Da stellt sich schon sehr die Frage, was mit Erleuchtung gemeint ist.
Für mich stand seit meiner Jugend der Begriff Erleuchtung immer für die höchste vom Menschen zu erreichende Seinsstufe. D. h., dass alles andere im Vorfeld nicht als Erleuchtung bezeichnet werden darf, sonst verwischen sich die Begriffe und sind nicht mehr hilfreich, d. h. man kann sich kaum noch verständigen oder müsste immer neue Begriffe für das Höchste erfinden. Leider sind wir Menschen sehr schlampig im Umgang mit den Begriffen. So gibt es z. B. keinen Super-GAU, denn über einen GAU hinaus gibt es nichts, weil es der „größte anzunehmende Unfall“ ist, über den hinaus es nichts geben kann. Ähnlich geht es mir mit dem Begriff Erleuchtung. Erleuchtung muss für mich unabdingbar mit einer Transzendierung des Ichs einhergehen. Dass es im Westen nur wenige sind, denen es um die Überschreitung ihres Ich-Seins geht, ist mir eigentlich schon seit McKennas S. 257 in „Spirituell unkorrekte Erleuchtung“ klar geworden, aber nun sehe ich zunehmend, dass es auch im Osten nicht besser bestellt ist.
Dass es nur wenige sind, die zum Höchsten vordringen, ist kein Argument dafür, den Begriff abzuschwächen, um ihn sozusagen auf mehrere anwendbar zu machen. Das ist nur Trickserei und erfordert immer neue Begriffe.
Was Hui-neng unter Erleuchtung versteht, wird aus folgender Stelle deutlich:
Ein Schüler – Fa-ta – liest Hui-neng aus dem Lotos-Sutra vor (Hui-neng kann weder lesen noch schreiben) und Hui-neng legt anschließend die vorgelesene Stelle, bei der es um die vier Tore und die Drei Fahrzeuge geht, aus. Und dann kommt die entscheidende Stelle, wo Hui-neng zu Fa-ta sagt: „Wenn du dich anstrengst und gemäß der Lehre übst, dann drehst du das Lotos-Sutra. Aber wenn du nicht im eigenen Geist mit jedem Gedanken übst, dann wirst du stets vom Lotos-Sutra gedreht. Fa-ta hörte dies und erreichte sofort große Erleuchtung“ (Fettdruck von mir) (Hui 180f).
Mir ist durch diese Stelle klar geworden, was von vielen mit Erleuchtung gemeint ist: Es ist ein Aha-Erlebnis, so wie bei einer Mathe-Aufgabe, wenn dir plötzlich der Rechenweg klar geworden ist. Es ist einem ein Licht aufgegangen (Licht hängt mit Er-leucht-ung zusammen), d. h. etwas, was vorher unklar war, ist jetzt plötzlich klar. Und deshalb geht Hui-neng von der „plötzlichen Erleuchtung“ aus und propagiert sie. (Hui 143: Ich hörte es nur einmal und „war sofort unmittelbar erleuchtet und erkannte direkt die wahre Soheit des ursprünglichen Wesens. Von dieser Erfahrung ausgehend nehme ich die Lehre der plötzlichen Erleuchtung und verbreite sie.“)
Auch in der Einführung zu Huang-po ist davon die Rede, dass Erleuchtung „blitzhaft“ erscheint und es „keine allmähliche oder teilweise Erleuchtung geben kann“ (Po 27). In vielen Geschichten des Zen-Buddhismus, wo ein Erleuchtungserlebnis geschildert wird, erscheint es so.
Und das scheinen wirklich sehr viele zu meinen, wenn sie von Erleuchtung reden: Ein plötzliches Klarwerden von Zusammenhängen, die vorher unverstanden waren. Natürlich ist das ein sehr tiefes und beglückendes Erlebnis, aber es hat dadurch noch keine verwandelnde Kraft – und das halte ich für das Entscheidende im Erleuchtungsgeschehen!
Auch ein Flow-Erlebnis kann als Erleuchtung verstanden werden. Es ist die beglückende Erfahrung, eins zu sein mit den Dingen. Das kann sowohl bei einem Sonnenuntergang erlebt werden als auch beim Anhören von Musik oder auch bei Tätigkeiten, wie z. B. beim Klavierspielen. Auch beim Sport gibt es vielerlei Möglichkeiten, diese Einheit von Handeln, Handelndem und Handlung zu erfahren, z. B. beim Basketball, wenn Wurf, Werfender und Korb zur Einheit verschmelzen. In allen Fällen ist das Denken ausgeschaltet, und das beglückt und zeigt, was möglich ist. Es ist ein Augenblicksgeschenk und nichts, was angestrebt werden kann, sondern es ereignet sich. In dem Moment, wo das Bewusstsein darauf gelenkt wird, zerbricht die Einheit. Es ist kein Zustand, der festgehalten werden kann.
Mir scheint aber, dass viele Suchende glauben, diesen Zustand durch Meditation anstreben zu können, so dass er zu einem bleibenden Zustand wird, was dann als Erleuchtung angesehen wird.
Beide Erlebnisweisen sind etwas ganz anderes als ich mit Transzendierung des Ichs meine. Diese beinhaltet eine Transformation des Menschen, so dass nicht mehr ich es bin, der sein Leben gestaltet, sondern dass ich teilhabe an der Gestaltung des Lebens, das durch mich in Erscheinung tritt. Dies ist nur möglich, wenn das Ich eliminiert ist, das heißt, wenn der sich als getrennt erlebende Mensch seine Vorherrschaft abgegeben hat. Und das ist nicht nur ein außerordentlich schmerzhafter Prozess, sondern für jemanden, der das anstrebt, ein nicht zu erreichendes Ziel. Und darin liegt das Dilemma. Es ist nichts, was der Mensch bewerkstelligen könnte. Es ist ein Prozess, der nur dadurch möglich ist, dass er von der Tiefe her immer schon intendiert ist. Und dieser Prozess dauert so lange, wie es dauert, bis der Berg abgetragen ist:
In einer buddhistischen Geschichte wird von einem Vogel erzählt, der einmal in 100 Jahren über einen Berg fliegt, der sechs Meilen hoch, sechs Meilen lang und sechs Meilen breit ist. Im Schnabel trägt er einen Seidenschal und berührt damit den Berg. Die Zeit, die es braucht, bis der Berg abgetragen ist, ist die Zeit, bis das Ich transzendiert ist.
Wenn man diese Geschichte ernst nimmt, bekommt man eine Ahnung von dem, worauf die Schöpfung angelegt ist.
Von vielen Lehrern wird zu stark betont, dass man nur seine wahre Natur erkennen muss, um erleuchtet zu sein. Wenn es bei Shankara in V 181 heißt: „Erkenne deine Eigenschaft als Essenz des Seins“ legt das nahe, dass es etwas zu erkennen gibt. Erkennen bedeutet aber immer, dass es einen Erkennenden und etwas Erkanntes gibt, der Erkennende ist das Subjekt, und das Erkannte das Objekt. In diesem Denken verfehlt man das, worum es bei der Erleuchtung geht.
Deshalb sagen andere, dass es nichts zu erkennen und nichts zu wissen gibt, z. B. U. G. Krishnamurti. Auch bei Huang-po heißt es: „Was soll das Gerede von der ‚Einsicht in das wahre Wesen’“ (Po 129). Erleuchtete „nehmen nicht die Erleuchtung wahr und werden auch nicht von ihr wahrgenommen“ (Po 128). „Das Wahrnehmende (kann) nicht wahrgenommen werden“ (ebd.). „Sie …benutzen den Geist um den Geist zu erfassen (Po 41).
Ich habe nach Jahrzehnten des Suchens begriffen, dass ich genau das versucht habe: den Wahrnehmenden wahrzunehmen, und genau daran bin ich gescheitert; daran muss jeder scheitern!
Die wahre Natur des Menschen ist kein Gegenstand, sie ist seine Basis, und die Basis des Menschen und seines Denkens kann nicht erkannt werden. Die Basis des eigenen Erkennens kann selbst nicht erkannt werden. Was erkannt werden kann, ist immer ein Objekt. Der universale Geist aber ist kein Objekt, er ist die Basis, auf dem alles ruht und damit nicht erkennbar. Das Erkennen kann nicht seinen eigenen Grund erkennen. Das ist ja meine große Erkenntnis, dass ich immer die Basis meines Verstandes zu ergreifen versuchte. Aber das war mir als solches natürlich nicht bewusst. Erst jetzt ist mir das klar. Mein Geist kann nicht den Geist, der die Voraussetzung meines Geistes ist, erfassen. Ich kann mich nur von ihm erfassen lassen, aber das ist kein Tun!!! Es ist das Endergebnis des verzweifelten Versuchs, den Geist zu erfassen, der in die Auflösung, in den Tod des Ichs und die absolute Dunkelheit führt. Aber nur so kann das „begriffen“ werden. Wobei immer die Frage bleiben wird, wer das ist, der nun „begriffen“ hat.
Das einzige, was begriffen werden kann, ist meine Verfasstheit als Ich. Und das kann blitzartig geschehen. Diese Erkenntnis meiner Ausweglosigkeit im Ich würde ich als eine erste Stufe von Erleuchtung ansehen. Es ist der Beginn einer intensiven Auseinandersetzung, eines Ringens, das wohl in diesem Leben an kein Ende kommen wird.
Dass es um die „Schau des eigenen ursprünglichen Wesens geht“ (Hui 19) ist einfach eine irreführende Aussage. Da kann ich noch so oft betonen, dass alles Reden nur hinweisende Funktion hat. Wenn ich solche Aussagen mache, dann kann das von Suchenden – und für solche ist das ja geschrieben – nur so verstanden werden, dass es darum geht, die „Schau des eigenen ursprünglichen Wesens“ anzustreben. Und das ist nicht möglich, denn damit wird das ursprüngliche Wesen zu einem Objekt gemacht, das geschaut werden könnte.
Diese Verfasstheit, alles als Objekt zu betrachten, ist ja die fundamentale Gegebenheit der menschlichen Natur. Darin liegt die Subjekt-Objekt-Spaltung, in der sich der Mensch vorfindet, die ihm alles zum Objekt macht, einschließlich seiner selbst und seines Grundes, aus dem er lebt. Das ist ja die Krux des menschlichen