Gerstäcker Friedrich

Im Eckfenster


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seiner Lethargie aufgerüttelt, denn er hatte die letzte Viertelstunde wie in einem Halbtraum gesessen.

       Wie gleichförmig war bis dahin sein Leben verflossen, wie alltäglich, die Zeit natürlich ausgenommen, welche die Herrschaften hier in Rhodenburg oder dem Jagd-Schloss zubrachten! Dann allerdings hatte seine Existenz einen Zweck, er war alle Tage zur Tafel befohlen, ja, eigentlich deren Seele, denn ohne ihn hätte die ganze Tafel nicht bestehen können; und wie gnädig verkehrten die Königlichen Hoheiten mit ihm, wie huldvoll wurde er manchmal angelächelt und trug dann den ganzen Tag Glück und Seligkeit im Herzen herum! So lange die Herrschaften mit ihm zufrieden waren, existierte weiter keine Welt für ihn, und es gab Momente, wo er mit seinen Füßen kaum den Boden zu berühren, sondern fast nur über der Erde zu schweben schien.

       Wenn der Hof dagegen die Stadt verließ, war es, als ob Rhodenburg – für ihn wenigstens – ausgestorben gewesen wäre. Das Schloss stand leer, es gab kein Theater, keine Soirée, kurz, er wurde nicht mehr gebraucht und fühlte sich deshalb, da niemand sonst in Rhodenburg besondere Notiz von ihm nahm, verlassen und elend.

       Jetzt dagegen war ihm plötzlich in dieses, sonst bodenlose Nichts ein Ereignis gefallen, das mit dem Hofe nicht in der geringsten Beziehung stand, und er brauchte erst einige Zeit, bis er sich das in seinem Inneren ordnete und sichtete. Auch die Einzelheiten der Überraschung frappierten ihn, das Übersteigen des Geländers, das unangemeldete Eintreten, die Unbefangenheit des Sohnes, und jetzt sogar der Zigarrendampf, den dieser in der größten Gemütsruhe hier in seinem Zimmer ausblies, ja, der Sohn selbst, der ihm so lange gefehlt, dass er ihn fast vergessen hatte, denn er war bei Hofe nie erwähnt worden. Er bedurfte wirklich einiger Zeit, bis er alle diese einzelnen Umstände in seinem Geiste zusammenfassen und ordnen konnte, und erst als das geschehen war, kam er wieder auf die Oberfläche der Erde zurück.

       Die Mutter hatte, als die erste Dampfwolke zu ihr hinüberstrich, abwehrend etwas mit ihrem Tuche geweht, jetzt aber, da kein Hindernis mehr oblag, nahm sie die vorherige Frage ihres Gatten wieder auf und sagte:

       „Ja, Hans, jetzt möchte auch ich dich bitten, uns zu sagen, welches Leben du da drüben geführt hast, es ist natürlich, dass die Mutter das zu erfahren wünscht. Apropos, wo sind denn eigentlich deine Sachen?“

       „Mein Gepäck? Im Hotel, Mama, wo ich die Nacht geschlafen habe, wir können es nachher holen lassen.“

       „In welchem Hotel bist du abgestiegen?“

       „Im Goldenen Löwen, es war das nächste am Bahnhof.“

       „Im Goldenen Löwen?“ rief der Vater in wirklichem Erstaunen aus. „Das ist ja eine ganz ordinäre Fuhrmannskneipe!“

       „Sehr vorzüglich ist es nicht“, lachte Hans. „Aber was tat die eine Nacht, und früher, so weit ich mich erinnere, war es das Beste.“

       „Du hast doch hoffentlich deinen Namen nicht in das Fremdenbuch geschrieben?“ sagte die Mutter erschrocken.

       „Und weshalb nicht, Mama? Ich wollte doch nicht hier inkognito auftreten!“

       „Es ist schrecklich! Morgen stehst du zwischen lauter Viehhändlern und Krämern im Tageblatt, Hans, ich begreife dich gar nicht!“ rief die Mutter.

       „Ja, das ist nun nicht mehr zu ändern“, lachte Fränzchen. „Die Rhodenburger werden sich nicht schlecht den Kopf darüber zerbrechen. Aber nun lass ihn auch erzählen, Mama, denn wir erfahren ja sonst kein Wort von der Geschichte.“

       „Ja, mein Herz“, sagte Hans und legte seinen Arm um die Schulter der neben ihm sitzenden Schwester. „Aber der fatale Tabaksrauch!“

       „Um Gottes Willen, ich ersticke!“ rief Fränzchen, bog den Kopf so viel sie konnte zur Seite und fing an zu husten. Der ungewohnte Rauch war ihr wirklich in die Kehle gekommen.

       „Ja, mein Herz", fuhr Hans fort, ohne von dem Husten weitere Notiz zu nehmen, nur dass er sie losließ. „Da ist eben nicht viel zu erzählen, so interessant auch vielleicht für euch die Einzelheiten meines allerdings sehr bewegten Lebens sein möchten. Mit kurzen Worten will ich euch aber wenigstens einen Überblick geben. Ich ging, wie ihr wisst, von hier nach Nordamerika, die Taschen so voll von Empfehlungen, das Herz voll froher Hoffnungen, ich sollte mich in beiden getäuscht sehen. Die Empfehlungen halfen mir gar nichts, als dass ich bei einem oder dem anderen der betreffenden Herren vielleicht einmal zu Tische geladen wurde. Damals zürnte ich allerdings der ganzen Welt, später aber sah ich doch selber ein, dass jene Leute ihren vollkommen guten Grund dafür gehabt, denn was in der Gottes Welt hätten sie mit mir anfangen sollen?"

       „Aber ein gebildeter, junger Mann findet doch überall sein Fortkommen", sagte etwas ungläubig die Mutter, denn ihr Sohn hatte damals Briefe von den ersten Familien des Landes mitgenommen. „Solche Rekommandationen bekommt nicht jeder."

       „Hilft alles nichts, liebe Mutter", lachte Hans. „Die Leute da draußen sind viel zu praktischer Natur, als sich solchen Schreibebriefen zu Liebe mit fremden Leuten einzulassen, die ihnen gleich beim ersten Anblick als 'grün' erscheinen."

       „Grün?" fragte der alte Freiherr.

       „Es ist der Ausdruck dort. Sagen wir: unreif, was etwa dasselbe bedeutet. Ich kam jedenfalls grün ins Land, und es fiel niemand ein, das Lehrgeld für mich zu zahlen. Das musste ich selbst tun und tat es ehrlich. Mein Geld, das ich mit hinübergenommen – es waren fünfhundert Taler – weißt du noch, Mama? Ich verzehrte nicht den zehnten Teil davon, um das Übrige betrog mich in größter Geschwindigkeit ein biederer Landsmann, ein junger Gauner, vielleicht eben so alt, wenn nicht noch jünger als ich selber, und dann erst wurde ich auf mich und meine eigene Kraft angewiesen. Ich fand bald, dass ich keine Stelle, das heißt, keinen Platz finden konnte, wo ich mir den Tag die Ellbogen hätte an einem Ladentisch abreiben dürfen und dafür meinen Lebensunterhalt bekam. Die Leute, die Geld zahlten, wollten auch wirklich etwas dafür getan haben, und dahinein fand ich mich zuletzt. Nun lesen wir allerdings hier oft in stetigen Berichten – in Amerika sind mir wenigstens verschiedene Male solche Bücher in die Hand gekommen – dass der Arbeitslohn für Zimmerleute, Maurer, Handwerker oder sonst wen soundsoviel Dollars pro Tag macht, und das klingt den Leuten in Europa wirklich fabelhaft. Dass diese Arbeiter aber oft Monate lang herumlaufen und das bis dahin verdiente Geld verzehren können, ehe sie wieder Beschäftigung in der Höhe des Lohnes, ja, oft um irgendwelchen Lohn finden, steht nicht dabei, und so ging es auch mir. Ich nahm jede Arbeit an, die ich bekommen konnte, aber die dauerte dann selten lange, und ohne mich lange zu besinnen, griff ich zu etwas anderem. Wenn ich dann auch keine Schätze dabei sammelte, lernte ich doch das amerikanische Leben gründlich kennen.

       Das trieb ich sechs Jahre und war in der Zeit auch nicht einmal imstande, mir selbst nur hundert Dollar zu sparen. In der Zeit hatte ich aber auch herausgefunden, dass man in Amerika mit harter Arbeit sein Leben wohl fristen, aber nichts wirklich verdienen könnte, dazu war Spekulation nötig, und auf die warf ich mich; ich fing an, Handel zu treiben."

       „ D u , Hans?" rief seine Schwester und sah ihn mit ihren großen Augen verwundert an. „Du bist Kaufmann geworden?"

       „Das will ich nicht sagen, Herz", lachte der Bruder. „Kaufmann kann man es eigentlich nicht nennen, denn dazu fehlte mir das Kapital. Ich lernte aber bald, welche Waren einen möglichen Markt fanden und vorteilhaft verwertet werden konnten. Dabei verkehrte ich sehr viel mit deutschen Schiffen und kaufte gewöhnlich alles, was die Kapitäne privat mitbrachten. Daran machte ich, ohne meine Körperkraft weiter zu bemühen, einen ganz hübschen Nutzen, so dass ich mir in einigen Jahren mehrere tausend Dollars verdienen konnte.

       Da kam der amerikanische Krieg, und ein spekulativer Deutscher hatte es für vorteilhaft befunden, eine Ladung alter, ausrangierter Gewehre von hier nach drüben zu schaffen, um dort, wie er glaubte, einen enormen Preis dafür zu bekommen. Die Amerikaner wissen aber recht gut ein brauchbares von einem unbrauchbaren Gewehr zu unterscheiden. Sie mochten die ihnen gebrachten Waffen nicht haben, und wie der Kapitän in aller Verzweiflung und in der Angst, die ganze Fracht wieder mitnehmen zu müssen, zu dem Entschluss kam, sie um jeden Preis loszuschlagen, kaufte ich ihm den ganzen Plunder ab und fand bald, dass ich einen sehr guten