Dirk Schumacher

Virtuelle Ethik


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Krankheiten vorgebeugt werden. Die Nachteile sind die Benachteiligung sozial Schwacher, die sich neue teurere Behandlungen nicht leisten können, die unbekannten Auswirkungen bewusster genetischer Veränderungen am Menschen und die zukünftige Möglichkeit Menschen anhand ihres genetischen Potentials noch vor Ausbruch von Krankheiten als Person abzuwerten. Auch können einzelnen Menschen, durch die Lizenzierung genetischer Codes, ohne das diese die Mittel haben sich zu wehren, der Besitztum am eigenen Körper entwendet werden.

      Nach Freud sind die gesamten geschilderten Implikationen auf den Kampf der einzelnen Triebe der beteiligten Individuen zurückzuführen. Moralische Vorstellungen, was ja unsere Tun zielgerichtet beeinflussen sollte, entstehen insofern, als das Über-Ich und das Ich des Einzelnen, Eros und Todestrieb zügeln und aus diesem Kampf heraus eine Meinung bilden. Natürlich würde mir hier jeder Psychoanalytiker widersprechen, denn was in einer Analyse stattfindet ist zutiefst moralisch. Aber diese Moral, der Offenheit gegenüber den Trieben, dem eigenen Selbst gegenüber, die Freiheit schätzt und trotzdem ihre menschlichen Grenzen über gedankliche Symboliken setzt, entsteht aufgrund des Schätzens des mir gegenüber stehenden Anderen. Das entsteht nicht aus der Theorie, sondern aus dem Menschen, die damit umgehen und die Vorteile der Theorie nutzen und damit sich klären und stärken. Die moralische Instanz der Psychoanalyse sind ihre Mitglieder und das, was sie gemeinsam schätzen an der kognitiven Verarbeitung paradoxer Gefühle.

      Nach Gergen ist das Bewusstsein des Einzelnen eine soziale Konstruktion, die wiederum aus dem Gemeinsamen, was wir erschaffen, entsteht. Die Wirklichkeit einer genetischen Behandlung mit ihren positiven oder negativen Auswirkungen wäre eine Konstruktion zwischen Patient, Arzt und medizinischer Wissenschaft. Das Gute und Wahre in der Problematik entsteht durch Kommunikation der daran beteiligten Gruppen. Das können auch weitergehend Politiker, Interessengruppen, Nichtmediziner usw. sein. Alle, die ein Interesse dort einbringen und mithelfen das Richtige oder das Falsche dort zu finden. Und zu konstruieren. Das ethische an dieser Sichtweise ist ihre Distanz. Der Betrachter einer konstruierten Welt ist selbst zwar funktional eingebunden, aber vom Denken her ein Außenstehender. Gergen fällt es leicht, eine gewisse Distanz aufrecht zu halten und gleichzeitig ein wenig Wärme auszustrahlen. Das ist auch kein Problem. Bei der Betrachtung eines Problemfeldes ist das negative immer viel beeindruckender als das positive. Das Negative ist das uns angreifende und das Positive wird für selbstverständlich gehalten. Jemand der eine Distanz aufbaut ist daher an sich schon positiv geerdet. Und wenn er dann auch noch in seiner Autorität die Dinge betrachtet, fühlt man sich geschützt vor den schlechten Dingen. Funktionale Distanz schafft Sicherheit. Manchmal fällt uns das auch als sehr westliche Sichtweise auf. Ich glaube das liegt eher an der Distanz, die wir zu wirklichen Problemen haben. Wir lernen distanziert Wissenschaft zu betreiben, weil damit die positiven Aspekte hervorgehoben werden.

      Trotzdem sollten wir das nicht zu sehr verurteilen, denn das positive der Theorie von Gergen ist eine differenzierte Sichtweise auf die Dinge und aus ihrer Distanz auch ein moralisches Heraushalten aus den Dingen. Wie bei der Psychoanalyse mit ihren positiven ethischen Aspekten der Offenheit, sprachlichen Wertigkeit und Gefühlsbetontheit, ist auch bei Gergen der Freiheitsbegriff wichtig. Trotz Konstruktionismus oder starrer sprachlicher Symbole der Psychoanalyse sind beide Theorien ohne einen großen Freiheitsgrad der beteiligten Individuen nicht vorstellbar. Beide Theorien brauchen ein selbstständiges, kritisches und offenes Denken, weil sie beide von der Vorstellungskraft ihrer Vertreter leben.

      Aus der aufgebrochenen Einzigartigkeit des Menschen, der physischen Basis des Bewusstseins und der funktionalen Dekonstruktion der Willensfreiheit lässt sich auch keine Moral herauslösen, die die Problematik der genetischen Medizin aufbricht. Roth's zentrale These, dass die gesellschaftliche Natur des Menschen nicht ohne die biologische Natur des Menschen erkannt werden kann, ist im Kern sicherlich wahr. Aber die biologische Natur des Menschen ist genauso wie die Triebstruktur des Menschen nur eine hinreichende Bedingung zum Erkennen der gesellschaftlichen Natur. Unter mehreren andern, die noch zu ergründen sind. Auch wenn man sich ein pyramidenartiges Gebäude vorstellt, in dem oben die Spitze die Gesellschaft vertreten ist und von der Basis der biologischen Bedingungen getragen wird. So heißt das nicht, das die Form der Spitze alleine durch die Betrachtung der Basis hergeleitet werden kann. Genauso wenig, wie das Nebeneinandersetzten von ein paar Steinen ein Volk befähigen würde Pyramiden zu bauen. Bei der Vorstellung einer Pyramide spielen viel mehr Dinge eine Rolle, als bei der reinen Vorstellung einer geometrischen Figur. Man darf nicht die funktionale Vereinfachung mit ihrer Gesamtkomposition verwechseln. Die ethischen Ansprüche bei Roth lassen sich auf den Anspruch reduzieren ein wissenschaftliches Gebiet auszuweiten und auf wissenschaftlichen Erkenntnissen eines Gebietes aufzubauen. Wie bei der Pyramide werden bei Roth die Hintergründe funktional vereinfachend bei der Betrachtung des Bewusstseins ausgeblendet. Was ausgeblendet wurde ist der wissenschaftliche eigene Anspruch und die Vielfältigkeit des Begriffes vom Bewusstsein. Die dahinterliegende Ethik der Biologie und ihrer Forschungsmethoden ließe sicherlich auch eine Ethik zu, die als Diskussionsgrundlage der genetischen Medizin gelten könnte. In ihr würde die positiven Merkmale besonders hervorgehoben. Aber das ist nur eine spezifische Sichtweise, die weder den gesellschaftlichen Hintergrund betrachtet, noch zutiefst menschliche Beweggründe beachten würde. Was beides meiner Meinung nach für eine moralische Bewertung von Nöten ist. Somit bleibt die Problematik der genetischen Medizin bis zu diesem Teil meiner Ausführungen – ungelöst.

      Das bedeutet, die reine Betrachtung des Bewusstseins, des Denken des Einzelnen hat keine Möglichkeit in die moralische Sichtweise einer Problematik einzusteigen. Es bleibt immer individualistisch und spezifisch. Sicherlich können alle diese Theorien gute Argumente liefern. Aber nicht Sichtweisen, die die Argumente bewerten.

      In diesem Sinne möchte ich noch weiter ausholen und die Frage stellen, was Menschlichkeit überhaupt ausmacht und wie sie entsteht.

      3. Was bedeutet menschliches Erwachen in der Zivilisation?

      Nachdem ich in den vorherigen Kapiteln versuchte, das persönliche der Person, das Bewusstsein, das Ich in modernen Deutungen zu umschreiben, werde ich nun im nächsten Schritt das Soziale angehen. Oder die Frage stellen, was passiert, wenn mehrere Personen etwas zusammen tun? Was sie eigentlich immer tun, denn auch wenn eine Person alleine für sich handelt, z.B. als Robinson Crusoe, so können wir ihn trotzdem immer verstehen. Er ist uns nicht fern. Genauso, wie wir ihm nicht ferne sind. Jede Person ist immer und irgendwo mit anderen Personen verbunden. Sei es in Gedanken, Gefühlen, in seiner Geschichte, seiner Biographie, seiner Schule, seiner Kindheit, seinen Wünschen und Befürchtungen. Eine Person, die damit aufhört, ist keine mehr. Wir könnten sie nicht mehr verstehen. Diesen Zusammenhang nenne ich Menschlichkeit. Und damit meine ich, Mensch zu sein bedeutet alleine zu sein und gleichzeitig auch mit allen anderen zusammen zu sein. Mensch zu sein bedeutet im Sinne Mensch zu sein. Und in der Zeit mit anderen verbunden zu sein. Aus Geschichte, Erziehung, Genese, Evolution..

      Hier stellt sich die Frage, wie konstituieren Menschen sich untereinander? Natürlich können wir behaupten, das wäre nicht so. Menschen sind Einzelwesen, jeder für sich unabhängig und quasi per Entscheidung auch in der Möglichkeit sich für andere zu entscheiden. Und Familien, Gruppen, Nationen und Staaten entstehen, weil wir uns für sie entscheiden und das im Zusammensein wollen. Doch genau dieser Gedanke des Unabhängigseins ist nur eine Grenze, die wir ziehen um unser Leben zu schützen, um als Person bestehen zu können. Wir lernen diesen Gedanken schon früh in der Kindheit, er gehört zu unserem Bewusstsein, zu unserem Ich. Er ist unabdingbar für Entscheidungen und trotzdem … Was wäre die Alternative? Dissipative Muster von Einzellebewesen, die per Zufall etwas höheres erschaffen? Für mich undenkbar. Jeder Mensch, der vor dieser Frage steht, hat überhaupt gelernt zu sprechen, zu kommunizieren, logisch zu denken, sich selbst zu denken, sich unter anderen als Person zu denken – und dann kann er diese Frage überhaupt erst stellen. Für jeden Menschen ist die Frage eine zutiefst pragmatische Fragestellung, die er benötigt um unter anderen Menschen ein Ich-Selbst zu sein. Die Frage, wie unabhängig wir Menschen sind, ist eine zutiefst menschliche Frage. Und die Antwort kann nicht sein, dass wir uns für eine Seite entscheiden, sondern dass wir uns fragen, wie es zu dieser Unterscheidung kommt. Zu der Frage, was bedeutet es Unabhängig zu sein? Was bedeutet es Mensch in beider Bedeutung zu sein? Sobald wir Sinn und Zeit in die Frage nach