Helmut H. Schulz

Der Isländische Freistaat in Sagas


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des Einzelnen; jeder bekam so viel an Recht, wie er verteidigen konnte und wie er verteidigen wollte, was keineswegs dasselbe ist.

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       Schauplätze wichtiger Islandsagas nach Jon Helgason

      Der Sagaschreiber besaß über das Laxwassertal und seine Bewohner reiche, bis ins Einzelne gehende Kenntnisse, um die Beziehungen und Verhältnisse am Breidafjord zu beschreiben, sie vielleicht auch frei auszulegen, begeistert von seiner Fabulierlust wie von den Menschen, von denen er erzählt; selbst Entfernungen und Wegeverhältnisse wusste er in die Handlung miteinzubeziehen. Man kann auch heute noch mit der Karte und der Beschreibung der Saga die alten Wege gehen, und die Orte finden, wo die Helden der Saga gelebt haben. Wie ein Blick auf die Karte Islands zeigt, war Thingvellir, ab Mitte des zehnten Jahrhunderts der sommerliche Tagungsort des Freistaates und für die Tälerleute leicht erreichbar, leichter als den Amtsträgern und Thinggemeinschaften von der Ostküste an der dem Atlantik zugewendeten Seite und dem Norden. Hätte sich aus dem florierenden bäuerlichen Freistaat ein moderner Staat, in diesem Falle der frühe Feudalstaat entwickeln können, wäre ihm Zeit gelassen worden? Der Isländische Freistaat ist einmalig und er blieb so, wie er sich gebildet und verschwand aus der Geschichte als er sich überlebt hatte. Es hätte eines starken bodenständigen Feudalfürsten bedurft, um die in etwa gleichstarken Bezirksgoden und Häuptlinge zu entmachten. Gode, das bedeutet eigentlich Priester und auf ihren Höfen besaßen viele auch Tempel und Kultstätten, Götterbilder und Opfersteine.

      Allein ab Mitte des zehnten Jahrhundert kamen auch vereinzelt christliche Bauten auf. Große Umwälzungen gehen mit Gewalt von oben einher, viel seltener auf Revolutionen von unten zurück. Die Stärke des Freistaates, allen Thinggenossen eher mehr Freiheit einzuräumen als zu wenig, wurde seine Schwäche. Island konnte überdies aus Mangel an Menschen keinen mächtigen Feudalfürsten hervorbringen; auch die Sturlungen um 1220 n. Chr., besaßen keine reale Macht. Waren die Voraussetzungen für einen zeitgemäßen Staat nicht gegeben, so dachten gegen Ende des Freistaates die führenden Goden über eine Reform des Thingregimes nach, als die Prozesse überhand nahmen und der Rechtsnotstand drohte, nein, als er schon eingetreten war, als kein Urteil mehr durchgesetzt wurde, wie die späten Prozesse Gunnars zeigen. Ein sogenanntes Fünftes Gericht als Berufungsinstanz sollte den Viertelgerichten der Thingbezirke übergeordnet werden. Dazu kam es nicht mehr. Immerhin konnte der Weise Njal den sechsunddreißig Goden der Bezirke seine Vorstellungen von der Reform darlegen, und sie nahmen einen Beschluss dazu auch an. Das Ende des Isländischen Freistaates wurde durch keinen Krieg, durch keinen Eingriff von außen herbeigeführt. Keine Bewegung von unten endete den Freistaat. Da waren einmal die Alten, der Bauernadel, im Besitz großer Herrenhöfe und der politischen Macht in Gestalt der Godengewalt des Bezirkes. Deren Söhne und noch mehr die Enkel hatten auf ihren Handelsreisen und längeren Aufenthalten in der Königsstadt Nidaros, Trondheim die Vorzüge der Reichsreligion und die Macht des Zentralstaates kennen und schätzen gelernt. Dazu mussten sie nicht einmal mehr die Taufe nehmen.

      Hatten sie sich auf Grund ihres Herkommens noch gesträubt, den Königsglauben anzunehmen, so traten sie nun dem weltlichen Königtum, der Handelsfreiheit und der gebotenen Friedenspflicht näher, ließen sich umwerben und beschenken und stellten Vergleiche zwischen der nordischen Weltstadt Nidaros und Trondheim mit den starren Sitten der heimatlichen Insel an. Norwegens Könige kauften einfach Island; sie bekamen alles billig genug, gaben großzügig wie nur Könige dieses Zeitalters geben konnten, steigerten ihr Ansehen und ihren Einfluss. Immer wieder ist die Rede von Gaben aus den Schatztruhen der Könige, die durch Eroberungen, durch Tributleistungen der Unterworfenen und durch Steuern, den oder die Zehnten, ständig neu gefüllt wurden. Während der isländische Handel blühte, tobten um England schwere blutige Kämpfe um die Vormacht im Norden. Aus dem Gegensatz zwischen dem Reich und der Inselkultur entstand ein Bruch, die Entfremdung der Enkel von der Rechtsordnung der Ahnen, ihrer Väter und Großväter. Gegen Ende des ersten Jahrtausend stießen in Island zwei Welten zusammen; das Volksrecht verlor an bindender Kraft und die Rechtsgestalt des Althing an Wert; die Königsreligion war offenkundig überlegen und weltoffener als das Volksrecht, den blutigen Fehden zwischen rechtlich untereinander Gleichen, in Wahrheit ein enges Geflecht sozialer Abhängigkeiten. Das straffe Regime des energischen norwegischen Königtums bot sichtlich neue Möglichkeiten des Aufstieges, des freien Handels und der sozialen Erhöhung durch Berufung in die Gefolgschaft des feudalen Herrschers. Nicht wenige junge Isländer strebten nach Nähe des Königshofes, nach Aufnahme in den Kreis der Erwählten. Der junge Kauffahrer reiste als Isländer ab und kam als getaufter Königsmann nach Island zurück, um seine Reichtümer vorzuweisen. Diese kluge Politik Olafs, hier Thryggvassons, das allmähliche Einsickern des Königsglaubens führte zum Zerfall der überkommenen Ordnung. Die Abstimmung über Annahme oder Ablehnung des neuen Glaubens, spaltete am Ende das Althing in zwei etwa gleich große Lager. Längst hatten nicht wenige Goden christliche Tempel auf ihren Höfen errichtet oder sie geduldet und die Königsreligion zugelassen, ohne ihr selbst anzuhängen, in der Indolenz dieser Auflösungszeit ausharrend. Da beide Religionen Vorteile boten, waren beide zu nutzen. In der Saga vom Goden Hrafnkel nimmt der Held den Christenglauben deshalb an, weil er dem neuen Gott mehr vertraut als seinem alten Lieblingsgott Freyr, der in seinem Falle als Beistand schmählich versagt hatte, als er gebraucht wurde.

      Die Gleichgültigkeit des Nordens in Glaubensdingen arbeitet für den Königsglauben. Wie sich die unteren Schichten, die Knechte und die unfreien Sklaven gegenüber der neuen Verheißung verhielten, die allen Menschen Gleichheit im Himmel versprach, darüber wissen wir wenig. In Norwegen waren die alten Geschlechter der Hersen und Thinggenossenschaften seit dem neunten Jahrhundert Zug um Zug geschlagen, von der Königsmacht besiegt und von ihrem Besitz vertrieben worden. Mit Verwandten, Bonden und Halbfreien und mit Knechten begannen sie auf großen Lastschiffen Norwegen zu verlassen und fanden in dem neuen Land, der unbewohnten Insel im westlichen Nordmeer, von der sie durch die Züge der Wikinger, den Entdeckern Islands, Kenntnis besaßen, die Freiheit, die sie in Norwegen verloren hatten. Auch die Wikinger, einmal die wahren Herrscher Europas, waren geschlagen worden. Auf ihren Fahrten hatten sie die Küsten Europas erkundet und die Kenntnisse über den Kontinent erweitert, Flüsse befahren, Paris, wenn auch vergeblich belagert und Kämpfe um Königreiche geführt. Auf der menschenleeren Insel im Nordmeer siedelten sie vereinzelt, hüteten ihre geraubten Schätze, wie Egil Skallagrimr, der das Ende seiner Tage auf Borg am Borgfjord entgegensah. Aber Wikinger waren keine Bauern; als Krieger glaubten sie nicht an den Wert dauerhafter Arbeit, sie nahmen weg, was sie wollten und wo auch immer. In ihrer großen Zeit hatten sie vorübergehend in England, in Schottland wie Fürsten geherrscht; sie konnten keinen Staat bilden, wenn auch in großen Siedlungen und Stützpunkten handwerkliche Gewerbe blühten, Kunstgegenstände von hohem Rang hergestellt wurden. Wikinger hatten den Schiffbau auf eine unerhörte Höhe gebracht. In den Isländersagas kommen sesshaft gewordene Wikinger nur noch wegen ihrer Händelsucht vor; sie sind Störenfriede. In der Überlieferung hatte der kriegerische Wotan, das Vorbild des Wikingerführers, den bäuerlichen Gott Asa-Thor überflügelt; mit dem Lanzenwurf über die mit den Asen im Streit liegenden Wanen löste Wotan den ersten Weltenbrand aus.

      Götter haben keine Moral; der Wikingerführer hatte auch keine; er sah sich als Erbe Wotans, beanspruchte alle Güter der Welt, opferte als Gegenleistung dem Kriegsgott die Gefangenen durch Erhängen. Allein in dem neuen christlichen Königtum, so gewalttätig es selbst auch gewesen ist, hatten sich Wotan und Wikinger nicht vereinen lassen. Um ihre gewohnten Rechte und Freiheiten zu wahren, errichteten die norwegischen Ankömmlinge in dem neuen Land ein bäuerliches Gemeinwesen, das etwa drei Generationen Bestand haben sollte, bis sich durch die Einführung des Christentums die Thingordnung zugunsten des Reichsrechtes auflöste. Das Volksparlament blieb in Norwegen wie in Island allerdings weiter bestehen, nur übernahm fortan der König oder einer seiner Vasallen, ein Beamter, wenn man will, die Rolle des Gesetzessprechers. Es war das römische Recht, das sich durchzusetzen begann. Der vom König berufene Funktionär ersetzte den gewählten Richter des Freistaates. Die Unterdrückten hatten Grund auszuwandern, aber wer waren diese ersten Auswanderer, die in Island ihre Wirtschaften und ihren Freistaat gründeten?

      II. Ketil Plattnase,

      Wikinger