schreibtisch liegen. Simon würde sie spätestens am Abend dort finden.
*
Florence hatte die Mittagsmaschine nach New York genommen. Der Flug von Paris Charles-De-Gaulle zum John F. Kennedy International Airport dauerte genau acht Stunden, sie verlor aber wegen der Zeitverschiebung nur zwei Stunden. Am frühen Abend ging es weiter nach Los Angeles, sechs Stunden Flug, noch einmal drei Stunden Zeitverschiebung. Florence innere Uhr kam immer mehr durcheinander. In Los Angelos hatte sie in einem Radisson Hotel am Airport übernachtet. Der Anschlussflug nach Tahiti ging erst am nächsten Vormittag. Der Airbus der Tahiti Nui brauchte acht Stunden. Beim Landeanflug auf die Insel zog das Flugzeug in einer Rechtskurve an der kleineren der beiden Vulkaninseln vorbei. Die schmale Landverbindung zwischen Tahiti Nui und Tahiti Iti mit dem Dorf Afahiti war deutlich aus der Luft zu erkennen. An der Südküste vorbei ging es schließlich in Richtung Faaa. Als die Maschine auf dem Flugplatz landete, rechnete Florence zusammen. Sie war vor einundvierzig Stunden aus München abgeflogen und noch immer nicht ganz zu Hause. Sie fuhr mit dem Bus nach Papeete hinein. Es war noch früh. Sie brachte ihre Reisetasche ins Hotel und ging dann zu Fuß in den Hafen. Sie verbrachte den Abend in einem Café am Boulevard Pomare. Sie beobachtete die vor Anker liegenden Kreuzfahrtschiffe und bewunderte die schönen, luxuriösen Yachten. Obwohl Schiffe und Yachten nichts Besonderes in ihrer Inselwelt waren, gab es wohl nur auf Tahiti, im Hafen von Papeete eine derartige Vielzahl zu sehen. Interessant war es auch, die Menschen zu beobachten. Neben amerikanischen, europäischen und japanischen Kreuzfahrern, die in den Hafen strömten, fanden sich immer auch Weltenbummler und Aussteiger ein. Florence genoss das Treiben. Auf dem Rückweg zum Hotel kam sie an den Geschäften und kleinen Marktständen vorbei, die der Touristen wegen auch in den Abendstunden noch ihre Waren anboten. Gegen halb zehn war sie wieder auf ihrem Zimmer und legte sich sofort schlafen. Am Morgen konnte sie sich an einen Traum erinnern. Sie sah sich über Hügel und Bäume fliegen. Nicht in einem Flugzeug oder in einem Hubschrauber, nein, ganz leise, so als könne sie selbst fliegen. Es war eine Hügellandschaft mit zum Meer hin steilen Küsten. Sie glitt über kleine Buchten mit weißen Stränden und über Klippen, die zum Meer abfielen. Sie konnte sogar Fische im Wasser erkennen. Im Traum hob sie den Kopf und sah über das weite Meer. Sie spürte die Sonne auf ihren Rücken scheinen. Es war schön und sie fühlte sich entspannt. Als sie am Morgen erwachte, musste sie an ihren Strand auf Nuku Hiva denken. Sie hätte nicht sagen können, warum, aber der Strand war, immer der Ort, an den sie die meisten Erinnerungen