Helmut H. Schulz

Perfekte Verbrechen ohne Verfolgung


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letzter Kraft habe er die Leichen weggeschleppt, verscharrt, in ein Loch oder ins Wasser geworfen... Sie kannte das; es war gerichtsnotorisch; die meisten Täter wollten nie mit einer Tötungsabsicht vergewaltigt haben, sondern erst nach vollzogener Notzucht, aus Angst vor den Folgen, gemordet haben. Bei eingestandener, also vorsätzlicher Mordabsicht blühte ihnen lebenslänglich, wie sie wußten, es sei denn, die Gutachter bescheinigten ihnen zum Tatzeitpunkt eine mindere Zurechnungsfähigkeit, ein Privileg, das die Verteidigung häufig anstrebte, um darauf aufzubauen und eine minder schwere Strafe durchzusetzen. Denn: Kein Lebenslänglicher kam in die Maßregel, die ja immerhin mit der Amnestierung enden konnte, sondern in Sicherheitsverwahrung, weggeschlossen auf ewig. Das andere aber war ihr unverständlich, es schien ihr völlig absurd; sie reagierte als Frau, als sie sich den von ihm geschilderten Ablauf vor Augen hielt, das Erwürgen des Opfers, den Bruch des Kehlkopfes, um zugleich die Selbstbefriedigung einzuleiten, nicht einmal, sondern mehrmals als Tatmuster...

      »Sie müssen mir glauben«, hatte er mehrfach beteuert, »ich besaß kurz danach nie eine reale Erinnerung an das Geschehnis, also was ich gemacht hatte, habe Tage lang unter einen wahnsinnigen Druck im Kopf gelitten, unter Übelkeit, und mich mit Alkohol und Tabletten allmählich wieder auf die Beine gebracht. Es war furchtbar, ich dachte an Selbstmord, aber jetzt, jetzt wünsche nichts anderes als hier rauszukommen, um neu zu beginnen, um ein anderer Mensch zu werden, auch um wieder gut zu machen, was passierte, natürlich...« Soweit, dachte die Therapeutin jetzt, mehr war und mehr ist nicht zu bekommen und trotz aller Widersprüche ist das Bild wohl auch in sich schlüssig genug. Ein Schwächling, der den starken Mann markierte, sein Selbstvertrauen verloren und nach neuen Möglichkeiten der Machtentfaltung gesucht hatte. Im Grunde gestand sie sich ein, fehlte ihr die Vorstellung der ganzen Realität des Geschehens; womöglich hatte er ihr diesen Zusammenhang oktroyiert. Angesichts der Logik, oder dem Gegenteil davon, wie blind er seine Taten in der Regel aufgebaut haben wollte, das Zufällige beim Ausspähen des Opfers, deren Aussehen offenbar gar keine Rolle bei der Tatplanung spielte, deren Verfolgung, Gewohnheiten, zuletzt die Tatortbestimmung, die nicht geplanten, nicht planbaren Umstände der Beseitigung der Leiche; all das sprach für eine irre aber intelligente Planung, und wurde ausgeführt wie eine Demonstration, wie ein Exerzitium, eine Bestrafung, aber wofür, für welches Vergehen? Und war so, wie sie es sich zurechtlegte, nicht alles Fiktion?

      Würde sie ihn nicht für krank gehalten haben, hätte sie nicht mit ihm arbeiten können. Sie hielt sich an die Techniken der Psychoanalyse; die durch sie beförderte Selbsterkundung der gestörten Persönlichkeit durch zielgerichtete Befragung, das Aufarbeiten der schändlichen, manchmal furchtbaren Taten, die man zu hören bekam, durch ständige Wiederholung des Gehörten, das Zermürben des Patienten, das Niederlegen der Selbstschutzsperre im Kopf des Täters, bis zu seinem völligen nervlichen Zusammenbruch. Es war ein gefährliches Spiel, gefährlich für beide, kaum weniger brutal als die Triebhandlung des Mörders selbst, aber mit Blick auf das Resultat hin erlaubt, wollte man der Kathederlehre glauben. Anschließen sollte der Aufbau einer neuen gesünderen Persönlichkeit, das Einpflanzen der Selbstkontrolle. Wer dies überstand, der mußte denn wohl auch wahrlich gesund sein.

      Übrigens hatten alle Untersuchungen herkömmlicher Art, der sich Martin bereitwillig, ja, neugierig, unterzog, seine volle Gesundheit ergeben. Nichts war versäumt worden, man war durch mit dem Programm. Die Probe stand aus. Schließlich: Unter Umständen gab auch der seelisch Gesunde seiner Triebeingebung nur deshalb nicht nach, weil er sozial angepaßter, weil er erzogener war, erfolgreicher und selbstkontrollierter oder weil ihm die Grenze nicht so bestimmt gezogen wurde zwischen Duldung der sexuellen Handlung und einer Vergewaltigung, sicherlich viel häufiger als gedacht, und als Gewalt in der Ehe neuerdings verfolgbar. Oder er war einfach zu phlegmatisch, um ein solches Ziel zu verfolgen. Es galt die fehlerhafte, die faule Stelle in der Biographie Martins zu erkunden, die gerissenen Drähte neu zu verknüpfen. Dies war ihr, soweit wie möglich gelungen, meinte sie. Zu ihrem Nachteil unterdrückte sie, welche Form der Tötung er bevorzugt angewendet haben wollte; den Bruch des Kehlkopfes, wozu eine erhebliche Kraftaufwendung nötig ist, wie sie ein Gerichtsmediziner beiläufig erkundet hatte, anläßlich eines Gutachtens in einer anderen Sache, das sie im gerichtsmedizinischen Institut abzuholen und bei der Staatsanwaltschaft abzuliefern gehabt hatte. Auf Suche nach dem Mediziner war sie in den Sektionssaal verwiesen worden und zufällig Zeuge einer Demonstration des Prosektors für Studenten der Anatomie des Wirbelapparates geworden. Sie war stehengeblieben, um zuzusehen. Die Leichen hier sahen alle schön genug aus, wie angegrautes Marzipan; der Dozent hatte die Kopfschwarte der Rückseite eines Schädels bloßgelegt, einen Teil der oberen Wirbel bis zur Rückenmitte dargestellt und abgefragt; wie heiße dieser oder jener Knochen? Condylus occupitalis, und so fort; es habe da einen Massenmörder gegeben, humorvoll eingeflochten, der sich einer speziellen Tötung bediente, er pflegte den Kopf des Opfers weit nach vorn zu beugen und, nun um was zu durchtrennen? Genau, die Nerven im Wirbelkanal zwischen Atlas und Dreher und womit, nun, mit der kleinen Klinge eines gewöhnlichen Taschenmessers, haha …

      Später, auf ihre Frage unter vier Augen nach der Beschaffenheit des Kehlkopfes, hatte sie diesem lustigen Anthropologen geschildert, wie ihr Klient seine Opfer getötet haben wollte. Der Gerichtsmediziner hatte zweifelnd den Kopf geschüttelte; mit bloßen Händen den Bruch des Kehlkopfes herbeizuführen, scheine ihm schwerlich machbar; der Kehlkopf, ein kompliziertes komplexes Organ, bestehe aus drei sehr stabilen Knorpelplatten, der Epiglottis, dem Schild- und Ringknorpel, verbunden mit dem Zungenbein. Eher könne er sich vorstellen, daß ihr Mörder den Tod seiner Opfer durch Erdrosseln, durch das Zusammenpressen der Halsvenen herbeigeführt habe. Selbst ein starker Schlag reiche aus, um die Blutzufuhr zum Hirn zu unterbrechen und den Tod herbeizuführen. Das Eindrücken des gesamten Kehlkopfapparates würde allerdings einen Minuten dauernden Todeskampf zur Folge haben; durch schlucken werde die Luftröhre verschlossen und die Speiseröhre geöffnet, und so weiter; anders als der Drosselgriff, etwa wie ihn die Großkatzen anwendeten, als Schock, in Sekunden tödlich. Aber möglich sei natürlich vieles, die wahren Umstände ließen sich erst bei der Sektion klären. Er hatte ihr vorgeschlagen, den Vorgang am Objekt zu demonstrieren, aber sie hatte diesem, von seinem Metier besessenen Spaßvogel eilig gedankt, und sie wünschte später, sich sogar das Privatissimum über den Kehlkopf erspart zu haben.

       2.

      An einem Vormittag beriet die Anstaltskonferenz verschiedene Vorgänge, den Strafvollzug betreffend, darunter auch Anträge Strafgefangener, zuletzt die Wünsche nach Freigang, Arbeit im offenen Vollzug bis zur Gewährung von Hafturlaub und so weiter; die Beamten gaben ihre Meinung zu den Einzelfällen ab, nach den Erfahrungen mit ihren Zöglingen und der verstrichenen Wochen und Monate anhand der bereits beschlossenen Vollzugspläne. Die Therapeutin war als Spezialistin des Hauses hinzugezogen, aber nicht gefragt. In ihre Zuständigkeit fielen die wenigen vom Maßregelvollzug betroffenen Männer, abgesehen von einigen Fällen, die ins Krankenrevier oder in eine Klinik zur Beobachtung überwiesen werden wollten, weil sie den Alltag der Haft nicht ertrugen, psychisch nachgaben oder suizidgefährdet schienen.

      Die Haftpsychose trete im Allgemeinen kurz nach Strafantritt ein, stellte der Direktor fest; die Eingewöhnung in der Anstalt mit einem vergleichsweise modernen liberalen und milden Vollzug böte genügend Spielraum, dem Einzelfall entgegen zu kommen, auch ohne spezielle Behandlung der Psychose. Dann wendete sich die Konferenz dem Fall Martin zu. Anhand der Akten rekapitulierte der Direktor, der den Mann nur einige Male zu Gesicht bekommen hatte, dessen Straftaten und wendete sich dann dem Maßnahmeplan zu. Alle sahen die Therapeutin an… »Das letzte Wort liegt natürlich bei Ihnen, Frau Kollegin,« gab der Direktor freundlicherweise zu; er mahne jedoch an, daß man zumindest einen Zwischenbericht über das Erreichte an die Staatsanwaltschaft beziehungsweise an die Strafvollstreckungskammer weiterleiten müsse. Falls es also keine schwerwiegenden Bedenken gäbe, sollte man dem Häftling einen baldigen kurzen Freigang in Aussicht stellen, zumal er die Hälfte der Strafzeit hinter sich habe und bei seiner guten Führung mit einem Antrag auf Strafaussetzung vielleicht rechnen könne. Da sich niemand ein Bild von diesem Häftling machen konnte, schwiegen alle…

      »Hat er eigentlich Familie, die sich um ihn kümmert«, fragte die alte Beamtin und Freundin der Therapeutin. Ja, die habe er zwar, Mutter und Geschwister, verweigere aber jeden Kontakt zu ihnen. Die Therapeutin war gut vorbereitet,