Gabriele Beyerlein

Berlin, Bülowstraße 80 a


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      Gabriele Beyerlein

      Berlin, Bülowstraße 80 a

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      Inhaltsverzeichnis

       Titel

       Berlin, Bülowstraße 80 a

       1.1

       1.2

       1.3

       2.1

       2.2

       2.3

       3.1

       3.2

       3.3

       4.1

       4.2

       4.3

       4.4

       5.

       DIE BERLIN-TRILOGIE

       In Berlin vielleicht

       Über die Autorin

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       EDITION GEGENWIND

       Die Göttin im Stein

       Impressum neobooks

      Berlin, Bülowstraße 80 a

      EDITION GEGENWIND

       Alle handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden, nicht jedoch die historischen Zusammenhänge.

      1.1

      Dieser Abend war der kostbarste der ganzen Woche. Sophie schob den Vorhang beiseite und beobachtete durch das Fenster die hochaufgerichtete Gestalt ihrer Mutter, die sich auf dem Gehsteig vom Haus entfernte und bei jeder Pfütze mit vollendet aristokratischer Handhaltung den weiten Rock raffte. Frieda, das alte Dienstmädchen, folgte der Mutter, sichtbar um den richtigen Abstand bemüht: weit genug entfernt, um den Rangunterschied zu zeigen, nahe genug daran, um Zusammengehörigkeit zu demonstrieren. Als die Mutter um die Straßenecke gebogen war, seufzte Sophie tief auf.

      Sieben Tage lang hatte Sophie sich auf diesen Mittwochabend gefreut, wenn die Mutter zum Salon ging, den Frau General von Klaasen wöchentlich ausrichtete. Sophie hatte sich vorgenommen, den Roman zu lesen, den sie sich heimlich von ihrer Freundin Cecilie geliehen hatte. Doch nun stand sie träumend am Fenster und sah zu, wie der Dienstmann die Gaslaternen auf der Straße anzündete und die Dämmerung sich langsam vertiefte. Einige barfüßige Kinder aus den Hinterhöfen rannten lachend und schreiend über die Straße, Männer in blauen Arbeitshemden schlurften müde den Gehweg entlang, ein zweistöckiger Pferdeomnibus und eine Kutsche fuhren vorbei, aus dem Krämerladen im Keller des Nachbarhauses stiegen zwei Dienstmädchen mit ihren Einkaufskörben die Stufen herauf. Dennoch erschien Sophie die Straße wie ausgestorben. Aber andere Straßen gab es in der Stadt, in denen jetzt das Leben pulsieren würde ...

      Verführerisch tauchte ein Gedanke in ihr auf, so verwegen, dass ihr Atem sich beschleunigte: Einfach das Cape nehmen und in das Herz der Stadt gehen, die Friedrichstraße entlang flanieren oder besser noch Unter den Linden. Sich im Strom der Gesellschaft bewegen, die unterwegs war zu Banketten, Theatern, Konzertsälen, der Oper, Varietés und sonstigen Lokalitäten, von denen Sophie nur eine unklare Vorstellung hatte. Und dann sich auf eine Bank setzen, um die Offiziere zu beobachten, die auf dem Reitweg ritten.

      Sie könnte zu Hause zurück sein, ehe die Mutter heimkehrte.

      Erschreckt verwarf sie den Gedanken wieder. Was dachte sie hier? Sie durfte nicht allein auf die Straße, nicht nur, weil die Mutter es verbot, nein, es schickte sich nicht für eine junge Dame, und dann gar noch am Abend! Wenn jemand sie sähe, der sie kannte! Baronesse von Zietowitz ohne Begleitung im Dunkeln in der Stadt. Unmöglich. Sie lehnte ihre Stirn an die Fensterscheibe.

      Irgendwo da draußen war das wirkliche Leben.

      Irgendwo da draußen waren die großen Gefühle, das Unbekannte, Geheimnisvolle, Wahre. Irgendwo da draußen war die Liebe.

      Dieses Gefühl in ihr ... Wem hätte sie davon erzählen können? Der Mutter am allerwenigsten. Nicht einmal ihrer Freundin Cecilie.

      Es war, als wachse da etwas in ihrer Brust, eine träumende Kraft, für die es keinen Platz gab. Wie eine Blume, die sich entfalten wollte, aber nicht konnte, weil ihre Blütenblätter an enge Wände stießen.

      Wenn der Vater noch lebte ...

      Dann wäre sie nicht hier in der engen Wohnung eingesperrt, müsste sich nicht mit der Mutter viele Stunden täglich mit mühevollen Stickereien die Finger wund und die Augen müde arbeiten. Dann wäre sie in der letzten Saison als Debütantin in einem sündhaft teuren Ballkleid mit Courschleppe in die Hofgesellschaft eingeführt und den Majestäten vorgestellt worden, könnte mit Leutnants und Rittmeistern tanzen statt mit den anderen Mädchen des Tanzzirkels im Haus ihrer Freundin. In der großen alten Wohnung in der Beletage würden sie noch leben, jede Woche ins Theater oder in die Oper gehen, zu Gesellschaften eingeladen werden, zu Landpartien und Bällen. Und wenn dann einer käme, einer, der ihr gefiele und dem sie gefiele ...

      Sie wandte sich vom Fenster ab. Was halfen diese Luftschlösser! Sie sollte lieber die Zeit nutzen, in der die Mutter nicht da war, und lesen.

      Lesen war das Einzige, wobei ihr die Welt offenstand. Rasch ging sie nach nebenan in das düstere Hinterzimmer, das als langgezogenes Durchgangszimmer den Salon mit der Küche verband. In diesem mit Möbeln vollgestopften Raum fertigte sie mit der Mutter die ewigen Handarbeiten, hier aßen sie, hier schliefen sie. Sophie trat an ihr Bett, das hinter dem der Mutter an der Längswand stand, hob die Matratze am Fußende an und zog das Buch hervor, das sie darunter versteckt hatte, den ersten Band von Krieg und Frieden von Lew N. Graf Tolstoi.

      Cecilie hatte ihr den Roman ausgeliehen und sie gebeten, sich mit der Lektüre zu beeilen, sie wolle ihn demnächst selbst lesen. Cecilie, die Tochter des Fabrikanten Theodor Stolze, durfte sich Bücher kaufen