Manu Brandt

Seelenblau


Скачать книгу

breite Schultern, an die ich mich so gerne lehnte. Wir lächelten uns an, als Thomas meine Hand nahm. Ich drückte seine fest zurück, als wollte ich ihn nie wieder loslassen. Seine blonden Locken erstrahlten in der Sonne wie ein Heiligenschein. Mein Engel. Ich fühlte, wie die Wärme sich in meinem Körper ausbreitete. Ich war in Sicherheit. Ich war zu Hause – und glücklich. Thomas beugte sich zu mir herunter und gab mir einen zärtlichen Kuss. Keinen Vater-Tochter-Kuss, wie er es sonst tat. Seine Lippen fühlten sich weich und vertraut an. Ich schloss meine Augen, stellte mich auf die Zehenspitzen und legte meine Arme um seinen Hals. Thomas zog mich an sich und hielt mich fest.

      Mein Herz begann schneller zu schlagen. Aber es war nicht wegen ihm. Etwas war anders. Ich öffnete die Augen und sah eine schwarze Gestalt zwischen den Fliederbäumen stehen. Ich erstarrte. Thomas schaute mich verwundert an. Er folgte meinem Blick und wich erschrocken einen Schritt zurück, als er die schwarze Gestalt ebenfalls sah. Langsam kam sie auf uns zu. Ihre intensiv blauen Augen fixierten mich. Ich konnte mich keinen Millimeter bewegen und wagte es auch nicht zu atmen. Es war kein Mensch, der auf uns zukam. Ein tiefes Grollen ertönte in seiner Kehle. Die Augen ließen von mir ab und starrten Thomas an. Die Gestalt fletschte die Zähne. Das Knurren wurde lauter.

      Es war ein Wolf. Es war ein großer schwarzer Wolf mit strahlend blauen Augen. Sie hatten die Farbe des Himmels an einem sonnigen, wolkenlosen Tag. Er war doppelt so groß wie die Wölfe, die ich aus dem Zoo kannte und hundertmal furchteinflößender.

      Der Wolf schritt ganz langsam auf Thomas zu. Sein Fell sträubte sich und er senkte den Kopf immer weiter hinab. Unterwarf er sich? Nein. Er setzte zum Sprung an.

      Ich schrie auf. Als ich nach Luft schnappte, wurde mir klar, dass ich tatsächlich schrie, aber ich befand mich nicht auf einer Wiese. Neben mir stand auch niemand und es war kein Wolf zu sehen. Ich war nicht mehr in der Badewanne. Stattdessen lag ich im Bett. Draußen ging bereits die Sonne auf.

      Thomas riss die Tür auf. »Was ist passiert? Alles ok? Wieder eine Spinne?«

      Ein paar Sekunden lang schaute ich ihn an. Es ging ihm gut. Er war von keinem Wolf angegriffen und zerfleischt worden. Er stand völlig unverletzt vor mir und ich lag im Bett, welches im braunen Schlafzimmer stand. Keine Wiese, kein Wolf, betete ich herunter. Keine Wiese, kein Wolf.

      »Ich … ich muss geträumt haben.« Langsam sammelte ich mich. »Aber wie bin ich …«

      »Du bist in der Badewanne eingeschlafen. Es muss ein schöner Traum gewesen sein. Du hast gelächelt, als ich dich ins Bett getragen habe.«

      »Das war er am Anfang auch.« Ich strampelte mich aus der Decke frei und setzte mich auf die Bettkante.

      Thomas hockte sich vor mich und nahm meine Hände in seine. »Was hast du denn geträumt?«

      Da war er wieder: Thomas der Psychologe. Sage mir, was du geträumt hast und ich sage dir, was dich bedrückt. Er hörte mir zu und gab mir dann Ratschläge, wie ich etwas besser machen könnte. Wie bei der Arbeit.

      »Ich habe mein Hochzeitskleid gesehen. Du warst auch da.«

      »Das ist doch ein wunderbarer Traum, Sternchen. Warum schreist du dann? Hatte ich zwei verschiedene Socken an? Nein, ich habe sicher die Ringe vergessen, oder?« Er versuchte mich mit einem Lächeln aufzumuntern.

      »Ich weiß es nicht mehr. Aber das mit den Ringen würde ich dir zutrauen. Ich werde sie lieber an mich nehmen.«

      Mein Herz sagte mir, dass es besser wäre, ihm nichts von dem Wolf zu erzählen. Sicher hielt er es wieder für kindisch. Sternchen und der böse Wolf oder so etwas. Außerdem war es auch nur ein Traum.

      »Alles, was die Braut sich wünscht.« Thomas stand auf und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Ich grummelte, aber er bemerkte es nicht. »Du frühstückst sicher wieder im Büro, oder? Bei mir kann es heute etwas später werden. Ich muss so viel erledigen, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Der Nachteil bei einer höheren Position. Aber ich muss zum Glück nicht am Wochenende arbeiten. Da haben wir alle Zeit der Welt für uns und die machen wir uns richtig schön. Vielleicht machen wir eine Hafenrundfahrt. Was hältst du davon? Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht. Oder zum Fischmarkt?«

      »Hafenrundfahrt klingt gut.« Ich sah uns zwischen den Rentnern und Asiaten mit ihren Fotoapparaten durch den Hamburger Hafen schippern, aber das war tausend Mal besser, als in der Wohnung zu sitzen. »Wir könnten auch mal wieder an der Alster joggen gehen«, warf ich hinterher, doch Thomas hatte die Wohnungstür bereits hinter sich geschlossen. Wenn ich weiter zur Couch-Potato mutierte, müsste mein Hochzeitskleid bald drei Nummern größer sein.

      Nach dem ausgiebigen Bad gestern Abend ersparte ich mir die Dusche, schminkte mich leicht und stiefelte zur Straßenbahn. Ob ich von unserem Haus aus ebenfalls schnell zur Arbeit kommen würde? Oder würde ich dann mit dem Auto fahren müssen? Direkt in der Stadt wird es schwer werden, ein Haus mit Garten zu finden.

      Diese Gedanken kamen mir plötzlich ganz vertraut vor. Ich war mir sicher, dass ich sie letztes Jahr schon einmal gehabt hatte. Noch vor dem Antrag. Langsam kamen sie mir wieder ins Gedächtnis zurück. Ich träumte mir oft meine Zukunft zusammen, vielleicht um keine Angst davor haben zu müssen. Ich hatte mir vorgestellt, wie die nächsten Jahre aussehen könnten, hatte mir auf dem Stadtplan bereits die neuen Wohngebiete eingekreist, damit ich später leichter eine Entscheidung treffen könnte. Letztes Jahr waren meine Pläne bis auf einen Punkt fast vollständig gewesen.

      »Gott, ich habe noch gar keinen Trauzeugen!«

      Die Leute in der Bahn um mich herum starrten mich an. Ich hatte das wohl laut gesagt.

      »Glückwunsch, wann ist es so weit?«, fragte die alte Dame neben mir.

      »Diesen Sommer im August.« Nun flüsterte ich, damit ich nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf mich zog.

      »Wie schön. Das ist eine herrliche Jahreszeit. Mein Walter und ich haben im Winter heiraten müssen. Da war es kalt. Geschneit hat es, es war ein richtiger Schneesturm. Aber das ist alles nicht wichtig an diesem Tag. Wir mussten schließlich den Winter nehmen, weil er im Frühjahr an die Front sollte und man wusste ja nie …«

      »Tut mir leid, aber ich muss hier aussteigen«, warf ich dazwischen. »Grüßen Sie ihren Walter.«

      Ich war froh, dass meine Haltestelle gekommen war, denn ich hatte keine Lust auf Kriegsgeschichten. Dennoch ließ mich die alte Dame und ihre Erzählungen nicht mehr los. Vielleicht war ihr Walter nicht aus dem Krieg zurückgekommen. Dieser Gedanke begleitete mich bis in mein Büro. Das muss schrecklich sein, wenn man kurz nach der Hochzeit seinen geliebten Mann verlor.

      »Hey, du schaust heute Morgen viel ausgeschlafener aus.« Lisas Augen blitzten mich wie immer hinter ihrem Monitor an.

      »Willst du meine Trauzeugin sein?« Wen sonst außer Lisa sollte ich fragen? Ich hatte in Hamburg keine weiteren Freunde und sie war mir wichtig. Sie sollte an meinem großen Tag dabei sein.

      Lisa rutschte die Brille ein Stück herunter und ihre Stirn legte sich wieder in Falten. Die Frau Lehrerin. Kurz kamen mir Zweifel, ob ich gerade das Richtige gefragt hatte, aber da rannte Lisa schon um den Schreibtisch herum und umarmte mich. Sie erdrückte mich fast. Weinte sie?

      »Oh Mia … dass du mich fragst. Ich freue mich riesig. Natürlich will ich. Natürlich will ich meine Freundin an ihrem Hochzeitstag begleiten! Was für eine Frage!« Sie weinte tatsächlich. Zum Glück vor Freude. Als ob ihr jemand einen Heiratsantrag gemacht hätte.

      »Ich kann mir keine bessere Trauzeugin vorstellen als dich.« Diese Worte kamen aus meinem tiefsten Herzen. Ich hatte Lisa lieb gewonnen und auch sie wollte ich für den Rest meines Lebens nicht mehr hergeben.

      Lisa trat einen Schritt zurück und beäugte mich nachdenklich. Ihr Lachen war plötzlich verschwunden. Sie dachte über etwas nach, das konnte ich ihr an der Nasenspitze ansehen. Was war auf einmal mit ihr los? Eben freute sie sich wie ein kleines Kind und jetzt? Jetzt starrte sie mich an, als ob sie versuchte, meine Gedanken zu lesen.

      Langsam fand Lisa ihr Lächeln wieder. »Mia, Liebes, ich habe eine Überraschung für dich. Eigentlich