Hans-Dieter Heun

Das unglaublich unglaubwürdige Leben des Hannemann


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väterliche Bevormundung. Ingrid erschrak und fühlte rotes Wallen.

      Der Zauberer probte sein Jagdhorn, doch Gott nahm Peitsche und Zügel, hielt die Meute zurück.

      Das Wertvollste an der Zeit, unfassbare Dimension, ist der ständige Gewinn von Vergangenheit, der Anteil am Schatz der Erfahrung wächst. Niemand kann von einem Niemand um seine Erinnerungen – Alzheimer sei vor – betrogen werden. Ein unschätzbarer Vorteil, selbst wenn niemand niemanden niemals und manchmal auch leider nicht von seinen quälenden Rückblicken befreien kann. Von Drogen und zuverlässigen Handfeuerwaffen einmal abgesehen. Zeit ist folglich kostbar. Dennoch sind die Menschen nicht glücklich über den täglich realen Zuwachs, sondern richten, meist ohne Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, ihre Planungen und Wünsche in eine unwägbare Zukunft. Die wenigsten verstehen es, ihren durch die Zeit wachsenden Reichtum zu schätzen, klammern sich voller Hoffnung an das Erst-Werden, als ob die Zukunft nur aus goldenen Tellern mit goldenen Löffeln bestehen würde. Hoffnung lässt eben hoffen.

      Die flüchtige Schwelle zwischen der Zukunft und der Vergangenheit, zwischen dem absoluten Nichtwissen und dem eingetretenen Sein, ist die Gegenwart, und es machte Hannemann immer wieder viel Freude, besondere Zeugen der unvollkommenen Bemühungen um die Messbarkeit des Präsens zu sammeln. Nämlich gute alte mechanische Taschenuhren.

      Seit geraumer Zeit – diese geraume Zeitspanne in annähernder, nicht exakter Größe gemessen – gibt es nur noch wenige gute Uhren, die ihrer Bestimmung mit mechanischer Treue nachkommen. Im gerade herrschenden Augenblick – sprich: momentane Zeitspanne von unbestimmbarer Dauer – versuchen dennoch Quarz-Atom-Digital-Zeitmessgeräte genau diesen unbestimmten Augenblick zu messen, als ob das besonders wichtig wäre. Er, der Augenblick, vergeht, wie alles vergeht.

      Moment einmal, kann man denn jenen Moment des Augenblicks überhaupt genau bestimmen?

      Umso mehr begeisterten Hannemann seine in liebevoller Handarbeit gefertigten Kostbarkeiten, und er ließ sie oft miteinander streiten. Es machte Spaß zu beobachten, wenn ein simpler Junghans, Jahrgang 1912, mit einem ehrwürdigen Vacheron, immerhin sechzig Lenze älter, zwölf Stunden lang Erbsen zählte und sie nie zu einem gemeinsamen Ergebnis kamen. Noch viel eindrucksvoller war das Resultat, wenn er alle zweiunddreißig Wunderwerke gleichzeitig aufzog. Da wurden den Kranken die Minuten lang und den Erfolgreichen die Stunden zu wenig, obwohl alle Taschenuhren mit viel emsigem Ticken in einem Chor sangen.

      Hannemann jedenfalls liebte seine Vergangenheit, zumal er mehrere zur Verfügung hatte. Und er lebte oft genug in ihnen. Doch ihm war ebenfalls mulmig bewusst, dass er in der unweigerlich kommenden Zukunft die Anderen mit deren eigener Erfahrung nicht überlisten konnte, sondern allenfalls mit dem Chor der Verwirrung, den er für sie singen wollte.

      Der Sünder zappelte, weinte und schrie, aber diese Mutter kannte keine Gnade. Hannemann suchte, fand sogar vermeintliche Ausreden: „Ich kann die Schule nicht mehr ertragen! Und ich will auch nicht mehr Missionar werden, ich will Koch lernen!" Doch nichts, alles umsonst. Die unbarmherzige Mutter ließ sich nicht erweichen, er wurde in ein strenges Internat gesteckt. Dabei fühlte er durchaus die höheren Weihen für absolute Kreativität in sich, eine ruhige Kraft, um große Dinge zu leisten. Kurz, er fühlte sich wahrhaft zum Koch berufen. Er wollte es und er wurde es, allerdings auf Umwegen.

      In diesen tollen Zeiten eines blühenden Wirtschaftswunders – Geld verdienen mit welchem Mist auch immer – war der Koch nach Meinung einer fetten Oberschicht ungefähr zwischen Hund und Mensch angesiedelt. Mehr Sklave denn mündiges Mitglied der Gesellschaft. Selbst nach Jahren, als Hannemann mit höchster Konzentration ein weithin berühmtes Feinschmeckerlokal betrieb, erschütterte ihn noch die Frage eines anteilnehmenden Gastes: „Was machen Sie eigentlich hauptberuflich?"

      Mit der von einer gütigen Natur geschaffenen Voraussetzung einer begnadeten Zunge und mit dem ihm irgendwie zugänglichen Wissen um die schmackhaften Zusammenhänge zwischen den Früchten der Gärten, Felder und Wälder, dem Reichtum der Bäche, Flüsse und Meere und den leckeren Leichen aus Stallungen und freier Wildbahn fühlte er sich wahrhaft aufgefordert, die verkümmerten Geschmacksknospen seiner Mitmenschen erblühen zu lassen. Doch diese Eltern sahen das anders. Mit der Autorität der vermeintlichen Erzeuger suchten sie ein privates Schulheim für ihn, denn er sollte unbedingt etwas Besseres werden. – Was jedoch ist besser als ein guter Koch?

      Der Koch begleitet die Menschen von der Wiege bis zur Bahre. Er sorgt durch Ausgewogenheit für ihre Gesundheit und das Wohlbefinden, fördert gar die Triebe mit kitzelnden Gewürzen. Letztendlich verschafft er ebenso der Person, die den Koch zu nutzen weiß, rückspiegelndes Lob und Anerkennung.

      Obwohl die Eltern seit einiger Zeit selbst ein Restaurant betrieben, konnte Hannemann sie nicht von seinem Berufswunsch überzeugen. Und was hätte Auflehnung damals wohl bewirkt? Nichts. Ein einmal gestecktes Ziel ist aber ebenso auf Umwegen zu erreichen. Und diese Um-, Irr-, Auswege vermögen oft äußerst lehrreich zu sein. Außerdem lernte er im Internat einen Freund kennen, einen Tröster in seiner Einsamkeit, die Droge A.

      Andere Schüler – nicht sonderlich wichtige – brachten ihm die Droge in einer auf Schülerwünsche geeichten Kneipe nahe: heimliches schnelles Abfüllen mit Bier und Schnaps, oft über das noch nicht trainierte Fassungsvermögen hinaus, und, wenn das Taschengeld reichte, ebenso schnelles Abwichsen durch die vollbusige Bedienung im Hinterzimmer. Hannemann erkannte rasch, dass die Droge A zu helfen vermochte. Die Vollbusige weniger.

      Vierundzwanzig Stunden am Tag – lange tausendvierhundertvierzig Minuten oder sechsundachtzigtausendvierhundert Sekunden – dachte er damals an Ingrid und wie er sie durch die schnöde Lust mit Tante Ute verloren hatte. Allein die Droge A schaffte es, ihn kurzfristig vergessen zu lassen – ja, färbte die Erinnerungen an seine Liebe sogar himmlisch rosa. Mit Ingrid würde er nach der Schule so rasch wie möglich vor den Traualtar treten, um den Bund mit der Unvergleichlichen zu besiegeln. Da war sich Hannemann absolut sicher. Ebenso, dass er zuvor noch mit anderen vollbusigen Weibern für das Eheleben zu üben hatte. Eine Aufgabe, so wichtig, dass er schlichtweg keine Zeit fand, seiner einzigen Liebe auch nur einen einzigen Brief zu schreiben. Sie würde, nein, musste das verstehen. Sa war er sich ebenfalls sicher.

      Altar, alter ater, das andere Schwarz, schwarz wie traurig oder grauenvoll. Zu den Zeiten der alten Götter war der Altar ein Opfertisch oder Opferherd. Früchte, Tiere und Menschen wurden ihren Kreisläufen entnommen, zur Schau gestellt und auf dem Altar zubereitet. Geopfert, gekocht. Wenn man das Kochen als notwendige Veränderung von Nahrungsmitteln unter Zuhilfenahme geheimnisvollen Brimboriums zu einer genießbaren Speise begreift, als heilige Wandlung definiert, dann waren die Priester der Vorzeit nichts anderes als Köche, die um den Wert der lebenserhaltenden Aufgabe des Opfergutes wussten. Einmal davon abgesehen – schwarz, traurig, grauenvoll –, dass es diesem Gut an den Kragen ging.

      „Schart euch zusammen und kommt herbei! Von überall her versammelt euch zu meinem Opfermahl, das ich für euch schlachte, ein großes Opfermahl auf den Bergen Israels! Fresst Fleisch und trinkt Blut! Das Fleisch von Helden sollt ihr fressen und das Blut von Feinden der Erde sollt ihr trinken – Fett sollt ihr fressen bis zur Sättigung und Blut trinken bis zur Berauschung von meinem Opfermahl, das ich für euch schlachte. An meinem Tische sollt ihr euch sättigen, an Rossen und Reitern, an Helden und Kriegsleuten aller Art!" Ezechiel 39, Spruch des Gebieters und Herrn. – Des Herrn?

      Im dritten, vierten Jahrhundert entwickelten die Christen aus der Agape, dem Liebesmahl zwischen arm und reich, den neuen Altar, den Tisch der zu verteilenden Gaben. Bald schon verwandelte der Eifer der Schmücker – Bildhauer, Holzschnitzer, Steinmetze, Goldschmiede und Juwelenschleifer – den Tisch, den Herd, in ein eigenständig sakrales „Auf deine Knie, niedriger Gläubiger, und rühr mich ja nicht an!“

      Das Kunstwerk wurde für die Zeremonien zu Ehren des Geweihten ebenfalls geweiht und bildete darüber hinaus einen abweisenden Schutz für die Hostie gegen