Helmut H. Schulz

Abschied vom Kietz


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mich eines ältlichen Telefonfräuleins und ich höre ihre Stimme, die der sandelholzfarbene Klappenschrank verschluckte. Ihre Dienstzeit bei Kretzschmar belief sich auf fünfundzwanzig Jahre, meine auf wenige Wochen. Zu uns jüngeren bewahrte sie eine hochnäsige Zurückhaltung, die im Gegensatz, zu ihrem demütigen Gesicht hinter der Büroscheibe stand. Von den Gängen und Windungen eines Termitenhügels unterschied sich das Innere des Hauses durch den strengeren Aufbau.

      Zu viert arbeiteten wir in einem Raum, der sein spärliches Licht durch die hohen rechteckigen Fenster erhielt. Meist brannten auch am Tage Glühbirnen unter grünen Metallschirmen. Im Winter heizte ein Ofen aus Kanonenmetall den Raum.

      Ich erinnere mich einer grauen, von schwarzen Löchern durchbrochenen Wand, wenn ich hoch sah. Das Paneel des Zimmers war mit einer stumpfglänzenden, spinatgrünen Farbe bestrichen.

      Merkwürdigerweise erinnere ich mich vieler Gesichter, aber nur wenige Namen haben sich meinem Gedächtnis dauerhaft eingeprägt.

      In der dritten Etage unseres Flügels lebte Vigo Schwarz mit seinen Eltern, gerade unter unserer Wohnung. Unsere Wasserleitung endete nicht in der Küche, sondern auf dem Flur. Das Klosett befand sich eine halbe Treppe tiefer und wurde von zwei Mietern genutzt.

      Vigo war neunzehn und lernte Autoschlosser.

      Wir spielten manchmal Billard bei Matkowski. Das eiserne Pferd sah gelegentlich zu. Am Spätnachmittag war die Kneipe meist leer. Er war ein muskulöser glatzköpfiger Mann, früher Ringer, berühmt wegen seiner Kraft und Trinkfestigkeit.

      Er zeigte uns ein paar Stöße.

      «Leicht, leicht musst du das Queue halten, so mit Daumen und Zeigefinger», knurrte er.

      Vigo vertrug keine Kritik. Von uns war er der strahlendste und der empfindlichste. Mit dichtem dunkelblondem Haar und leuchtend grauen Augen und dem sehnigen Körper des Ballwerfers wirkte er erwachsen und männlich.

      «Deine Hände sind zu schwer», belehrte das eiserne Pferd. «Mach mir kein Loch ins Tuch. Am besten, du lässt es überhaupt. Wird doch nichts draus. Lass Wolf spielen. Der kann es besser.»

      In der zweiten Etage, über Vera und unter Vigo, wohnte Helga, siebzehnjährig und von lauernder Sanftheit. Ihr Haar trug sie seitlich gescheitelt, mit einer glitzernden Metallspange über der Schläfe befestigt. Weiß und glatt war ihre Haut. Sie hatte kleine weiße Zähne und ein zurückhaltendes Wesen. Von uns war sie die Klügste, nur war ihre Klugheit nicht frei von Berechnung. Breite Backenknochen und dichte Brauen rahmten Augen, blau wie Leinblüten ein.

      Sie arbeitete in einem wissenschaftlichen Verlag. Manchmal gab sie mir Bücher, die schadhaft waren oder aus anderen Gründen nicht verkauft werden konnten. Ich las sie nicht, weil sie die Angelegenheiten einer mir fremden Welt behandelten. Helga mochte ich gern, wie man eine Schwester gern hat, die gescheit ist und sanft. Sie hatte eine rundliche Figur und stark entwickelte Brüste.

      Sie interessierte sich brennend für unsere Zukunft. Ich erzählte ihr, dass Veras Vater wieder aufgetaucht sei.

      «Ich weiß», sagte sie, «Vera sorgt schon dafür, dass es unter die Leute kommt.»

      Sie sass in einem der Sessel, die in meiner Bude standen und betrachtete meine Zeichnungen.

      «Malst du eigentlich bloß immer Kaffeemühlen und Tintenfässer?», fragte sie.

      Täglich drehte ich einige tausend Punkte auf Lithographensteinen oder angekörnten Zinkplatten. Es war ein trauriges und ermüdendes Handwerk.

      «Vielleicht kannst du mal Grafiker werden», sagte sie, «leicht ist das nicht. Die haben kein richtiges Arbeitsverhältnis. Sie bekommen Aufträge bezahlt.»

      «Ich kann mit den Leuten nicht warm werden. Vielleicht schmeiß ich alles mal hin.»

      «Du hast ja gerade erst angefangen», sagte Helga. Sie prüfte weiter die Skizzen.

      «Vera wird nach Hamburg ziehen, wenn sie weiß, dass Vigo sie nicht will», erklärte sie.

      Das Licht der Tischlampe fiel auf ihre Hände, die Grübchen zeigten. Ihr Gesicht lag halb im Dunkeln.

      «Zeichnest du keine Menschen?»

      Einmal in der Woche ging ich in die Abendklasse, die für alle frei war. Dort saß ein alter Mann Modell, dessen Kopf nach einigen Minuten regelmäßig auf die Brust herabsank.

      Ich legte ihr die Skizzen vor.

      «Ein Künstler bist du wohl nicht», sagte sie mit leichtem Lächeln und strahlenden Augen.

      «Ich will ja auch keiner werden», sagte ich und nahm ihr die Zeichnungen weg.

      «So war es nicht gemeint», sie hielt meine Hände fest, «sei nicht so empfindlich. Wölfchen. Es ist immer besser, man macht sich nichts vor.»

      Ihre Lippen öffneten sich bereitwillig, als ich sie küsste. Helgas Brust war weicher als Veras Brust, weicher, reifer, überhaupt war Helga anders, klüger, freundlicher, weniger fordernd, wie ich glaubte. Leicht entzog sie sich meinen Händen. Weiter ließ sie es nie kommen.

      «Wir müssten alle vier was unternehmen», sagte sie, «was Vernünftiges.»

      Was sie darunter verstand, erklärte sie nicht.

      «Wir trotten zur Arbeit, kommen von der Arbeit und öden uns an. Was meinst du?»

      Ich hob die Schultern. Viel war nicht zu machen. Geld besaßen wir alle vier nicht genügend.

      «Das hängt doch nicht vom Geld ab», meinte Helga.

      «Wir haben auch nicht mehr soviel Zeit wie früher», sagte ich.

      «Daran liegt es nicht», meinte sie. «Hast du das Buch gelesen, das ich dir gegeben habe? Natürlich hast du es nicht gelesen. Und Vera und Vigo sind nicht anders. Das meine ich.»

      Sie war nicht mehr zufrieden mit uns.

      Als sie gegangen war, versuchte ich mit der Rohrfeder unsere Gegend zu zeichnen. Es gelang. Es war eigentlich gleich, ob ich gut oder schlecht zeichnete. Besser war schon, darüber nachzudenken, wie ich der täglichen Quälerei entrinnen konnte.

      Meine Großmutter kam, sah eine Weile zu und sagte: «Das zeichnet und zeichnet und verdirbt sich die Augen.»

      Wenn sie verallgemeinerte, benutzte sie nie die direkte Anrede. Wie Jule hatte auch sie eine merkwürdige Scheu vor Menschen und Sachen, die sie nicht ganz verstand.

      «Das geht jetzt ins Bett, weil es müde ist», sagte ich.

      Der Aufgang unseres Hauses konnte durch den Torweg betreten werden. Er führt weiter in einen Hof mit niedrigen alten Bauwerken. Links vom Eingang arbeitete der Flickschuster. Die zu seinem Laden gehörende Wohnung teilte er mit Charles, einem etwa sechzigjährigen Spastiker und dessen Schwester. Im Sommer rollte Charles seinen Stuhl vor die Ladentür und suchte uns in Gespräche zu verwickeln. Auf seinem Schädel wucherte borkenartiger Schmutz. Der Zynismus, mit dem er sein eigenes und das Leben überhaupt betrachtete, stieß uns ab. Wir verstanden nicht in den eng zusammenstehenden Augen, die trübe verschleiert dreinschauten, die Sehnsucht des Alten nach einem anderen Leben herauszulesen.

      «Es wird Herbst», bemerkte Charles.

      Mit einer Handbewegung hielt er mich auf. Ich vermied den Blick seiner eng zusammenstehenden Augen. Violette Augensäcke hoben das gespenstische Weiß seiner Augäpfel noch hervor.

      «Wie alt bis du jetzt?», fragte er.

      «Siebzehn», antwortete ich.

      Eine Decke um die Beine gelegt saß er schmutzstarrend auf seinem Rollstuhl. Ich ekelte mich vor ihm.

      «Ich werde jetzt arbeiten», sagte er ohne Übergang, die Atemluft verächtlich durch die Nase stoßend, «in der Manege. Ich kann als Untermann noch sehr gut arbeiten. Früher habe ich alles gemacht und viel gesehen, Barcelona, Rio, London. Dann bin ich gestürzt, und es war aus. Jetzt will ich mal sehen. Die Leute brauchen ein bisschen Freude.»

      «Ja»,